Nach den Morden in Hanau werden die Opfer instrumentalisiert

Der Lärm nach den Schüssen

Welche Konsequenzen sind aus den rassistischen Morden von Hanau zu ziehen? Diese Frage wird derzeit zwar häufig gestellt, doch Abwehr, Betriebsamkeit und die Instrumentalisierung der Opfer herrschen vor. Auch die sinnlose Diskussion über Shishabars geht weiter.

Betriebsamkeit statt Konsequenzen – zwei Wochen nach den Anschlägen in Hanau lässt sich diese Reaktion in allen politischen Lagern beobachten. Der sonst wenig zurückhaltende Ehrenvorsitzende der AfD, Alexander Gauland, rief zur »verbalen Abrüstung« auf und sagte, die Tat stehe in keiner Weise »in der Nähe irgendeiner AfD-Position«. Solche Abwehr dient in der Partei dazu, der Frage nach der Mitverantwortung auszuweichen. Die beiden AfD-Bundesvorsitzenden Tino Chrupalla und Jörg Meuthen bezeichneten die Tat vergangene Woche in einem Brief an die Parteimitglieder als »rassistisches Verbrechen«. Dass dies einem Überschwang an Symbolpolitik geschuldet war – schließlich droht der Partei immer noch die Beobachtung durch den Verfassungsschutz – und keiner kritischen Einsicht, offenbarte Meuthen gleich am Tag darauf. Er sagte dem Spiegel, er halte die Bezeichnung für »unglücklich, weil unvollständig«, weshalb er sie anders als Chrupalla abgelehnt habe. »Es bleibt die Tat eines Irren, wie ich anfangs twitterte«, so Meuthen.

Während diverse Kommentatoren die Instrumentalisierung der Opfer von Hanau durch türkische Nationalisten kritisierten, wurde das Verhalten der kurdischen Nationalisten nicht beanstandet.

Eine Ferndiagnose erstellte auch Wolfgang Meins auf dem Blog »Die Achse des Guten«. Es sei »schlicht Unsinn zu behaupten, der Täter habe aus fremdenfeindlichen Motiven gehandelt«. Während auf dem Blog nach jedem islamistischen Anschlag Empörung über die Entpolitisierung und Psychiatrisierung der Taten herrscht, betrieb man also genau das im Fall Hanau.

Bei den Migrantenverbänden herrschten Selbstethnisierung und Opferkonkurrenz. Dass neben der Mutter des Täters vier weitere Opfer die deutsche Staatsbürgerschaft hatten, verhinderte nicht deren Kurdisierung oder Turkisierung, zu der sich zudem deren Islamisierung gesellte. Im Buhlen um die Opferrepräsentation hat sich der Zentralrat der Muslime vorerst durchgesetzt, der vor »antimuslimischem Rassismus« warnte und von Bundesinnenminister Horst Seehofer Anfang der Woche belohnt wurde: Das Innenministerium wird einen »Unabhängigen Expertenkreis Islamfeindlichkeit« einrichten. Die Pressemitteilung war mit einem Foto von Seehofer und ­Aiman Mazyek versehen, dem Vorsitzenden des überaus konservativen Zentralrats. Doch der Täter hat nicht Moscheen als Ziele ausgewählt, sondern Shishabars, die strenggläubige Muslime missbilligen.

Auch die jederzeit mobilisierungswilligen Vertreter des wachsamen Türkentums, angeführt vom Frankfurter Generalkonsulat der Türkei und dem Amt für Auslandstürken, agitierten in der ersten Reihe. Das türkisch-islamische Schaulaufen, das wenig mit einem Trauermarsch zu tun hatte, demonstrierte am 23. Februar in Hanau unter »Allahu Akbar«-Rufen, was passiert, wenn die hiesige Gesellschaft die Toten nicht als ihr zugehörige, aus rassistischen Motiven ermordete Bürger erkennt, sondern solchen besitzergreifenden Verbandsvertretern überlässt. Nach dem öffentlichen Totengebet am 24. Februar auf dem Hanauer Marktplatz wurden zwei in Deutschland geborene Opfer – wahrscheinlich auch dem Wunsch der Angehörigen folgend – in Anwesenheit mehrerer türkischer Parlamentsabgeordneter, in türkische Fahnen gehüllt, in ein ihnen doch fremdes Land – die Türkei – überführt.

Während diverse Kommentatoren wie Ronya Othmann in der Taz die Instrumentalisierung der Opfer durch türkische Nationalisten kritisierten, wurde das Verhalten der kurdischen Nationalisten nicht beanstandet. So blieb etwa unerwähnt, dass der Generalsekretär der Kurdischen Gemeinde, Cahit Basar, der zu Recht vor der »Islamisierung der Opfer« gewarnt hatte, einige Ermordete ebenso vereinnahmend zu Kurden erklärte. Die Kritik blieb auch aus, als am 22. Februar auf dem von linken und kurdischen Gruppen organisierten Trauermarsch kurdische Flaggen ausgepackt wurden, während die türkischen Fahnen am folgenden Tag erhebliche Entrüstung hervorriefen. Im Fahnenschwenken ging auch unter, dass die Familie des Opfers Gökhan Gültekin das Hanauer kurdische Gesellschaftszentrum ebenso wie die örtliche Ditib-Moschee besucht. Solche Feinheiten interessierten die identitätspolitisch engagierten Vereinnahmungswilligen nicht.

Die Weigerung, sich mit der Tat auseinanderzusetzen, zeigt sich insbesondere an den Diskussionen über Shishabars und sogenannte Clankriminalität, die auch nach den Anschlägen wieder aufflammten. »Rechtsfreie Räume oder Clanstrukturen darf es nirgendwo geben. Und wo es diese Strukturen gibt, müssen sie konsequent aufgebrochen werden, ganz gleich wie viel Protest das auslöst«, twitterte etwa Friedrich Merz (CDU) nur sechs Tage nach dem Massaker. Rainer Rahn, der für die AfD im hessischen Landtag sitzt, sprach in der FAZ aus, was hierzulande als Meinung durchgeht: »Shishabars sind Orte, die vielen missfallen, mir übrigens auch. Wenn jemand permanent von so einer Einrichtung gestört wird, könnte das irgendwie auch zu einer solchen Tat beitragen.«

Während manche in der Shishabar einen rechtsfreien Raum sehen, erklärte das Online-Magazin Bento die Etablissements zu nicht weniger als safe spaces, also sicheren Rückzugsorten für junge Migranten. Die Stimmung in den Bars dürfte jedoch kaum rücksichtsvoller sein als in einer üblichen Eckkneipe. Sie sind weder konfliktfreie Zonen noch ausschließlich migrantisch geprägt. Dass sie meist als Orte migrantischer Ausgehkultur wahrgenommen werden, obwohl zwei von drei Befragten in der Altersgruppe bis 25 Jahren dem Drogen- und Suchtbericht 2019 zufolge schon einmal Shisha geraucht haben, dürfte mehr mit der orientalischen Herkunft der Wasserpfeife zu tun haben als mit dem in den Bars anzutreffenden heterogenen Publikum.

Der Fünfminutenzigarette ziehen viele in beschleunigten Zeiten mittlerweile das entschleunigende Shisharauchen in geselliger Runde vor. Dem Statistischen Bundesamt zufolge gibt es schätzungsweise 6 000 Shishabars in Deutschland. Längst wird in vielen jedoch mehr als nur Apfeltabak konsumiert. Sie sind Treffpunkte einer jungen Generation unabhängig von einem ­Migrationshintergrund. Es wird über Rapper oder Influencer diskutiert, über Beziehungsprobleme geredet, über nervige Chefs gelästert. DJs legen Hiphop auf, Geburtstagspartys werden gefeiert, es wird getanzt. Die meisten Shishabars sind inzwischen auch Flirtarenen, in denen man sich mitunter nach einem Match auf Tinder zum Kennenlernen trifft. Alkohol wird in manchen Shishabars ausgeschenkt, in anderen nicht. Es gibt einige wenige, die ­allein Frauen den Zutritt gewähren, und solche, in denen sich hauptsächlich Männer treffen. Die meisten Shishabars sind allerdings Lounges, in denen sich Männer und Frauen aufhalten. Oft bleiben Milieus, Szenen und Freundeskreise in ihnen unter sich, worin sie gewöhnlichen Kneipen und Bars sehr ähnlich sind. Mit den Tee- und Vereinshäusern, die mit einer männerdominierten Gastarbeiterkultur assoziiert werden, haben sie ebenso wenig zu tun wie mit Moscheen.

Es ist unmöglich, ein allgemeingültiges Urteil über die 6 000 Shishabars zu treffen, was dennoch häufig geschieht. Niemand träfe ein solches Urteil über 30 000 Kneipen in Deutschland, nur weil in manchen miese Stimmung herrscht, gelegentlich die Fäuste fliegen oder das Bier schal schmeckt.

Zu registrieren, dass es Shishabars gibt, die Orte des Beisammenseins und Feierns sind, und zugleich einige wenige, die Treffpunkte für Kriminelle und Clans sind, erfordert keine allzu große Ambiguitätstoleranz. Wer in der Realität ankommen will, statt sich in seinen eigenen Phantasien über solche Orte einzurichten, kann damit anfangen, unter dem Hashtag #Shisha bei Instagram nachzuschauen. Dort sind Menschen zu sehen, die in der Öffentlichkeit schnell als gläubige Muslime gelten, stattdessen jedoch das Leben genießen.