Die Bundesregierung will mit der Aufnahme weniger Flüchtlingskinder von ihrer Konzept- und Tatenlosigkeit ablenken

Humanitäre Elendsverwaltung

Die Bundesregierung hat sich bereit erklärt, einige hundert Flüchtlings­kinder aus Griechenland aufzunehmen. Ein Ende der repressiven Grenzpolitik und der teilnahmslosen Außenpolitik ist nicht in Sicht.

Nun will die Bundesregierung doch helfen. Der Koalitionsausschuss sprach sich am Wochenende dafür aus, eine europäische »Koalition der Willigen« zu bilden, um Flüchtlingskinder von den griechischen Inseln umzuverteilen – aber nur 1 000 bis 1 500 Kinder im ­Alter von höchstens 14 Jahren, die entweder unbegleitet oder dringend behandlungsbedürftig sind. Deutschland ­würde also nur wenige Hundert aufnehmen. Laut dem Büro des UN-Flüchtlings­kom­mis­sars in Griechenland befanden sich Anfang März unter den 42 050 Flüchtlingen auf den griechischen Inseln etwa 14 300 Kinder und Jugendliche.

Ob die Aufnahme schnell vonstatten geht, ist fraglich. In der Vergangenheit stellten sich die von Bundesregierung versprochenen »europäischen Lösungen« in der Regel als Verzögerungstaktik dar.

Seit fünf Jahren nimmt die Bundesregierung die Zustände auf den griechi­schen Inseln tatenlos hin.

Noch wenige Tage zuvor hatte eine Mehrheit im Bundestag einen Antrag von Bündnis 90 / Die Grünen abgelehnt, der die Aufnahme von 5 000 schutzbedürftigen Flüchtlingen forderte. Nicht nur Kinder, sondern auch alleinreisende Frauen, Schwangere und schwer Traumatisierte sollten nach Ansicht der Grünen umverteilt werden. Der Druck auf die Bundesregierung erhöhte sich nicht nur wegen Forderungen aus der Opposition, sondern auch, weil zahlreiche Abgeordnete aus CDU, CSU und SPD eine humanitäre Aufnahme von Flüchtlingskindern unterstützten. Überdies gab es lautstarke Forderungen aus aufnahmebereiten Kommunen und Proteste – das Bündnis »Seebrücke« hatte Ende vergangener Woche in zahlreichen Städten unter dem Slogan »Wir haben Platz« zu Demonstrationen aufgerufen. In einem aktuellen Rechtsgutachten, das der grüne Europaabgeordnete Erik Marquardt in Auftrag gegeben hatte, argumentieren die Juristen Ulrich Karpenstein und Roya Sangi, dass die Bundesländer auch ohne Zustimmung der Bundes­regierung besonders schutzbedürftige Flüchtlinge aufnehmen dürfen.

Seit fünf Jahren nimmt die Bundesregierung die Zustände auf den griechischen Inseln tatenlos hin. Obwohl die EU-Hotspots, die faktisch Sonderrechtszonen gleichen, die Würde der dort lebenden Menschen systematisch verletzten, verweigerte Deutschland sich bislang jedweder Aufnahme von Flüchtlingen aus den Elendslagern. ­Dabei wäre eine solche nicht nur moralisch geboten. Viele Flüchtlinge haben einen Rechtsanspruch auf eine Überstellung nach Deutschland. Die Dublin-­III-Verordnung garantiert die Familien­einheit und das Kindeswohl. Flüchtlinge, die sich in den griechischen Lagern befinden, aber Familienmitglieder in Deutschland haben, können daher auf Antrag überstellt werden – so jedenfalls die Rechtslage. Wie eine Studie des Projekts »Refugee Support Aegean« und von Pro Asyl aus dem vergangenen Jahr zeigt, hat Deutschland die Überstellungen von Flüchtlingen systematisch verzögert und zudem unzulässig gedeckelt. Menschenrechtsorganisationen und Rechtsanwälte versuchen seit Jahren, in langwierigen Klageverfahren die Rechtsansprüche der Flüchtlinge durchzusetzen – zum Teil mit Erfolg.

Die »humanitäre Aufnahmebereitschaft« der Bundesregierung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es weiterhin große parteiübergreifende Unterstützung für das sogenannte robuste Grenzregime gibt. Obwohl die griechische Regierung mit ihrer vorläufigen Aussetzung des Asylrechts und den brutalen Zurückweisungen von Flüchtlingen an der Grenze EU-Recht und internationales Recht bricht, findet sich in der Erklärung des Koalitionsausschusses vom Wochenende in dieser Hinsicht kein Wort der Kritik. Dass sich der »Kontrollverlust« von 2015 nicht wiederholen dürfe, ist offenbar die neue deutsche Staatsräson – der sich selbst Politikerinnen aus der Linkspartei anschließen. Die ehemalige stellvertretende Bundestags­fraktionsvorsitzende Sevim Dağdelen warnte vor einer Wiederholung der Ereignisse von 2015 und fügte in einem Gespräch mit dem Sender NTV hinzu, am Ende solle nicht Deutschland Flüchtlinge aufnehmen. Die ehemalige Bundestagsfraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht kritisierte die Vorschläge der Grünen zur Aufnahme von Flüchtlingen als »wohlfeil«.
Gegenüber der Türkei und Syrien hält Deutschland indes an der bisherigen Politik fest.

Angesichts der andauernden Kämpfe in Nordsyrien um das Gouvernement Idlib zeigt sich die ganze Konzeptlosigkeit der deutschen Außenpolitik. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) begrüßte im Gespräch mit dem Deutschlandfunk den zwischen Russland und der Türkei ausgehandelten Waffenstillstand, während zur gleichen Zeit erneut Kämpfe in der Region aufflammten. Die Hilfsorganisation Medico international kritisierte die Untätigkeit der Bundesregierung und der EU: »Heute beschränkt sich der diplomatische Einsatz der Europäischen Union auf das fortgesetzte Entsetzen über die Lage in Idlib und die dringende Bitte, doch einen Waffenstillstand durchzusetzen, der niemals kommen wird.« Medico forderte die »Parteinahme für die Menschenrechte der Zivilbevölkerung« sowie die Aufnahme von Flüchtlingen aus Idlib.

Ebenfalls unklar ist, wie es in Sachen EU-Türkei-Abkommen weitergeht. ­Ungeachtet aller öffentlichen Kritik ist das Abkommen noch nicht offiziell aufgekündigt worden, weiterhin finden von Griechenland aus Rückführungen in die Türkei statt. Einige EU-Mitgliedstaaten signalisierten bereits, sie würden neue finanzielle Mittel zur Verfügung stellen, um die Flüchtlinge in der Türkei zu versorgen. Die Bundesvorsitzende der Grünen, Annalena Baerbock, forderte im Gespräch mit der Rheinischen Post »einen neuen, rechtsstaatlich garantierten Vertrag« und weitere finanzielle Zusagen für die humanitäre Versorgung der Flüchtlinge in der Türkei. Sie erklärte indes nicht, wie man überhaupt einen rechtsstaatlichen Vertrag mit dem autoritären ­Regime unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan abschließen könnte.

Ohnehin ist die Situation für viele Flüchtlinge in der Türkei äußerst prekär. Nicht nur sind rassistische Übergriffe an der Tagesordnung, auch die massenhafte Abschiebung von Flüchtlingen nach Syrien steht immer wieder zur Diskussion. Da die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention nur in Teilen ratifiziert hat, erhalten syrische Schutzsuchende keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus. Auch die Behauptung von Unterstützern des EU-Türkei-Abkommens, die Flüchtlinge würden menschenwürdig aufgenommen, ziehen Wissenschaftlerinnen und Menschenrechtsorganisationen in Zweifel. Viele Flüchtlingskinder sind zum Beispiel aus ökonomischen Gründen gezwungen, Kinderarbeit in der Textilindustrie zu verrichten.

Seit dem Sommer 2015 ist in der europäischen und deutschen Politik die Rede davon, man müsse »Ordnung« und »Kontrolle« wiederherstellen. Das Auftreten der EU in der Flüchtlings- und Außenpolitik zeigt indes nur Konzeptlosigkeit und Passivität. Indem die EU-Politik der Grenzabschottung absoluten Vorrang vor allen anderen Maßnahmen einräumt, hat sie sich selbst Fesseln angelegt und reagiert nur noch inkonsistent auf neue Entwicklungen. Die organisierte Verantwortungslosigkeit, die mit dem fehlenden Engagement in Syrien ihren Anfang nahm, setzt sich bis heute fort.