Unsere Autorin kapituliert vor der Corona­krise und bleibt zu Hause

Jetzt besser kapitulieren

Durch die Schließung vieler Kultureinrichtungen und Veranstaltungsorte geraten Kultur­schaffende in wirtschaftliche Bedrängnis. Daheim zu bleiben, ist in der Coronakrise aber die Pflicht des Künstlers.

Und wenn du kurz davor bist, kurz vor dem Fall, und wenn du denkst: ›Fuck it all!‹, und wenn du nicht weißt, wie soll es weitergehen, Kapitulation ohohoh, Kapitulation ohohoh … « Das Lied von Tocotronic singe ich vor mich hin, während ich mir wieder einmal die Hände wasche. So lange, wie der Song dauert, braucht es in etwa, bis man dem möglicherweise auf der Haut lauernden Coronavirus beim Händewaschen den Garaus gemacht hat.

Es ist noch nicht lange her, dass ich über meinen hypochondrisch veranlagten Bruder geschmunzelt habe, der sich früh mit Atemschutzmasken und jeder Menge Desinfektionsmittel eingedeckt hat, während ich beim Eröffnungsfilm auf der Berlinale noch gänzlich unbefangen zwischen zwei netten Chinesen saß, um alsbald meine Mutter in einem Krankenhaus in Nordrhein-Westfalen zu besuchen. Und doch ist unglaublich viel passiert. Inzwischen habe ich die geplante Italien-Reise storniert, meine schulpflichtige Tochter hat »Coronaferien« und alle Kneipen, Cafés und Clubs sind ebenso wie Theater, Kinos, Schwimmbäder und Museen geschlossen.

»Flatten the curve« bedeutet zwar für viele Menschen auch »flatten the income«. Aber lieber eine Weile prekär leben, als ein »super-spreader« sein oder »in Zeitlupe ertrinken«.

Also all das, weswegen ich einst nach Berlin gezogen bin. Läden sind geschlossen, geplante Filmstarts und Konzerte werden abgesagt. Bücher- und Plattenläden versorgen ihre Kundschaft noch per Post. Leider gelang es mir heute nicht, beim Annehmen der Päckchen den Sicherheitsabstand zwischen mir und dem Paketboten einzuhalten. Ganze Länder befinden sich im Ausnahmezustand, Italien, Frankreich, Spanien und Österreich gehen voran. »Flatten the curve« bedeutet zwar für viele Menschen auch »flatten the income« – aber lieber eine Weile prekär leben, als ein »super-spreader« zu sein oder »in Zeitlupe zu ertrinken«. So drastisch schildern Mediziner das Sterben an der neuen Lungenkrankheit.

Das Virus betrifft alle, aber seine Folgen treffen manche besonders hart. Etwa diejenigen, die keine finanziellen Rücklagen haben oder keine Krankenversicherung. Letzteres betrifft etwa in den USA viele Millionen Menschen, aber auch in Deutschland wächst die Gruppe der Nichtversicherten. Es zeigt sich in der Krise, wie zynisch die neoliberale Ideologie ist.

Deshalb ist es genau der richtige Zeitpunkt, das bedingungslose Grundeinkommen zu fordern – nicht nur im Hinblick auf die Nöte selbständiger Kulturschaffender. Aber die Verwertungsgesellschaften VG-Wort und Gema tun sich derzeit mindestens genauso schwer damit, angemessen zu reagieren, wie Städte, Bund und Länder. »Helikoptergeld«, Beihilfen und Kredite lösen keine strukturellen Probleme. Immerhin wurde das Kurzarbeitergeld in Rekordgeschwindigkeit beschlossen.

Aber was tut sich im Nischenbetrieb? Was bringt einem kleinen Buchverlag oder einem Off-Theater ein Kredit, den der Betrieb bald zurückzahlen muss? Was bringt mir die Stundung von Steuern, die ich ohnehin kaum zahlen muss, da ich in der Zeitungskrise generell als Kleinunternehmerin zu wenig verdiene? Einmalzahlungen von 250 Euro an Musiker wegen Covid-19-bedingter Honorarausfälle, wie sie beispielsweise die Gesellschaft für die Verwertung von Leistungsrechten (GVL) vorschlägt, helfen leider auch nicht weiter. Kurz vor Textabgabe ereilte mich die Nachricht, dass Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller Selbständige »unbürokratisch und schnell« mit 15 000 Euro unterstützen will – das ist ein Vorhaben, das in die richtige Richtung geht.

Nehmt euch ein Beispiel, liebe Vermieter: Jetzt könntet ihr euch ganz ohne aufwendige PR-Kampagnen beliebt machen, indem ihr Mietzahlungen aussetzt oder reduziert. Allerdings treibt die Coronasolidarität auch seltsame Blüten: Müssen wir wirklich unseren Lieblingsclub mit der x-ten Online-Petition und mit Spenden vor dem Untergang retten? Und statt des Clubbesuchs darf ich mir dann ein exklusives Online-Konzert auf Facebook anschauen? Als Belohnung für meine Spende? Nein danke! Das Gemeinschaftsgefühl von Social-Media-Events will sich bei mir trotz Kommentarfeldern und fliegenden Like-Herzen einfach nicht einstellen.

Das Coronavirus macht uns vielleicht die Bedeutung des Wörtchens Solidarität wieder klar. Unsere Solidarität muss weit über den eigenen Wirkungskreis hinaus gehen. Noch vor wenigen Tagen verstärkte die EU wegen der im Elend gestrandeten Flüchtlinge den Grenzschutz. Inzwischen schließen unsere Nachbarn die Grenzen vor uns, weil das Virus sich hierzulande ausbreitet. In den nächsten Tagen bekommen wir vielleicht eine Ahnung davon, was Abschottung und Alleingelassenwerden mit dem eigenen Leid für den einzelnen Menschen bedeuten.

Plötzlich verbringen wir auch gezwungenermaßen wieder sehr viel Zeit mit unseren Partnern. Statt sich pointierte SMS-Nachrichten von sowieso überflüssigen Meetings zu schicken, haben wir auf einmal wieder unendlich viel Zeit, miteinander zu reden! Spätestens wenn Netflix wegen Netzüberlastung abgeschaltet wird. Die Streaming-Anbieter sind die großen Profiteure der derzeitigen Situation und locken mit zum Teil schamlosen Angeboten. Und Pornhub schenkte ganz Italien einen Gratisaccount.

Mindestens jeden zweiten Abend telefoniere ich jetzt mit meinen betagten Eltern und frage mich, was ich eigentlich mache, wenn es einen von beiden erwischt. Wenn gar beide erkranken. Und verfluche ein wenig den Alltag in unserer globalisierten Gesellschaft, in der Familien über das ganze Land verstreut leben. Immerhin gibt es Facetime oder Skype. Digital kommuniziere ich dann doch lieber mit Freunden und Familie, statt mir eine Online-Lesung anzuschauen.

Staatsbürgerliche Rechte, die bislang selbstverständlich waren, sind uns entzogen worden, etwa die Reisefreiheit. Die Coronakrise macht allen Angst, aber sie könnte auch einen gesamtgesellschaftlichen Wandel zum Besseren vorantreiben. Da brauchen wir uns wirklich nur aktuelle Satellitenbilder anzuschauen und an die freitäglichen Demonstrationen des vorigen Jahres zurückdenken: Der Smog geht erheblich zurück.
Und wie endet noch der Song von Tocotronic? »Alle, die uns kontrollieren, sie müssen kapitulieren, alle, die uns deprimieren, sie müssen kapitulieren. Lasst uns an alle appellieren: Wir müssen kapitulieren.« Besser wär’s.