Die Einschränkungen der Versammlungsfreiheit dienen nur selten dem Infektions­schutz

Die Versammlungs­freiheit krankt

Politische Demonstrationen und Kundgebungen werden zurzeit mit Verweis auf den Infektionsschutz fast ausnahmslos verboten. Oft dienen die behördlichen Maßnahmen jedoch nicht der Eindämmung der Pandemie.

Es sind schlechte Zeiten für Demonstrationswillige. Eine Menschenkette von Anhängern der Organisation Seebrücke in Frankfurt am Main, deren Teilnehmer einen Mindestabstand von zwei Metern wahrten, löste die Polizei am vorvergangenen Sonntag zum Teil gewaltsam auf. Dabei verletzten die Einsatzkräfte auch eine Journalistin. Einige Teilnehmer einer Fahrraddemonstration im Hamburger Stadtteil St. Pauli, die auf die Lage von Flüchtlingen in griechischen Lagern aufmerksam machen sollte, erhielten Bußgelder von jeweils 150 Euro mit der Begründung, sie hätten sich an einer verbotenen Versammlung beteiligt. Das Gesundheitsamt des Berliner Bezirks Neukölln verbot in der vergangenen Woche eine Demonstration für den Erhalt der Kiezkneipe »Syndikat«, obwohl sich die Organisatoren mit Mundschutz und Sicherheitsabstand an die Kontaktbeschränkungen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie halten wollten. Die Stadt Frankfurt am Main verbot sogar einen Motorradkorso, mit dem am Ostermontag gegen militärische Aufrüstung protestiert werden sollte. Die Aufzählung behördlich verbotener und unterbundener Kundgebungen ließe sich weiterführen. Noch nie wurden in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland derart viele politische Versammlungen verboten.

Gerichte argumentieren, Versammlungen könnten später nachgeholt werden. Aber es ist nicht absehbar, wie lange der Ausnahme­zustand bestehen wird, und viele soziale Kämpfe sind dringlich.

Die Behörden berufen sich auf das Infektionsschutzgesetz und die Durchführungsverordnungen der Bundesländer. Paragraph 28 Absatz 1 des Infektionsschutzgesetzes sieht unter anderem eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit vor, um Schutzmaßnahmen gegen die Ausbreitung von Infektionen durchzusetzen. Die Bundesländer und Kommunen wenden das Gesetz aber sehr unterschiedlich an. In Münster konnten Atomkraftgegner zwar keine Versammlung gegen einen Urantransport abhalten, dafür erlaubte die Ordnungsbehörde in der vergangenen Woche eine Mahnwache mit hygienischen Auflagen. Und während sich der Stadtstaat Bremen bei Versammlungen lediglich Auflagen vorbehält, um den Infektionsschutz zu gewährleisten, gibt es in fast allen anderen Bundesländern implizite oder explizite Versammlungsverbote, wie einer Darstellung der Juristen Stefan Martini und Michael Plöse auf dem Blog Juwiss.de zu entnehmen ist.

Bei vielen Versammlungsverboten drängt sich der Eindruck auf, dass die behördlichen Maßnahmen in keinem direkten Zusammenhang mit dem Infektionsschutz stehen. Bei der Mehrzahl der verbotenen Versammlungen beabsichtigten die Teilnehmer, Distanz zu halten, einen Mundschutz zu tragen oder Fahrzeuge zu verwenden und so gar nicht erst die Möglichkeit eines physischen Kontakts zueinander aufkommen zu lassen. Die Polizeibehörden gingen dennoch rigoros vor. Manche Maßnahmen scheinen bloße Schikane zu sein. Leere Schuhe, die Protestierende vor dem Brandenburger Tor verteilt hatten, um die Evakuierung der Flüchtlinge von den griechischen Inseln zu fordern, entfernte die Polizei umgehend. Inwiefern diese Schuhe auf einem menschenleeren Platz das Virus hätten verbreiten können, bleibt das Geheimnis der Polizei.
Vor allem Anwaltsvereinigungen, Menschenrechtsorganisationen und Rechtswissenschaftler kritisieren die Aussetzung der Versammlungsfreiheit. Die Grünen und die Linkspartei fordern, den Gesundheitsschutz mit der Versammlungsfreiheit in Einklang zu bringen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat bereits angekündigt, zum »Tag der Arbeit« am 1. Mai keine Kundgebungen im öffentlichen Raum zu veranstalten, sondern eine Live-Sendung in den sozialen Medien zu übertragen.

Vor Gericht zu gehen, um das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit einzufordern, hat sich nicht als hilfreich erwiesen. Vielen Gerichtsbeschlüsse übernehmen mehr oder weniger kritiklos die Einschätzung der Landesregierungen und Ordnungsbehörden, die praktisch jede Form des öffentlichen politischen Protests als Gefahr für die Gesundheit einstufen. Die »Gesellschaft für Freiheitsrechte« schreibt in einem Gutachten, ein solches Grundrechtsverständnis drohe »die Versammlungsfreiheit, insbesondere das in ihr enthaltene Recht auf Selbstbestimmung, auszuhöhlen«.

Während die politischen Freiheiten auf diese Weise aufgehoben werden, gelten unternehmerische Freiheiten weiter, trotz des lockdown in vielen Branchen. Berichten von Taz und Le Monde diplomatique zufolge stellt der Online-Versandhandel Amazon, ein Profiteur der derzeitigen Krise, in vielen Betriebs- und Lagerstätten den Gesundheitsschutz der eigenen Mitarbeiter nicht sicher. Obwohl Arbeitsplätze als Infektionsherde gelten, greift der Staat etwa bei den Betreibern großer Lagerhallen ordnungspolitisch nicht ein.

In einigen Gerichtsurteilen wird argumentiert, die Eindämmungsmaßnahmen seien befristet und die Versammlungen könnten später nachgeholt werden. Aber erstens ist es unabsehbar, wie lange und in welcher Form der Ausnahmezustand andauern wird. Und zweitens sind viele soziale Kämpfe dringlich. Immer noch sind Zehntausende Flüchtlinge in den EU-Hotspots auf den griechischen Inseln unter menschenunwürdigen und unhygienischen Bedingungen eingepfercht. Eine Verbreitung des Virus könnte dort zu einer Katastrophe führen. Auch die Rechte von Beschäftigten werden derzeit erheblich beschnitten, weil zum Beispiel Tarifverhandlungen ausfallen oder mit der Arbeitszeitverordnung aus dem Arbeitsministerium von Hubertus Heil (SPD) Höchstarbeitszeiten bis zu zwölf Stunden in »systemrelevanten Berufen« wie in der Pflege möglich werden. Auch viele Unternehmen strukturieren ihren Betrieb derzeit zu Lasten der Beschäftigten um oder setzen hart erkämpfte Arbeitserleichterungen außer Kraft. Gerade in der Privatwirtschaft ist davon auszugehen, dass viele Maßnahmen aus dem Ausnahmezustand auch nach der Krise Bestand haben werden.

Das Bundesverfassungsgericht hat in einer berühmten Leitentscheidung von 1985 im Zuge der Proteste gegen das Atomkraftwerk Brokdorf die Bedeutung der Versammlungsfreiheit für politische Kämpfe ausdrücklich hervorgehoben: »Große Verbände, finanzstarke Geldgeber oder Massenmedien können beträchtliche Einflüsse ausüben, während sich der Staatsbürger eher als ohnmächtig erlebt. In einer Gesellschaft, in welcher der direkte Zugang zu den Medien und die Chance, sich durch sie zu äußern, auf wenige beschränkt ist, verbleibt dem Einzelnen neben seiner organisierten Mitwirkung in Parteien und Verbänden im Allgemeinen nur eine kollektive Einflussnahme durch Inanspruchnahme der Versammlungsfreiheit für Demonstrationen.« Diese vom Bundesverfassungsgericht festgestellte Ungleichheit der politischen Ausdrucksmöglichkeiten zeigt sich in der Coronakrise noch deutlicher: Während die Kanäle der Kapitalfraktionen und anderer gesellschaftlich mächtiger Gruppen weiterhin offen sind, etwa durch direkte Lobbyarbeit bei Parlament und Regierung oder Meinungsbeiträge in Massenmedien, sind politische Versammlungen fast überall verboten. Auch digitale Kampagnen können soziale Kämpfe im öffentlichen Raum und in den Betrieben nicht ersetzen.