Wie sich der Alltag in Israel durch Sars-CoV-2 verändert hat

Shalom Coronavirus

Auch in Israel verändert die Coronakrise den Alltag. Früh getroffene Entscheidungen der Regierung verlangsamten die Verbreitung von Sars-CoV-2 erfolgreich. Ein Impfstoff soll bald entwickelt sein.
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Wie die meisten Länder dieser Welt hat auch Israel in den vergangenen Wochen einen drastischen Wandel durchlaufen. Während die Gefahr, sich mit dem neuartigen Coronavirus zu infizieren, allgegenwärtig ist und die Maßnahmen der ­israelischen Regierung Erfolge zeitigen, hat sich der Alltag völlig verändert. Da sich ein Großteil der Bevölkerung an die Vorschriften hält und zu Hause bleibt, gleichen die kleinen wie die großen Ortschaften des Landes Geisterstädten: Leergefegte Straßen sowie geschlossene Restaurants und Cafés prägen das Stadtbild von Jerusalem, Haifa und Tel Aviv, wo auch die Strände verlassen sind.

Einkaufszentren und Kinos wurden ebenso geschlossen wie Unternehmen, Schulen und Tagesstätten. Vom Park Hayarkon, der grünen Lunge Tel Avivs, haben inzwischen Schakale Besitz ergriffen. Mit Mundschutz und Gummihandschuhen ausgestattete Bewohner begeben sich zu den geöffneten medizinischen Versorgungsämtern. Supermärkte und Drogerien sehen aus wie zu Kriegszeiten. Viele Menschen erledigen Hamsterkäufe, vor allem Toiletten­papier, Eier und Desinfektionsmittel sind nachgefragt.

»Auch wenn der jüdische Staat schon oft mit dem Rücken zur Wand stand, so ist er während der Coronakrise einer der sichersten Orte der Welt.« Jakov Lubliner, Holocaustüberlebender

»Diese Extremsituation gleicht einem Krieg und unser Land ist darauf besser vorbereitet als viele westliche Industrie­länder«, sagt der 89jährige Holocaust­überlebende Jakov Lubliner aus Haifa. »Selbst wenn Israel vor einer Konfrontation mit dem Iran und dessen Helfern gestanden hätte, dann hätten wir dank unserer Erfahrung mit Sicherheitsfragen ebenfalls gewusst, wie man die gesamte Krise bewältigt.« Lubliner, ein kräftiger Mann mit schneeweißem Haar, wurde im polnischen Krakau geboren. Im Alter von zehn Jahren wurde er ins deutsche Vernichtungslager Auschwitz deportiert, wo er als einziger seiner Familie überlebte. Mit Sarkasmus zeigt er auf seine tätowierte KZ-Nummer. »Wenn ich diese Hölle überlebt habe, dann mit Sicherheit auch ­Corona.«

Vor einem Supermarkt in Tel Aviv wird Fieber gemessen

Vor einem Supermarkt in Tel Aviv wird Fieber gemessen

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Tal Leder

Die Herausforderung, vor der Israel gerade steht, ist kein klassisches Sicherheitsproblem. Sie könnte aber möglicherweise mit Hilfe der Mechanismen angegangen werden, die der jüdische Staat in der Vergangenheit entwickelt hat, um Sicherheitsbedrohungen zu meistern. Die Situation, in der sich das Land gerade befindet, ist die kritischste seit dem Yom-Kippur-Krieg 1973, als Israel von zahlreichen arabischen Ar­meen am höchsten jüdischen Feiertag angegriffen wurde. »Um gegen die Pandemie vorzugehen, muss Israel das Leben und die Gesundheit in der Öffentlichkeit schützen sowie eine funktionierende Wirtschaft aufrechterhalten«, sagt Lubliner. Er kam 1946 ins Land. Mit 17 Jahren wurde er Mitglied des Palmach, der Elitetruppe der Hagana, aus der die israelischen Streitkräfte (IDF) hervorgingen. Er kämpfte im Unabhängigkeitskrieg und war später als Berater im Verteidigungsministerium tätig. Er meint: »Auch wenn der umkämpfte jüdische Staat schon oft in seiner Geschichte mit dem Rücken zur Wand stand, so ist er während der Coronakrise einer der sichersten Orte der Welt.« Stand 9. April hatten sich 9 755 Menschen mit dem Virus infiziert, 79 Menschen waren verstorben. Damit ist die Sterberate in Israel eine der niedrigsten weltweit. Die Regierung wird allerdings immer wieder dafür kritisiert, zu wenige Tests vornehmen zu lassen. Das Gesundheitssystem ist nicht zusammengebrochen, obwohl die Regierung unter Benjamin Netanyahu es seit Jahren vernachlässigt. Der amtierende Ministerpräsident, der auch einige Jahre Gesundheitsminister war, ist für die systematische Reduzierung von Personal und Geräten in den me­dizinischen Einrichtungen mitverantwortlich.

Ein Gefühl der Solidarität

»Durch die jahrelang gemachten Fehler, die darauf zurückzuführen sind, dass das Gesundheitssystem ganz unten auf der Prioritätenliste der jeweiligen Regierung steht, waren die meisten Krankenhäuser und die Hilfsorganisation Magen David Adom (Roter Schild Davids, Anm. d. Red.) auf diese Pandemie nicht vor­bereitet«, sagt Haim Mayan vom Sheba Medical Center, einem großen Krankenhaus in Ramat Gan. Er klagt, dass sich bereits viele Mitarbeiter in Quarantäne befinden, weil sie befürchten, infiziert zu sein. Dies sei noch schlimmer als der schwerwiegende Mangel an Testsätzen und Schutzausrüstung für medizinisches Personal.

Trotzdem lobt Mayan auch einige von der Regierung früh getroffene wirk­same Entscheidungen wie die Isolation von Kranken, Kontaktbeschränkungen sowie die Aufforderung an ältere Menschen, sich in Selbstquarantäne zu begeben. »Dies hat die Morbiditätskurve bis zu einem gewissen Grad abgeflacht und wir haben wichtige Zeit gewonnen, um uns zu organisieren«, so Mayan. Überraschenderweise habe die Situa­tion ein Gefühl der Solidarität hervorgebracht, sagt er: »Viele Israelis glaubten, es sei im digitalen Zeit­alter verlorengegangen, doch das Virus hat dazu beigetragen, Spannungen zwischen Arabern und Juden abzubauen«, sagt Mayan. »Junge arabische Fachkräfte sind mittlerweile in den medizinischen Einrichtungen stark vertreten und trotz ihrer berechtigten Beschwerden über Diskriminierung ist diese Minderheit tief in Israels Kampf gegen Corona eingebunden.«

»Durch Fehler, die darauf zurück­zuführen sind, dass das Gesund­heitssystem ganz unten auf der Prioritätenliste der jeweiligen Regie­rung steht, waren die meisten Krankenhäuser auf diese Pandemie nicht vorbereitet.« Haim Mayan, Sheba Medical Center

Durch tägliche Anweisungen, die das Alltagsleben einschränken, versucht die Regierung, die Krankenhäuser vor einem Massenandrang zu bewahren. Vielleicht will sie auch die Kontrolle über die Situation nicht verlieren und verhindern, dass die Massen irgendwann von den Notstandsmaßnahmen genug haben und auf die Straße gehen. Die weitestgehende Maßnahme war die dem Inlandsgeheimdienst Shin Bet erteilte Genehmigung, Handydaten über Quarantäneverstöße und Kontaktpersonen zu sammeln, die möglicherweise dem Virus ausgesetzt waren.

Besondere Probleme bereiten bei Israels Kampf gegen Covid-19 Ortschaften und Viertel mit einer hohen Anzahl an orthodoxen Juden. Während die meisten israelischen Städte schon menschenleer waren und die Leute zu Hause ­saßen, waren die Gegenden, in denen streng religiöse Juden leben, die auch Haredim (die Gottesfürchtigen) genannt werden, vor einigen Wochen noch voller Leben. Geschäfte waren gut besucht und die Massen strömten in die un­zähligen Synagogen. Dies könnte jetzt vor allem dem Haredim-Viertel Me’a She’arim in Jerusalem und Israels größter ultraorthodoxer Stadt Bnei Brak bei Tel Aviv zum Verhängnis werden.

»Wie so oft missachten streng religiöse Juden die Verordnungen der staat­lichen Behörden und folgen hauptsächlich den Anweisungen ihres Rabbis«, sagt Mayan. Viele sehen in der Pandemie eine Strafe Gottes, da zahlreiche Gesetze der Tora, etwa die Heiligkeit des Shabbats, missachtet werden. Mayan meint: »Es hat schon etwas Ironisches, wenn Gesundheitsminister Yaakov Litzman, selbst ein ultraorthodoxer Jude, sämtliche Haredi-Gemeinden nicht richtig vor den Gefahren des Coronavirus warnte und sich selbst am Ende ebenso wie seine Frau infizierte.«

Viele Israelis gehen nur noch mit Atemmaske einkaufen

Viele Israelis gehen nur noch mit Atemmaske einkaufen

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Tal Leder

Me’a Shearim und Bnei Brak wurden mittlerweile von der Polizei abgeriegelt. Zum Beginn des Pessach-Fests am Abend des 8. April hatte die Regierung eine strenge Ausgangssperre bis zum nächsten Morgen verhängt. Mayan befürchtet weitere Einschränkungen während des muslimischen Ramadan, der dieses Jahr von Ende April bis Ende Mai dauert. Er sagt: »Wir können davon ausgehen, dass womöglich die höchste Infektionsrate im Mai zu erwarten ist.«

Das fürchten auch die Palästinenser. Ihren Behörden zufolge hatten sich bis zum 9. April im Westjordanland 250 Menschen mit dem Virus infiziert; eine Person war verstorben. Im Gaza-Streifen hatten sich 13 Menschen angesteckt. Beide Regionen befinden an einem politischen und wirtschaftlichen Scheideweg. Die Situation im Westjordanland ist besser als im Gaza-Streifen. Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) bemüht sich im Westjordanland, ihre Fähigkeit zur Bewältigung der Krise unter Beweis zu stellen. Die im Gaza-Streifen herrschende Hamas ist ernsthaft in Sorge, dass die drohende Ausbreitung des Virus wegen eines unzureichenden Gesundheitssystems und der allgemein schlechten zivilen Infrastruktur die Notlage der Bevölkerung verschärfen wird. Zwar leistet Israel medizinische Hilfe, doch aufgrund der Coronakrise könnte die ohnehin schwierige Situation dort eskalieren, was nicht im Sinne Israels wäre. Eine verbesserte Koordination in der Sicherheitspolitik mit der PA und die Wiederaufnahme von Gesprächen ist nach der Krise nicht ausgeschlossen.

Auch der Mossad hilft

Die Pandemie trifft die israelische Wirtschaft hart. Die Arbeitslosenquote ist inzwischen auf mehr als 24 Prozent gestiegen. Mehr als eine Million Menschen sind arbeitslos. Im Februar lag die Quote noch bei rund vier Prozent. In der Touristenstadt Eilat am Roten Meer sind rund 70 Prozent der Erwerbsbevölkerung arbeitslos. Bereits im März stellte die Regierung ein Hilfsprogramm in Höhe von 80 Milliarden Schekel (rund 20,5 Milliarden Euro) vor, das eine wirtschaftliche Krise verhindern soll.

Im Gegensatz zu vielen anderen Staaten nimmt Israel Sars-CoV-2 sehr ernst. Von Anfang an setzte das Land alles in Bewegung, um die Pandemie einzudämmen. So gehörte es zu den ersten Ländern, die ein japanisches Medikament zur Behandlung von Covid-19 erhielten. Derzeit wird es in den zuständigen Krankenhäusern an zahlreichen Patienten getestet. Das Grippemedikament Avigan soll bei der Behandlung von Covid-19 in einem frühen Stadium helfen, die Krankheitsdauer zu verkürzen.

Zum Kampf gegen die Pandemie trägt auch der Mossad seinen Teil bei. Der israelische Auslandsgeheimdienst arbeitet mit verbündeten Organisationen weltweit zusammen, um benötigtes Material ins Land zu bringen. So wurden Mitte März zunächst 100 000 Testsätze eingeflogen, um einige Tage später weitere vier Millionen in den jüdischen Staat zu bringen. Netanyahu hatte die Zahl der Tests stufenweise auf bis zu 5 000 pro Tag erhöht. Weil er in engem Kontakt mit Gesundheitsminister Litzmann stand, musste er zum zweiten Mal in Quarantäne – ebenso wie weitere Mitarbeiter des Gesundheits- und des Verteidigungsministeriums sowie hohe IDF-Offiziere. Am vorvergangen Mittwoch erhielt Israel Zehntausende von Test-Kits und 30 000 Schutzanzüge für medizinisches Personal aus Südkorea.­Darüber hinaus unterzeichneten die Ministerien für Gesundheit und Verteidigung eine Vereinbarung mit BGI, einem chinesischen Genomsequenzierungs­unternehmen, über die Bereitstellung von Geräten und Materialien, mit denen täglich rund 10 000 Co­ronavirustests vorgenommen werden ­können.

Blickt optimistisch in die Zukunft: der 89jährige Jakov Lubliner

Blickt optimistisch in die Zukunft: der 89jährige Jakov Lubliner

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Tal Leder

Vergangene Woche verkündeten israelische Wissenschaftler des Forschungsinstituts Migal in Nordgaliläa an der Grenze zum Libanon, sie seien nur noch wenige Wochen von der Herstellung der aktiven Komponente eines Impfstoffs entfernt. Bereits am 1. Juni könne dieser an Menschen getestet werden. »Wir befinden uns im Endstadium und werden innerhalb weniger Tage die Proteine – die aktive Komponente des Impfstoffs – erhalten«, sagt der Leiter der Forschungsgruppe, Chen Katz. Migal hat erfolgreich einen Impfstoff gegen ein Coronavirus entwickelt, das Geflügel befällt; dabei wurden genetische Veränderungen vorgenommen, um den Impfstoff an auf Menschen übertragbare Coronaviren anzupassen.

»Impfstoffe wurden injiziert, um die Bildung von Antikörpern zu stimulieren«, so Katz. Das sei bei dem Präparat auf Basis von Proteinen, an dem sein Institut arbeite, jedoch anders. Der optimale Effekt lasse sich durch eine orale Einnahme erzielen, was den Wirkstoff im Körper nicht nur richtig aktiviere, sondern auch Nebenwirkungen reduziere. »Der neue Impfstoff wird diese Krankheit in eine schwache Erkältung verwandeln«, sagt Katz. »Vielen Menschen wird Covid-19 nichts anhaben können.« Die Dauer des Schutzes hänge vom Immunsystem des Einzelnen ab, prinzipiell aber gelte: Je mehr Menschen geimpft seien, desto effektiver sei der Schutz. »Bis das Protein fertig ist, müssen wir den richtigen Partner finden, der uns durch die klinische Phase führt«, sagt der Forschungsgruppenleiter. »Diese Testexperimente dauern nicht sehr lange und wir können sie in etwa 60 Tagen nach Versuchen am Menschen abschließen. Die Bürokratie wird die meiste Zeit beanspruchen.«

In Jakov Lubliners Leben wird nach der Covid-19-Pandemie wieder Normalität einkehren, doch es wird nicht mehr dasselbe sein wie zuvor. Der 89jährige, der sich schon länger mit Kabbala-Studien beschäftigt, sieht die gesamte Situation als eine Warnung an die Menschheit. »Das Virus zeigt, dass wir nicht die Herren des Universums sind«, sagt er. »Bestimmt wird es bald einen Impfstoff geben, doch was wird in Zukunft unsere Gier befriedigen, wenn das endlose, vergebliche Streben nach Erfolg und Macht durch höhere Gewalt gestoppt wird?« Der Holocaustüberlebende weiß, dass das Virus tödlich für den Menschen sein kann. Doch für die Natur kann es einen Segen bedeuten. »Wenn dies der Fall ist, stehen wir im Widerspruch zur Natur, was sicherlich keine gute Sache ist, und wir sollten uns fragen, wie es dazu kam«, sagt er. »Nach dem Regen scheint bekanntlich wieder die Sonne. Doch wenn sich der Sturm wieder legt, dann werden wir zweifellos ein anderes Bild vorfinden.«