Ungesühnte Massenerschießung
Die letzte Chance auf einen Gerichtsprozess gegen einen Angehörigen der sogenannten Einsatzgruppen scheint vertan. Die Mitglieder dieser hochmobilen deutschen Sondereinheiten hatten im Zweiten Weltkrieg massenhaft Zivilisten ermordet. Die Staatsanwaltschaft Kassel teilte am 23. März einem von drei Klägern mit, dass sie ein seit September 2017 laufendes Ermittlungsverfahren gegen Herbert Wahler eingestellt habe. Dieser hatte in einem Interview mit dem ARD-Magazin »Kontraste« gesagt, er sei während des Massakers von Babyn Jar in Kiew gewesen. Er stand deshalb im Verdacht, als Angehöriger der 3. Kompanie des Bataillons der Waffen-SS »zur besonderen Verwendung« an dem Mord an 33 771 Jüdinnen und Juden im September 1941 am Stadtrand von Kiew beteiligt gewesen zu sein.
Die Staatsanwaltschaft Kassel sah es nach ihren zweieinhalbjährigen Ermittlungen gegen den mittlerweile 98 Jahre alten Beschuldigten als nicht hinreichend erwiesen an, dass dieser zur Tatzeit in der Schlucht Babyn Jar gewesen ist. Es sei nicht sicher, ob die Einheit Wahlers zum Zeitpunkt der genannten Massenerschießungen in das verantwortliche Sonderkommando 4a, Teil der Einsatzgruppe C, eingegliedert gewesen sei. Ebenso sei nicht geklärt, welchem Zug der Beschuldigte innerhalb seiner Kompanie angehört habe.
Dass die Verfahren gegen Angehörige der Einsatzgruppen komplizierter sind als die gegen KZ-Wachmänner, liegt auch am Wesen der Mordkommandos, die selten länger an einem Ort stationiert waren.
Rückschlüsse zogen die Staatsanwälte etwa aus einem Einsatzgruppenprozess, der zwischen 1965 und 1968 in Darmstadt stattgefunden hatte. Aus dessen Akten geht allerdings hervor – das räumte auch die Kasseler Staatsanwaltschaft ein –, dass Wahler an einem weiteren Tatort gewesen sein muss, nämlich in beziehungsweise bei der Stadt Schytomyr. Dort fanden im Juli und August 1941 ebenfalls Erschießungen statt. Das böte zumindest die Möglichkeit, weitere Ermittlungsverfahren einzuleiten. Die für die Vorermittlungen verantwortliche Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen hatte zunächst festgestellt, Wahler habe aufgrund seines Umfelds und des Umfangs der Mordaktion an der Schlucht von Babyn Jar zumindest von dem Massaker wissen müssen. Dem folgte die Staatsanwaltschaft Kassel zwar, mochte daraus aber keinen hinreichenden Tatverdacht ableiten. Die dafür herangezogenen Zeugenaussagen aus den sechziger Jahren stammten ausnahmslos von ehemaligen Kameraden Wahlers. Angeführt wird etwa ein Angehöriger der 3. Kompanie, der 1966 aussagte, er habe niemals an Erschießungen teilnehmen müssen, weder als Schütze noch als Absperrposten.
Derlei Zweifel wurden offenbar schwerer gewichtet als Aussagen, die für die Anwesenheit Wahlers sprechen, sowie die jüngste aller Bekundungen – diejenige von Wahler selbst, er sei in Kiew gewesen. Ermittlungsergebnisse oder Zeuginnen und Zeugen aus dem Ausland wurden nicht herangezogen.
Bereits 2014 hatte das Simon-Wiesenthal-Center den deutschen Behörden Informationen über 80 Mitglieder der Einsatzgruppen übergeben. Die Zentrale Stelle äußerte Interesse an acht dieser Personen, ermittelt wurde schließlich gegen drei von ihnen. Anklage wurde in keinem Fall erhoben. Im Fall von Babyn Jar wären Gerichtsprozesse oder gar Urteile die ersten seit 1971 gewesen.
Dass Verfahren gegen Angehörige der Einsatzgruppen juristisch komplizierter sind als solche gegen Wachmänner von Konzentrationslagern, liegt auch am Wesen der Mordkommandos, die selten länger an einem Ort stationiert waren. So hat die Staatsanwaltschaft Hamburg den Fall von Bruno D. vor das Landgericht Hamburg gebracht – anders als ihre Kasseler Kolleginnen und Kollegen im Fall Wahler. D. wird seine Tätigkeit als Wachmann im KZ Stutthof zur Last gelegt, die ihm nachgewiesen werden kann. Efraim Zuroff, der Direktor des Simon-Wiesenthal-Centers in Jerusalem, findet es gleichwohl wichtig, die öffentliche und juristische Aufmerksamkeit für die Vernichtungslager auf die Massenerschießungen auszudehnen und wenigstens noch einige wenige Täter dieses Mordkomplexes vor Gericht zu bringen. Der Jungle World sagte Zuroff, für ihn sei es zweitrangig, ob Wahler in Babyn Jar gewesen sei oder nicht: »Wenn Herbert Wahler der Einsatzgruppe C angehörte, war es seine Aufgabe, am Massenmord teilzunehmen. Das sollte genügen, ihn vor Gericht zu bringen.«
Erleichtert würde das auch dadurch, dass die Rechtspraxis sich durch den Prozess gegen John Demjanjuk vor einem Jahrzehnt verändert hat. Es kann mittlerweile für eine Verurteilung ausreichen, die Anwesenheit eines Mitglieds einer verantwortlichen Einheit am Tatort nachzuweisen. Verantwortlich sind für die Ermittlungsverfahren jedoch meist lokale Staatsanwaltschaften, die für derartige Fälle weder historisch und juristisch geschult sind. Nicht nur die besonderen Schwierigkeiten derartiger Fälle, auch die Qualität der Arbeit der Ermittelnden machten jeden Fall zu einer Art Glücksspiel, sagt Zuroff: »Man weiß nie, ob der örtliche Staatsanwalt gute Arbeit leisten kann, oder ob er wirklich entschlossen ist, alles zu tun, um den Verdächtigen vor Gericht zu stellen und eine Verurteilung zu erreichen.«
Julija Smiljanskaja, deren Vater das Massaker von Babyn Jar überlebte, geht es weniger um die Bestrafung eines 98jährigen Mannes als vielmehr um ein Urteil wegen der begangenen Verbrechen. Smiljanskaja, 60 Jahre alt und Direktorin des Instituts für Judaistik in Kiew, sagte der Jungle World: »Es ist wichtig, dass Wahler erzählt, was er in der Ukraine getan und gesehen hat. Es ist wichtig für die Erinnerung an die diejenigen, die ermordet wurden, und diejenigen, die jetzt leben.« Deswegen fände sie es wichtig, die Verhältnisse und Einstellungen zu untersuchen, die Menschen wie Wahler bewegt hatten, sich an der Vernichtungsmaschinerie zu beteiligen – und nach Wegen zu suchen, um solcher Entmenschlichung heutzutage entgegenzuwirken.
Die Staatsanwaltschaft Kassel verwies in ihrer Einstellungsbegründung auf die schwierigen Umstände: »Eine abschließende beziehungsweise weitergehende Aufklärung des Sachverhalts ist aufgrund der verstrichenen Zeit und fehlender erfolgversprechender Ermittlungsmöglichkeiten nicht möglich.« Zuroff findet, dass dürfe keine Ausrede sein: »Die Frage ist: Stehen Sie auf der Seite der Opfer oder auf der Seite der Täter?«