Jihadisten sehen in der Pandemie eine Strafe Gottes, aber auch eine Chance für Terroranschläge

Zwischen Sorge und Propaganda

Islamistische Terrororganisationen sehen im Coronavirus eine göttliche Strafe für die »Kreuzfahrernationen« und eine günstige Gelegenheit, um vermehrt Anschläge zu verüben. Sie warnen Muslime gleichzeitig vor einer Ansteckung und empfehlen den Islam als Gegenmittel.

Die Anspielung auf die Shoa ist offenkundig: Sollte Israel nicht genügend Beatmungsgeräte für schwerkranke palästinensische Covid-19-Patienten im Gaza-Streifen zur Verfügung stellen, werde die Hamas sie sich »mit Gewalt« nehmen und dafür sorgen, dass »sechs Millionen israelische Siedler unfähig sein werden zu atmen«. So drohte der Hamas-Führer Yahya Sinwar Anfang April in einem Interview mit al-Aqsa-TV, dem Fernsehsender der palästinensischen Terrororganisation. Im Übrigen sei das neuartige Coronavirus, so ­Sinwar weiter, die göttliche Strafe für Donald Trumps Anerkennung von ­Jerusalem als Hauptstadt des jüdischen Staates.

Neben der Hamas suchen auch andere islamistische Terrorgruppen nach ideologisch passenden Erklärungen für die Pandemie – und zudem nach Möglichkeiten, von ihr verschont zu werden und sie sich gleichzeitig zunutze zu machen. In al-Naba etwa, dem Online-Magazin des »Islamischen Staats« (IS), stand zunächst zu lesen, das neuartige Coronavirus sei eine Strafe für »Kreuzfahrernationen« und die Zeit der lockdowns günstig für Muslime, um Anschläge gegen den Westen zu verüben.

In späteren Artikeln hieß es dagegen, Muslime dürften nicht davon ausgehen, von Covid-19 verschont zu bleiben. Zwar seien die USA schuld am zunehmenden Atheismus und an der grassierenden Unmoral auf der Welt, was für die göttliche Bestrafung in Form der Pandemie gesorgt habe. Doch in der Vergangenheit hätten Seuchen sowohl Nichtmuslime als auch Gläubige getroffen. Muslime müssten daher Buße tun und Maßnahmen ergreifen, um sich nicht anzustecken und das Virus nicht zu übertragen. IS-Mitglieder sollten nicht in westliche Länder reisen, um dort Angriffe auszuführen.

Bereits dort lebende Jihadisten dagegen sollen unbedingt handeln. Genau das wollten die vier Tadschiken tun, die Mitte April in verschiedenen nordrhein-westfälischen Städten festgenommen wurden. Gemeinsam mit einem weiteren Landsmann, der bereits Mitte März 2019 inhaftiert worden war, hatten sie sich nach Angaben der Behörden im Januar vorigen Jahres dem IS angeschlossen. Sie sollen von führenden Mitgliedern des IS in Syrien und Afghanistan dirigiert worden sein und unter anderem Anschläge auf Einrichtungen der US-Streitkräfte in Deutschland geplant haben.

Al-Qaida veröffentlichte vor einigen Tagen einen sechsseitigen Ratgeber, in dem es hieß, die Ankunft der Pandemie in der muslimischen Welt sei eine Folge »unserer eigenen Sünden und der Obszönität und moralischen Korruption, die in muslimischen Ländern weit verbreitet sind«. Die Krise sei deshalb eine Gelegenheit, »das richtige Glaubensbekenntnis zu verbreiten, die Menschen zum Jihad für Allah aufzurufen und sich gegen Unterdrückung und Unterdrücker aufzulehnen«.

Bei den Taliban in Afghanistan dagegen überwiegt die Sorge, dass die Ausbreitung des Virus den eigenen terroristischen Aktivitäten schaden könnte. »Wenn sich der Ausbruch in einem Gebiet ereignet, in dem wir die Situation kontrollieren, können wir die Kämpfe in diesem Gebiet einstellen«, sagte ihr Sprecher Zabihullah Mujahed. Die Organisation veröffentlichte Fotos von Taliban-Ärzten, die in der östlichen Provinz Nangarhar Seife, Masken und Handschuhe verteilen. Zudem erklärte sie, jede humanitäre Vereinigung zu unterstützen, die an Covid-19 Erkrankten hilft oder dazu beiträgt, die Verbreitung des Virus zu stoppen.

In Somalia schob die Terrormiliz al-Shabaab die Schuld an der Seuche auf »die Kreuzritterkräfte, die in das Land eingedrungen sind, und die ungläubigen Länder, die sie unterstützen«. Das neuartige Coronavirus habe »die Schwäche derjenigen aufgedeckt, die sich als Supermächte bezeichneten, wie die USA, Frankreich, Italien, Deutschland und Großbritannien«. In Nigeria nannte die Terrororganisation Boko Haram die Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Covid-19 wie etwa die Schließung von Moscheen einen »Angriff auf den Glauben« und bezeich­nete die strenge Auslegung des Islam als »Antivirus«.

Bei Sicherheitsexperten wächst ­derweil die Sorge darüber, dass die Pandemie die internationale Zusammenarbeit gegen den islamistischen Terrorismus erheblich erschwert. Die International Crisis Group (ICG) in ­Brüssel etwa, die Analysen und Lösungsvorschläge zu internationalen Konflikten liefert, befürchtet, dass Covid-19 es »den Jihadisten ermöglicht, besser spektakuläre Terroranschläge vorzubereiten«, nicht zuletzt wegen des Abzugs von Truppen. Islamisten könnten zudem neue Anhänger gewinnen, ­indem sie den Regierungen vorwerfen, die Krise nicht im Griff zu haben und die Religion als einzige Rettung propagieren.

Tatsächlich gab es seit dem Ausbruch der Pandemie mehrere islamistische Terroranschläge, etwa im Tschad, wo es Ende März zum bislang opferreichsten Angriff auf das dortige Militär kam. Mindestens 92 Soldaten wurden da­bei in der Nähe der Grenze zu Nigeria und Niger getötet. In Ägypten berichteten Militärvertreter von einem Anstieg von IS-Anschlägen im Norden der ­Sinai-Halbinsel im März. Auch in Mosambik, Mali und dem Irak kam es zu mehreren islamistischen Terrorangriffen. In die Defensive scheinen der IS, al-Qaida & Co. durch die Pandemie jedenfalls nicht zu geraten.