Indien verlängert die Ausgangssperre, um die Versorgung müssen sich vor allem Frauen kümmern

Den Hunger bekämpfen

Ende März wurde aufgrund der Covid-19-Pandemie in Indien eine komplette Ausgangssperre verhängt. Die Folgen sind vor allem für Arme fatal, ihre Grundversorgung ist gefährdet.

Es fahren keine Busse oder Züge. Ein gilt ein komplettes Bewegungsverbot für alle, die nicht in systemrelevanten Berufen arbeiten. Um 20 Uhr am 24. März hat der indische Premierminister ­Narendra Modi den lockdown verkündet, um Mitternacht trat er in Kraft. Mehr als 1,3 Milliarden Inderinnen und Inder hatten gerade einmal vier Stunden Zeit, bevor sie für Wochen kaum noch ihre Wohnung verlassen durften. Die Ausgangssperre hat in Indien eine riesige Versorgungskrise ausgelöst. Trotzdem wurde sie nun bis Mitte Mai verlängert.

Jeder Haushalt soll für die nächsten drei Monate insgesamt 1 500 Rupien (etwa 18 Euro) erhalten, überwiesen wird auf die Konten der Frauen.

Kairun Pathak ist in diesen Tagen viel unterwegs, denn sie ist eine der wenigen freiwilligen Helferinnen mit Passierschein in der Stadt Ahmedabad im Westen des Landes. Im Videochat zeigt sie die Schlange vor der lokalen Essensausgabe. Felder markieren den Sicherheitsabstand, der zum Schutz einge­halten werden muss. Brot und Linsen werden hier angeboten, vor ein paar Tagen gab es auch Tee, aber der ist mittlerweile aufgebraucht. Es sind Freiwil­lige, die helfen, denn der Staat ist überfordert. »Die Polizei kam am 21. März«, berichtet Pathak. »Sie haben alle mitgenommen, die bis zur Ausgangssperre hier am Straßenrand wohnten. Darunter auch zwei Frauen, die hier eine kleine Imbissküche betrieben.« Zuerst wurden die Frauen in einem Auffanglager der Stadt untergebracht, aber dort gibt es inzwischen keine Kapazitäten mehr. Sie sind nun auf die Straße zurückgekehrt.

Sie sind zwei von vielen, die sich nicht einfach zu Hause in Sicherheit bringen konnten. Bilder von diesen Menschen­mengen auf den Straßen gingen um die Welt. Ob ihr Zuhause nun in der Stadt oder auf dem Land liegt: Die meisten der Menschen sind prekär beschäftigt – nach einer Statistik der Internationalen Arbeitsorganisation von 2017 beträgt ihr Anteil an der Gesamtzahl der Beschäftigten 92 Prozent.

»Frauen sind besonders stark von der derzeitigen Krise betroffen«, berichtet die Leiterin von UN Women in Neu-Delhi, Kanta Singh. »Für Frauen ist es viel schwieriger als für Männer, einen regulären Arbeitsvertrag zu bekommen. Daher ist es leichter, sie zu entlassen. Frauen sind es, die sich um die Kranken kümmern, und wenn ein Covid-19-Fall vorliegt, dann sind sie diesem Risiko besonders ausgesetzt.« Sie seien außerdem hauptsächlich für den Haushalt verantwortlich, ob sie zur Arbeit gingen oder nicht. Wenn nun Hilfe benötigt werde, um die Familie zu ernähren, seien sie es, denen diese zusätzliche Last zufalle.

Derzeit ist es vor allem das Netzwerk der subventionierten Lebensmittelläden, das Bedürftige in der Krise versorgt. Gemäß dem indischen Gesetz zur Ernährungssicherung (National Food ­Security Act, NFSA) werden festgesetzte Mengen an verbilligten Nahrungsmitteln an Bezugsberechtigte – etwa zwei Drittel der Bevölkerung – verkauft. ­Indien besitzt das weltweit größte Lebensmittelverteilungsprogramm, das Public Distribution System (PDS). Eingeführt im Zweiten Weltkrieg, sollte es damals vor allem die Arbeiterschaft von der Stadtflucht abhalten, denn man fürchtete einen Einbruch der Kriegsproduktion. Nun werden in der Corona­krise Menschen davon abgehalten, die Städte zu verlassen. Es geht dabei um das Ansteckungsrisiko, aber auch darum, wie mit der großen Anzahl prekärer Arbeitskräfte umgegangen werden soll. Daher hat die Regierung ein Hilfsprogramm von 1,7 Billionen Rupien (etwa 20,4 Milliarden Euro) beschlossen, um das Programm auszuweiten. In ­vielen Bundesstaaten werden derzeit bestimmte Mengen an Lebensmitteln in den Läden des PDS kostenlos abgegeben. Im Bundesstaat Gujarat, dessen größte Stadt Ahmedabad ist, erhält jede Familie pro Monat in Quarantäne 3,5 Kilogramm Mehl, 1,5 Kilogramm Reis und ein Kilogramm Linsen.

In den Bestimmungen des NFSA gelten Frauen als die Familienoberhäupter. Die Berechtigungsscheine werden an die älteste Frau in der Familie ausgegeben, sofern sie mindestens 18 Jahre alt ist. Normalerweise werden die zugehörigen Lebensmittelkarten an Familien vergeben, die unter der Armutsgrenze leben. Nur verschiebt diese sich gerade, und die Regierung hat angekündigt, die Kriterien zu lockern, um mehr Menschen in das Hilfsprogramm aufnehmen zu können. So auch viele Frauen, die Kairun Pathak in diesen Tagen betreut. »Die meisten Frauen sind hauptverantwortlich für den Einkauf und die Zubereitung von Nahrungsmitteln, auch wenn sie selbst als Tagelöhnerinnen einen großen Teil des ­Lebensunterhalts der Familie sichern. Sie sind es, die in diesen Tagen unterwegs sind, um Lebensmittel zu besorgen. Außerdem müssen wir genau beobachten, was das für die Position der Frauen im Haushalt bedeutet und ob es zu verstärkter häuslicher Gewalt kommen wird«, sagt sie.

Die Internetseite des PDS ist bunt, zeigt Bilder prall gefüllter Reissäcken und aktuelle Informationen. Wie man den Antrag für die Rationskarte ausfüllen kann, ist allerdings schwer herauszubekommen. Im föderalen Indien hat jeder Bundesstaat eigene Regeln. Um das zu vereinfachen, hat etwa die Stadt Neu-Delhi eine App eingerichtet. In Ahmedabad helfen Freiwillige beim Aus­füllen des Antrags. Allerdings stoßen sie dabei auch an ihre Grenzen. Kairun Pathak berichtet davon, dass einige ­Anträge, die Angehörige unterer Kasten gestellt hätten, nicht anerkannt worden seien.

Aufgrund dieser Schwierigkeiten bei der direkten Vergabe von Lebensmitteln beinhaltet das Regierungsprogramm auch monetäre Transferleistungen. Jeder Haushalt soll für die nächsten drei Monate insgesamt 1 500 Rupien (etwa 18 Euro) erhalten, überwiesen wird auf die Konten der Frauen. Das reicht zwar nicht aus, um in diesem Zeitraum genügend Essen zu kaufen, aber es würde zumindest helfen, etwa eine ärztliche Behandlung zu finanzieren. Da dieses Geld zur Überbrückung der Krise nicht an Forderungen geknüpft ist, erinnert es an ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Die Maßnahme baut auf einem der Vorzeigeprojekte von Premierminister Modi auf: der Einrichtung von kostenlosen Bankkonten für alle. Seit der Einführung dieser sogenannten Jan-Dhan-Konten (Wohlstand-für-alle-Konten) 2014 haben sich dafür etwa zweieinhalb Millionen Menschen aus den unteren Einkommensgruppen Indiens registriert. Es handelt sich um eine der größten universellen Transferleistungen weltweit. Solche Ideen finden im Land nicht nur Zustimmung von Nichtregierungsorganisationen, auch der Verband der Industrie- und Handelskammern FICCI hat sich positiv dazu geäußert.

Im letzten Wahlkampf 2019 trat der Kandidat der Kongresspartei, Rahul Gandhi, mit dem Versprechen an, ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen. Die Kongresspartei befindet sich nun in der Opposition, doch die Idee wird weiterhin diskutiert. Es könnte sein, dass die beschlossenen Zahlungen eine langsame Abkehr von der direkten Lebensmittelhilfe zur ­Armutsbekämpfung in Indien einleiten.

In der derzeitigen Krise zeigt sich ­jedoch, dass die Verwirklichung noch problematisch ist. Schlangen von Hunderten Metern Länge bilden sich vor den Banken, wann immer die Ausgangssperre für ein paar Stunden aufge­hoben wird. Wer es bis zum Schalter schafft, erfährt manchmal, dass das eröffnete Konto gar nicht mehr existiert. Und wer noch kein Konto besaß, kann aufgrund des Andrangs momentan auch keines einrichten.

Kairun Pathak und ihre Helferinnen bieten daher weiterhin zweimal täglich warmes Essen an. Studierende des Indian Institute of Management in ­Ahmedabad unterstützen sie dabei, sofern es ihnen erlaubt wird, den Uni­versitätscampus zu verlassen. Am Anfang meldeten sich viele Menschen, um zu helfen, mittlerweile ist dies aufgrund der strikten Auflagen schwieriger geworden.

Zugleich hat sich die vielerorts gesundheitsschädliche Luftverschmutzung in Indien erheblich verringert, in den großen Städten ist plötzlich wieder blauer Himmel erkennbar. Manche der Studierenden fordern, dass es auch nach der Krise gelingen sollte, weniger Schadstoffe auszustoßen und das Treiben auf den Straßen zu reduzieren.

Doch viele Menschen verdienen ­ihren Lebensunterhalt auf der Straße und sind jetzt in ihrer Existenz bedroht. Sie arbeiten auf Baustellen, fahren Taxis oder verkaufen ihre Waren auf dem Bürgersteig. Die Standpunkte in der Krisendiskussion hängen vom ­sozialen Status ab – und gerade auf die Ärmsten könnte in dieser Krise noch weniger Rücksicht genommen werden als schon bisher.