Was es am Tag der deutschen Kapitulation zu feiern gilt

Der verschmähte Gedenktag

In Deutschland hat der 8. Mai nicht die Bedeutung, die ihm gebührt. Auch die Linke tut sich schwer, ihn angemessen zu würdigen.

Der 8. Mai 1945, die Befreiung vom Nationalsozialismus, war ein Freudentag für die Soldaten der Alliierten, ein Freudentag für die Bevölkerungen der von den Deutschen angegriffenen, okkupierten und verwüsteten Länder und ein Freudentag für die überlebenden Opfer der deutschen Vernichtungspolitik. ­Allein die Mehrheit der Deutschen erlebte diesen Tag nicht als Befreiung, sondern als Schmach und Niederlage, als Ende ihres Traums vom Tausend­jährigen Reich, von Weltherrschaft, Lebensraum im Osten und Beseitigung des halluzinierten Hauptfeindes, des Weltjudentums.

Die mit dem 8. Mai 1945 beginnende Entnazifizierung blieb zaghaft und ­unvollendet, da sich Hitlers willige Vollstreckerinnen und Vollstrecker gegenseitig deckten und Stichwortgeber, Funktionäre und Finanziers des National­sozialismus wie Martin Heidegger, Ernst Jünger, Hans Globke, Kurt Georg Kiesinger und Hermann Josef Abs ihre Karrieren nahtlos fortsetzen konnten. In den Nürnberger Prozessen, die viele Deutschen als »Siegerjustiz« empfanden und diffamierten, wurden nur einige wenige der allerhöchsten Funktionäre verurteilt, die sich einer Bestrafung nicht durch Selbstmord entzogen hatten. Ein mentaler Bruch mit der Vergangenheit fand nicht statt, von den Vernichtungslagern wollte niemand ­etwas gewusst haben und zur größten Opfergruppe wurden die aus Osteuropa vertriebenen Deutschen stilisiert.

Anstatt den 8. Mai öffentlich und gemeinsam als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus zu feiern, zelebriert der Großteil der deutschen Linken bis heute lieber den 1. Mai.

Die wenigen Intellektuellen, die es wie Karl Jaspers, Theodor W. Adorno und Fritz Bauer wagten, die Schuldfrage zu stellen, stigmatisierte man als »Nestbeschmutzer«, und Historiker wie Léon Poliakov und Joseph Wulf, die erste Studien über die deutschen Verbrechen vorlegten, schwieg man tot. Denn, so Adorno, »im Hause des Henkers soll man nicht vom Strick ­reden, sonst hat man Ressentiment«. Wie vor den Kopf gestoßen notierte die in den Nachkriegsjahren zu einem Besuch zurückgekehrte Hannah Arendt: »Beobachtet man die Deutschen, wie sie geschäftig durch die Ruinen ihrer tausendjährigen Geschichte stolpern und (…) wie sie es einem verübeln, wenn man sie an die Schreckenstaten erinnert, welche die ganze Welt nicht loslassen, dann begreift man, dass die Geschäftigkeit zu ihrer Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit geworden ist. Und man möchte aufschreien: Aber das ist doch alles nicht wirklich.« Wirklich ­seien hingegen die Ruinen, das vergangene Grauen und die Toten, die die Deutschen vergessen hätten. Diese bezeichnete Arendt als »lebende ­Gespenster, die man mit Worten und Argumenten, mit dem Blick mensch­licher Augen und der Trauer menschlicher Herzen nicht mehr erreichen« könne.

Arbeitswahn und 1. Mai
An ihrem Arbeitsmythos, der in der ­Parole »Arbeit macht frei« kulminierte, die unter anderem über dem Tor des Stammlagers des KZ Auschwitz prangte, hielten die Deutschen fest. Den Weg zur Shoah und zum Nationalsozialismus hatte nicht zuletzt Martin Luther mit seinem antijüdischen Arbeitsethos und der von ihm ausgelösten Reformation vorgezeichnet. Luther fetischisierte Arbeit zum Selbstzweck und erklärte den ehrlichen schaffenden Deutschen zum Gegenteil des raffgierigen, mit Geld handelnden Juden. ­Unter dem Einfluss dieser Vorstellung verwandelte sich Luthers Arbeitsethik schließlich in einen regelrechten Arbeitswahn. Dieser wurde den zunächst oft widerspenstigen, dann gehorsamen deutschen Untertanen über Jahrhunderte in Arbeits- und Zuchthäusern, Kirchen, Schulen und Elternhäusern eingeprügelt und oktroyiert, bis alle ihn internalisiert hatten.

Trotz des 8. Mai 1945 und der Verstrickung vor allem des Protestantismus gibt es in Deutschland bis heute keine Trennung von Staat und Kirche und keine Abkehr von der Tradition des antijüdisch-lutheranischen Arbeitswahns. Der US-amerikanische Morgenthau-Plan, der eine weitgehende Deindustrialisierung Deutschlands vorsah, hätte hier dienlich sein können, doch er wurde nicht realisiert. Auch die zunächst beabsichtigte, absolut notwendige, aber bereits viel zu zaghaft begonnene re­education der Deutschen durch die Alliierten wurde im Zuge des Kalten Kriegs rasch beendet. Stattdessen belohnte man die Bundesrepublik mit Geldern aus dem Marshall-Plan genannten ­europäischen Wiederaufbauprogramm. Dank dieser Gelder und auf der Basis der durch die Versklavung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft modernisierten ­industriellen Infrastruktur entstand das sogenannte Wirtschaftswunder. Dadurch wurden die Deutschen doch noch zu Gewinnern des Zweiten Weltkriegs.

Doch ungeachtet der Befreiung und der Gelder zum Wiederaufbau aus den USA verbreitete sich in Deutschland – besonders unter Linken – seit dem 8. Mai 1945 ein Antiamerikanismus, der in vielerlei Hinsicht an die Ideologie der Nazis anknüpfte und bis heute fortbesteht. Das Kriegsende ­löste keine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoah aus, sondern war die Geburtsstunde der Verdrängung und eines ­sekundären Antisemitismus, das heißt eines »Judenhasses nach Auschwitz«, der sich heute vor allem gegen Israel richtet. Anstatt den 8. Mai öffentlich und gemeinsam als Befreiung vom Nationalsozialismus zu feiern, den Alliierten zu danken und der Opfer zu gedenken, zelebriert der Großteil der deutsche Linken bis heute lieber den 1. Mai, den 1933 die Nazis als »Tag der Arbeit« zum Feiertag erhoben. Man applaudiert Gewerkschaftsführern oder simuliert in Straßenkämpfen mit der Polizei eine Revolution, von der die gesellschaftlichen Verhältnisse weit entfernt sind.

Pandemie und Krise
Zum D-Day, dem Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie, lädt der französische Präsident regelmäßig die Staatsoberhäupter Großbritanniens, Russlands, der USA und mittlerweile sogar Deutschlands ein. Zu gemeinsamen Feiern am 8. Mai lädt der deutsche Staat dagegen nicht ein. Darauf, dass mit dem Nationalsozialismus nicht gebrochen wurde und seine Ursachen fortbestehen, weist auch hin, dass die Deutschen an ihren Reaktions- und Handlungsmustern in Krisenzeiten festhalten. Immer wieder verbreiteten und verbreiten sich dann Verschwörungstheorien und Antisemiten rüsten sich zur Tat. So war es bereits während der europäischen Pestwelle von 1348/1349, als die Legende von der jüdischen Brunnenvergiftung in den deutschen Fürstentümern zum Volksglauben wurde, der bis heute fortwirkt. Am Ende der Pestwelle standen antisemitische Pogrome, denen ein Großteil der deutschen Juden zum Opfer fiel. Die wenigen Überlebenden flohen nach Osteuropa und bildeten den historischen Kern des Ostjudentums, das ab 1941 zum zentralen Ziel des national­sozialistischen Vernichtungskriegs wurde. So war es auch nach dem Ende der von Napoleon verfügten Kontinentalsperre gegen Großbritannien, als die Deutschen mit den günstigen Importprodukten der ­fortgeschrittenen britischen Industrie nicht mehr konkurrieren konnten. Infolge dieser Wirtschaftskrise ­zogen Antisemiten, ausgehend von Universitäts­städten, 1819 in weiten Teilen des späteren Deutschen Reichs über Monate hinweg während der sogenannten Hep-Hep-Unruhen plündernd und brandschatzend vor und in jüdische Geschäfte und Wohnhäuser. So war es erneut während des ersten deutschen Bankencrashs von 1873, der Otto Glagau, Wilhelm Marr, Adolf Stoecker und Heinrich von Treitschke zur Ausformulierung des modernen Antisemitismus inspirierte, und so war es nach der Weltwirtschaftskrise von 1929, die zu den großen Wahlerfolgen der NSDAP und schließlich im Januar 1933 zu ihrer Machtübernahme führte. Und so war es schließlich während des Flüchtlingssommers von 2015, den die deutschen Medien zur »Flüchtlingskrise« erklärten, als sich der antisemitische, deutschnationale Mob bei Pegida und in der AfD organisierte.

Und heute? Bereits jetzt behaupten Verschwörungstheoretiker, dass das neuartige Coronavirus nicht in China von Fledermäusen auf Menschen übergegangen, sondern in Laboren der USA oder Israels entwickelt worden sei, wahrscheinlich von Juden. Wird die Coronakrise in den nächsten Monaten hierzulande zur veritablen Wirtschaftskrise, dann müssen sich die von Angriffen deutscher Verschwörungstheoretiker, Rassisten und Antisemiten ­Bedrohten – allen wohlmeinenden Gedenkreden am 8. Mai zum Trotz – wieder einmal auf das Schlimmste gefasst machen.