Face the Fritz
Als die Fotografin Margaret Bourke-White im April 1945 an der Seite der US-amerikanischen Truppen Bremen erreichte, war sie entsetzt über die Haltung der deutschen Bevölkerung: »Da marschieren wir«, schreibt sie in ihrem Artikel »Hitler never told a lie«, »mit unserer wohlgerüsteten Armee in Deutschland ein, mit Versorgungseinheiten für alles, was rollt, fliegt oder zusammenbricht. Aber wir haben keine Ersatzteile für diese Ideologie, die wir zerstören wollen. Was haben wir ihr zu bieten, dieser Hitlerjugend, die ihre Brücke aufgeben musste, und diesen Frauen, die ihren hypnotischen Führer verloren haben?«
Am 8. Mai 1945 kapitulierte Nazi-Deutschland zwar militärisch, aber längst noch nicht ideologisch. Die Überzeugung, einer höheren menschlichen Rasse anzugehören, wurde in der neuen Realität, in der die Alliierten das Sagen hatten, zwar selten unverhohlen geäußert. In der Charakterstruktur der Deutschen überdauerte jedoch die Einstellung, die den Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden genauso ermöglicht hatte wie die Ermordung von sogenannten slawischen »Untermenschen«, von Sinti und Roma, Homosexuellen, »Asozialen« und Behinderten. Ihre Obrigkeitshörigkeit hinderte die Besiegten daran, nationalsozialistische Ansichten weiterhin offen zu vertreten; verschwunden waren diese damit keineswegs.
Für Bourke-White war klar, dass einer solchen Bevölkerung demokratische Institutionen nur aufgezwungen werden konnten. Freiwillig würden die »Faceless Fritz«, wie sie die ganz normalen Deutschen in ihrer gleichnamigen Reportageserie für das Magazin »Life« nannte, ihre Anschauungen nicht aufgeben. Diese Beobachtung machten all jene Reporterinnen, Militärangehörigen und vorübergehend Zurückgekehrten, die aus den USA in das besiegte Deutschland reisten. Dessen Bewohnerinnen und Bewohner waren der festen Überzeugung, sie seien die eigentlichen Opfer des Krieges und würden zu Unrecht bestraft.
»Für uns, die wir in der demokratischen Tradition erzogen worden waren, blieb ziemlich unbegreiflich, wie die Deutschen sich vor jeder Verantwortung für ihre Regierung drücken konnten.« Margaret Bourke-White
Wie viele Reportagen, die in den USA über Nachkriegsdeutschland erschienen sind, dokumentiert der 1947 im »New Yorker« veröffentlichte Bericht »Letter from Berlin« der Journalistin und Schriftstellerin Janet Flanner diese Unbeirrtheit: »Die Trümmer machen deutlich, was mit ihnen bezweckt war – ein Exempel der Demütigung und der Strafe für die jüngsten Verbrechen der Deutschen zu statuieren. Die meisten Deutschen sehen jedoch keine Strafe darin, sondern eher eine Art Martyrium.« Es ist dieser Glaube, nichts falsch gemacht zu haben, der die US-amerikanischen Reporter und Reporterinnen so fassungslos macht. Gerade in dem Moment, als neben dem Ausmaß der Verwüstung endlich auch die Möglichkeit einer freieren Gesellschaft vor Augen stand, erscheint ihnen der gekränkte Stolz der Deutschen umso absurder – aber eben nur ihnen, die aus einer Welt kamen, in der eine bürgerliche Zivilgesellschaft, wenn sie auch nicht allen gleichermaßen offensteht, so doch eine Selbstverständlichkeit ist. »Für uns«, schreibt Bourke-White, »die wir in der demokratischen Tradition erzogen worden waren, blieb ziemlich unbegreiflich, wie die Deutschen sich vor jeder Verantwortung für ihre Regierung drücken konnten. (…) Wenn unsere Männer die fruchtbaren Felder und Obstgärten sahen (…), hörte ich sie unzählige Male sagen: ›Warum haben die Deutschen den Krieg angefangen, wenn sie das alles schon hatten?‹«
Ein Krieg, der weder zur Verteidigung noch aus primär ökonomischen Gründen angestrebt und vom Zaun gebrochen worden war, kann nicht im Nachhinein von der Bevölkerung, die ihn bejubelt hatte, für ein tragisches Schicksal gehalten werden. Diese Schicksalshaftigkeit redeten sich die Deutschen jedoch ein, wie Hannah Arendt in ihrem 1950 im Magazin Commentary publizierten Essay »The Aftermath of Nazi Rule« feststellt: »Wenn es überhaupt zu einer offenen Reaktion kommt, dann besteht sie aus einem Seufzer, auf welchen die halb rhetorische, halb wehmütige Frage folgt: ›Warum muß die Menschheit immer nur Krieg führen?‹ Der Durchschnittsdeutsche sucht die Ursachen des letzten Krieges nicht in den Taten des Nazi-Regimes, sondern in den Ereignissen, die zur Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies geführt haben.«