Über die Reportagen der US-Kriegsreporterinnen aus dem besiegten Deutschland

Face the Fritz

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Realitätsverweigerung und Selbstmitleid bewahrten die Deutschen auch davor, die Erfahrungen der Verfolgten anzuerkennen und sich mit der eigenen Verantwortung für den Holocaust auseinanderzusetzen. Die Schriftstellerin und Überlebende Ruth Klüger berichtet, wie sie von deutschen Intellektu­ellen belehrt worden sei, dass die Lager nicht außergewöhnlich gewesen seien. »Wer draußen in der Freiheit gewesen war, glaubte leicht und ohne sich viel Rechenschaft darüber zu geben, nur Kriminelle hätten die KZs überlebt (…). Was wiederum im Widerspruch stand zu der hartnäckigen und ebenfalls weit verbreiteten Überzeugung, die KZs seien nicht so schlimm gewesen, dafür seien wir, die sie überstanden hatten, der beste Beweis. Ehre den Toten, den Lebenden eher Misstrauen.«

Ein Selbstbild, das die Reflexion über die eigene Verantwortung ersparen soll, ist nur um den Preis offenkundigen Widersinns zu haben. Das galt nicht nur für das Verhältnis zu den Überlebenden, sondern auch für das zu den Siegermächten, wie Flanner notiert: »Während sie sich in Klagen über Hunger, verlorene Wohnungen und andere Leiden ergehen, bringen die Deutschen für das Leid und die Verluste, die sie anderen zugefügt haben, kein sonderliches Interesse oder Mitgefühl auf, sondern erwarten im Gegenteil milde Gaben von den Ländern, die sie zerstören wollten, Gaben, die übrigens gewöhnlich eher nörgelnd als dankend auf­genommen werden.«

Dass es Deutschland zustehe, ohne große Verzögerung wirtschaftliche Unterstützung zu erhalten, ließ man die US-Amerikaner gerne wissen. Schließlich habe es den USA, die in den Krieg lediglich eingetreten seien, um dem US-Kapital europäische Märkte zu erschließen, genützt, dass die Wehrmacht derweil Russland bedrängt habe. »Selbst in der Niederlage gaben die Deutschen die Hoffnung nicht auf, wir würden eines Tages für sie gegen die Russen kämpfen«, wundert sich Bourke-White. Sie beschreibt damit eine Erfahrung, wie sie auch der Pressereferent Robert T. Pell macht, als er im April 1945 eine US-amerikanische Task Force begleitet, die Betriebsdokumente der IG Farben sichern sollte. Die Direktoren des Unternehmens, das von »Arisierungen« konkurrierender Betriebe profitiert, die putschenden Generäle gegen die spanische Republik unterstützt, das Giftgas Zyklon B für die Massenvernichtung hergestellt und ein eigenes KZ im Lagerkomplex Auschwitz errichtet hatte, sabotierten nach Kräften die Ermittlungen der US-Amerikaner, nur um diesen alsbald mitzuteilen, mit ihren unversehrten Anlagen würden sie gerne Aufträge übernehmen. Sie »erwarteten zuversichtlich«, so Pell, »das amerikanische Kapital werde sich unverzüglich bei der Aufbauarbeit engagieren, und sie erklärten sich bereit, ihre Arbeitskraft und ihren Verstand in den Dienst dieser vorübergehenden Herren zu stellen; davon erhofften sie sich unverhohlen, Deutschland mächtiger und größer wiederaufzubauen, als es in der Vergangenheit war.«

Von Anmaßungen solcher Art geradezu angewidert ist die Kriegs­berichterstatterin Lee Miller: »Wie können sie es wagen! (…) Auf welchen Fluchtwegen in ihren schlecht belüfteten Hirnwindungen gelangen sie zu der Vorstellung, sie seien ein befreites Volk und kein besiegtes?«

Das britische Magazin »Picture Post« berichtete 1945 über den Umgang mit den ganz normalen Nazideutschen

Das britische Magazin »Picture Post« berichtete 1945 über den Umgang mit den ganz normalen Nazideutschen

Bild:
mauritius images / John Frost
Margaret Bourke-White fotografierte das Grauen von Buchenwald im April 1945

Margaret Bourke-White fotografierte das Grauen von Buchenwald im April 1945

Bild:
dpa/ Margaret Bourke-White

Auf eine höhere Objektivität erheben diese außenstehenden Beobachterinnen und Beobachtern keinen Anspruch; bewusst lassen sie sich von ihrer subjektiven Perspektive leiten. Genau das macht ihre Reportagen so eindringlich: Sie verlangen von denen, die bis zum Schluss in das nationalsozialistische Vernichtungs- und Expansionsprojekt eingebunden waren, so etwas wie Demut oder Scham zu zeigen. Sie sind nicht bereit, den Deutschen wohlwollend zu unterstellen, die Leugnung der eigenen Verantwortung sei bloß Ausdruck von »Verdrängung«, der mentalen Ka­pitulation vor dem Ausmaß des Schreckens.

Tatsächlich lässt sich das, was den Beobachterinnen und Beobachtern der ersten Stunde entgegenschlägt, mit Freuds Konzept der Verdrängung nicht zutreffend erklären, auch wenn dieses Konzept seither immer wieder zur Deutung der deutschen Realitätsflucht bemüht worden ist. Nicht von einem in wesentlichen Teilen unbewussten ­Verdrängungsprozess zeugt die Haltung der Nachkriegsdeutschen, sondern von grimmigem Überlegenheitsgefühl, aktiver Reflexionsverweigerung und penetranter Selbstviktimisierung.

Die Reportagen zeigen damit bereits viele der Gründe auf, weshalb bei der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus so viele und vielfältige Widerstände warteten. Manche dieser Haltungen nehmen sogar das vorweg, was erst in der in den Sechzigern einsetzenden Aufarbeitung eine wesentliche Rolle spielen sollte: Aktive Weigerung ist oftmals selbst da am Werk, wo scheinbar Reue gezeigt wird. Wie Erika Mann kritisiert, ernteten nämlich in den ersten Jahren nach dem Krieg deutsche Künstler wie Gustaf Gründgens, Wilhelm Furtwängler, Werner Bergengruen oder Rudolf Mauersberger Ovationen, weil sie dem Verlangen der Bevölkerung entsprachen, »jegliche deutsche Schuld in einem Meer menschlicher Sündhaftigkeit aufzulösen«. Die Behauptung einer schuldhaften Verstrickung aller Kriegsparteien konnte – als Flucht nach vorn – der Vermeidung von Selbstreflexion genauso dienen wie eine gänzliche Abwehr der Schuldfrage. Während Letztere mit dem Aussterben der Tätergeneration in den Hintergrund gerückt ist, gehört die falsche Verallgemeinerung auch heute noch zum Repertoire der »Lehren aus der Geschichte«.