Wenn Deutsche vom Leid afrikanischer Kinder sprechen, geht es in der Regel um ­etwas anderes

Betroffen aufessen

Wenn hierzulande von hungernden Kindern in Afrika die Rede ist, geht es meist nicht um deren Situation – sondern um ein urdeutsches Bedürfnis.
Kommentar Von

Boris Palmer hat sich mal wieder in die Schlagzeilen befördert. »Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen.« Der vielzitierte Satz des Tübinger Oberbürger­meisters aus einem Interview mit dem Fernsehsender Sat 1 hat bundesweit Empörung hervorgerufen. Etwas untergegangen ist in dieser Empörung die Rechtfertigung, die Palmer für seine Aussage liefert. Diese ist allerdings interessant – denn den Alten in Deutschland stellt der Tübinger Oberbürgermeister die Kinder in Afrika entgegen: »Die weltweiten Zerstörungen der Weltwirtschaft sorgen nach Einschätzung der Vereinten Nationen dafür, dass der daraus entstehende Armutsschock dieses Jahr zusätzlich eine Million Kinder das Leben kostet.«

Palmer war bisher nicht gerade dafür bekannt, sich ernsthaft Sorgen um die Situation von Menschen in ärmeren Ländern zu machen. Im Gegenteil fiel er immer wieder mit rassistischen Äußerungen auf. Es darf also getrost bezweifelt werden, dass Palmer wegen der Coronakrise plötzlich Sensibilität für globale Ungerechtigkeiten entwickelt hat.

Vielmehr bedient er einen rassistischen Topos, der sich im westdeutschen Bürgertum seit den sechziger Jahren Jahre verbreitet hat und sich seit Generationen in den Ermahnungen an die eigenen Kinder äußert, brav aufzuessen, weil »die Kinder in Afrika nichts zu essen haben«. Bis heute taucht dieses Bild immer wieder auf, ­gerne auch in Spendenkampagne diverser westlicher Hilfsorganisationen, von deren Werbeflyern abgemagerte schwarze Kinder mit großen Kulleraugen dem in der Regel weißen Betrachter entgegenstarren und an sein Mitgefühl appellieren.

Wer hierzulande rhetorisch die »Kinder in Afrika« anführt, der oder dem geht es in der Regel nicht um die konkrete Situation auf dem afrikanischen Kontinent. Boris Palmer wollte vielmehr seine provokativen Aussagen mit dem Rückgriff auf arme Kinder moralisch absichern. Ausgangssperren haben in Ländern wie Uganda verheerende Auswirkungen, weil dort 80 Prozent der Wirtschaftsleistung im informellen Sektor erbracht werden und viele Menschen keine Rücklagen haben. Um die Konsequenzen der Pandemiemaßnahmen abzufedern, brauchen diese Länder finanzielle Unterstützung. Darum ging es Palmer aber nicht, er suchte ein Argument ­gegen die Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 in Deutschland, die mit Afrika wenig zu tun haben.

In ihrem wunderbar sarkastischen Song »Betroffen aufessen« von 1995 sang die Punkband But Alive: »Wir sollten alle viel dankbarer sein / Denn in Uganda verhungern die Kinder / Ich hab’ mich mit meinen acht Jahren schon so gefragt / Was verdammt nochmal das Kind jetzt davon hat / Ob ich diesen ekelhaften Blattspinat esse oder nicht«.

Die einfache Antwort auf diese Frage ist: Nichts hat das Kind davon. Durch ihren Rückgriff auf die armen Kinder beansprucht die im Song zitierte Erzieherin aber genauso wie Boris Palmer moralische Überlegenheit. Niemand will schließlich Kinder hungern lassen und irgendwas muss man ja dagegen tun. Dass »irgendwas« vernünftigerweise nur die Abschaffung eines auf Ausbeutung basieren Wirtschaftssystems sein kann, darauf kommt man allerdings nicht. Wenn in Deutschland hingegen der Spinat gegessen wird oder die Kontaktbeschränkungen gelockert werden, hat kein Kind auf dem afrikanischen Kontinent etwas davon. Solche Behauptungen sichern nur auf billige Weise moralische Respektabilität und instrumentalisieren das Leid anderer, um eigene Ziele zu erreichen. Und wenn es nur darum geht, dass das Kind in der Tagesstätte betroffen aufisst und die Erzieherin ein ruhiges Gewissen hat.