Ein Gespräch mit Sophie Hoppenstedt über das Outing von ehemaligen Prostituierten

»Eine ›ehrbare‹ Frau kann sehr schnell zur Hure degradiert werden«

Der Fernsehmoderator Oliver Pocher hat ein Video veröffentlicht, in dem er eine Influencerin als ehemalige Prostituierte outete. Die Prostitutionsgegnerin Huschke Mau verfasste daraufhin einen offenen Brief, in dem sie Pocher kritisierte, und wurde selbst mit Beleidigungen und Drohungen überzogen. Sophie Hoppenstedt, die dem von Mau mitgegründeten Netzwerk Ella angehört, das sich »gegen Prostitution, aber für Prostituierte« einsetzt, hält solche Outings für voyeuristische Lust an Degradierung und warnt vor linker Romantisierung der Prostitution.
Interview Von

Huschke Mau, Ihre Kollegin beim Netzwerk Ella, hat am 2. Mai einen offenen Brief an Oliver Pocher auf ihrer Facebook-Seite veröffentlicht, in dem sie ihm Mobbing vorwirft. Können Sie kurz schildern, was vorgefallen ist?

Oliver Pocher hat in den sozialen Medien Videos über eine Influencerin hochgeladen, die angeblich Likes und Follower kauft. Diese hat ihm auf die Vorwürfe geantwortet, woraufhin sich der ganze Vorfall sehr schnell hochschaukelte und er diese Influencerin mitsamt ihrer besten Freundin als Frauen mit Hintergrund in der Sexindustrie outete. Die eine hatte Pornofilme gedreht, aus denen er Ausschnitte zeigte, die andere war als Domina tätig gewesen, er las Auszüge aus ihrer damaligen »An­gebotsliste« vor und amüsierte sich ausgiebig darüber.

»Sexarbeitsaktivistinnen meinen, dass das Stigma sie marginalisiert und tötet. Es ist aber nicht das Stigma, das Frauen gefährlich wird, die Gefährder sind Freier und Profiteure.«

Huschke Mau schreibt, dass diese Art von Mobbing – Frauen outen, die in der Sexindustrie tätig waren – dem sogenannten revenge porn ähnlich ist, also der Veröffentlichung von Nacktfotos oder Sexvideos von Frauen durch Männer, die entweder von diesen Frauen verlassen wurden oder bei ihnen abgeblitzt sind. Wie kann es sein, dass diese Art von Mobbing auch noch in progressiven Gesellschaften ihr Ziel – die so­ziale Ächtung – so oft erreicht?

Ich denke, dass wir gar nicht in so ­einer progressiven Gesellschaft leben, wie immer behauptet wird. Sicher gibt es mehr Freiheiten, aber Männer haben die sexuelle Emanzipation von Frauen eben auch aus Eigennutz vorangetrieben.

Linke Männer inszenieren sich ja gerne als große Frauenrechtler, wenn sie darauf pochen, dass Sex­arbeit auch Arbeit und Ausdruck eines besonders hohen Maßes sexueller Selbstbestimmung ist.

Das sehe ich genauso. Eine Frau, die aber Sexobjekt ist, ist ein Beleg dafür, dass auch hier noch eine Dichotomie zwischen der Hure und der Hei­ligen besteht: Eine Frau, der man mit Videos und Bildern nachweisen kann, dass sie ein sexuell aktives Wesen ist, ist auch hierzulande noch zum Abschuss freigegeben. Eine ›ehrbare‹ Frau ist sie somit nicht mehr und kann auch nicht mehr dazu aufsteigen, während umgekehrt eine ›ehrbare‹ Frau sehr schnell zur Hure degradiert werden kann, wenn sie das unerwünschte Verhalten sexueller Aktivität zeigt.

Mau erhielt sehr viel Zuspruch, wurde von Fans von Oliver Pocher allerdings auch wüst beschimpft und bedroht, in der Kommentarspalte seines Outing-Posts findet sich ungemein viel Schadenfreude sowie Häme und Verharmlosung eines solchen Outings. Es wird argumentiert, man hätte sich ja nicht prostituieren oder Pornofilme drehen müssen, es komme ja alles mal raus. Ein solches Denken macht deutlich: Eine Frau, die einmal eine »Nutte« war, hat zahlreiche Rechte verspielt – das Recht auf Privatsphäre, auf Würde, auf Solidarität.

Es besteht eine gewisse voyeuristische Lust daran, den zu Nutten degradierten Frauen bei ihrer Degradierung zuzuschauen. Von Erich Fromm gibt es das Buch »Anatomie der mensch­lichen Destruktivität«. Da schildert er, dass es Umstände gibt, unter denen für gewisse Personengruppen die gesellschaftlichen Normen und Schutzmechanismen nicht mehr gelten; an diesen Menschen kann man seinen Zerstörungstrieb auslassen. In Kommentarspalten heutzutage sieht man: Jeder kann Unzufriedenheit sehr einfach an andere weiterge­ben und diese Leute als Boxsack benutzen.

Diesen konkreten Sachverhalt, wie Pocher gehandelt hat, werden auch Sexarbeitsaktivistinnen skandalös finden, schließlich wissen auch sie ums Hurenstigma. Dennoch erhärtet sich der Eindruck, dass die beiden Fraktionen – Sexarbeitsaktivistinnen und Abolitionistinnen (Gegnerinnen der staatlich kontrollierten Prostitution, Anm. d. Red.) – nicht exakt dasselbe unter diesem Begriff verstehen. Wo sehen sie die Unterschiede, wenn vom Huren­stigma geredet wird?

Teilweise ähnelt sich die Verwendung des Begriffs, wenn man nämlich an­erkennt, dass es sich um eine Gruppe von Menschen handelt, die geächtet wird und sich am Rand der Gesellschaft bewegt. Sexarbeitsaktivistinnen meinen aber, dass die Ächtung der Grund ist, wieso die Frauen gefährdet sind, also dass das Stigma sie marginalisiert und tötet. Es ist aber nicht das Stigma, das Frauen gefährlich wird, die Gefährder sind Freier und Profiteure. Über diese wird bei Sexarbeitsaktivistinnen sehr selten überhaupt mal ein schlechtes Wort verloren.

Würden Sie also sagen, dass Freier die Prostituierten stigmatisieren?

Ja, genau das.

Deutschland verfügt über eine vergleichsweise liberale Gesetzgebung, wenn es um Prostitution geht. Diese sollte auch erreichen, die im Prostitutionsgewerbe Tä­tigen zu entstigmatisieren. Konnten für dieses Ziel nennenswerte Erfolge verbucht werden?

Das linksliberale Milieu verklärt Prostitution auf eine Art und Weise, die mit einer Entstigmatisierung von Prostituierten nichts mehr zu tun hat. Dort wird ein vermeintlicher Glamour-Lifestyle gefeiert, der dem Abgleich mit der Lebensrealität der meisten Prostituierten überhaupt nicht standhält.

Bemerkenswert ist auch, dass oft, wenn Linke über Prostitution ­reden beziehungsweise Vorträge und Workshops organisieren, ­Personen eingeladen werden, die sich zwar im Zweifel gegen Pros­titution entscheiden, aber immer noch ihre Miete zahlen können. Ihr Plädoyer für Prostitution hat also mit Empowerment zu tun. Sie holen sich also eine kleine Minderheit ins Boot, würden aber in anderen extrem ausbeuterischen Industrien nicht einmal im Traum auf die Idee kommen, nur die oberen fünf Prozent sprechen zu lassen.

Durch genau diese Romantisierung entsteht bei jungen Frauen ein völlig falsches Bild von Prostitution. Der Sugarbabe-Lifestyle erscheint ihnen attraktiv und wie ein harmloses Vergnügen mit etwas Taschengeld. Durch das liberale Prostitutionsgesetz sind in den knapp zwei vergan­genen Jahrzehnten sehr viele Frauen vor allem aus Osteuropa nach Deutschland gekommen, um sich zu prostituieren, und die Freier sind so schäbig zu ihnen wie eh und je, vielleicht sogar noch schäbiger. Es hat ein enormes Preisdumping stattgefunden, man weiß, dass man feilschen kann, dass die Frauen mehr »Leistung« für weniger Geld anbieten müssen. Die Freier dieser Frauen denken sich nicht: »So eine respek­table selbstbestimmte Geschäftsfrau.« Die wissen stattdessen, dass die Frauen jeden Euro brauchen.

Im Jahr 2004 hat die Bild-Zeitung die Schauspielerin Sibel Kekilli als ehemalige Pornodarstellerin geoutet – Kekilli hat trotzdem eine beachtliche Karriere hingelegt, wird jedoch auch heute noch oft mit hämischen, anzüglichen Kommentaren überzogen, tatsächlich auch häufig von Frauen. Zeigt sich darin die Erleichterung darüber, dass dieser Kelch an einem selbst vorbeigezogen ist, dass man neben Frauen aus der Sexindustrie als »anständige Frau« glänzen kann?

Frauen neigen dazu, Sicherheit bei Männern zu suchen, sei es finanzielle Sicherheit, sei es, um einen Beschützer zu haben, also um sicher vor anderen Männern zu sein. Durch die Verächtlichmachung anderer Frauen als »Nutten« können sie sich profilieren und hervortun als Frauen, die Schutz verdienen, auch im Sinn von »nach oben Speichel lecken, nach unten treten«, wie man es der autoritären Persönlichkeit zuschreibt: Sie seien keine, mit denen man alles machen kann. Frauen sind oft weniger solidarisch zueinander, als Männer es sind. Was ich oft beobachtet habe, gerade bei weiblichen Täterinnen in der Sexindustrie, also zum Beispiel Zuhälterinnen, ist, dass viele von ihnen selbst Gewalt erlebt haben oder Prostituierte waren. Durch das Erleben dieser Gewalt findet bei traumatisierten Menschen oft eine Identifikation mit dem Täter statt, um nicht nochmal Opfer werden zu müssen. Das führt dazu, dass diese Frauen versuchen, andere Frauen zu unterdrücken, um sich von ihrer Rolle als Opfer noch stärker zu distanzieren. Dadurch sind sie oft besonders brutal. Hier sehe ich eine Analogie zum slut-shaming: Frauen, die schon einmal bloßgestellt wurden, teilen dann selbst besonders heftig aus gegen andere promiske Frauen.

Wie kann man sich solidarisch zeigen mit Frauen aus der Sex­industrie und Aussteigerinnen?

Bei Enthüllungen zur Vergangenheit von Frauen sollte man sich die Frage stellen: Ist das wirklich eine unschuldige Art und Weise, auf die Vergangenheit von Leuten hinzuweisen? Davon abgesehen ist auch eine große Flut an Pornographie im In­ternet per se problematisch im Hinblick darauf, dass man nicht weiß, unter welchen Bedingungen die Filme entstanden sind, in welchem Zustand sich die Darsteller befanden, was abgesprochen war und was nicht und ob es sich nicht eventuell um revenge porn handelt.