Das Bundesverfassungsgericht hat die Europäische Zentralbank wegen des Ankaufs von Staatsanleihen getadelt

Ein Gericht auf Geisterfahrt

Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil die Staatsanleihen­käufe der Europäischen Zentralbank kritisiert. Die politischen und ökonomischen Folgen sind immens.

Wer die Euro-Zone in Krisenzeiten vor dem Ruin bewahren will, muss mit Klagen aus Deutschland rechnen. Seit 2015 kaufte die Europäische Zentralbank (EZB) Staatsanleihen in einem Gesamtwert von mehr als zwei Billionen Euro von hochverschuldeten Euro-Ländern auf. »Public Sector Purchase Program« (PSPP) lautet der umständliche Name der Maßnahme, mit der sich jüngst die deutsche Justiz zu befassen hatte.

Anfang Mai kritisierte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe diesen Ankauf in einem Urteil. Mit dem Programm versorge die EZB überschuldete Staaten mit billigem Geld, was nach dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verboten sei. Die Bank überschreite damit ihre Befugnisse, heißt es in dem Urteil, für Sparguthaben, die Altersversorgung und Immobilienpreise in Deutschland seien die Folgen negativ. In den kommenden drei Monaten soll die Bundesregierung die EZB dazu bewegen, ihre Anleihenkäufe zu überprüfen. Andernfalls dürfe sich die Bundesbank nicht mehr an dem Programm beteiligen.

Verhindern deutsche Institutionen sowohl Anleihenkäufe als auch Eurobonds, ist nur schwer vorstell­bar, wie die ökonomischen Folgen der Pandemie in Europa bewältigt werden sollen.

Die Entscheidung sorgte für immenses Aufsehen, weil sich die Richter damit auch gegen ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) von 2018 wendeten, der eigentlich juristisch für die EU-Verträge zuständig ist und damals den Kauf von Staatsanleihen für rechtens erklärt hatte. Es sei »schlechterdings nicht nachvollziehbar«, so die Verfassungsrichter, dass die Luxemburger Kollegen die Anleihenkäufe der Bank gebilligt hätten, ohne deren Verhältnismäßigkeit zu prüfen.

Die Argumentation des deutschen Urteils nimmt die Perspektive deutscher Interessengruppen ein: deutsche Sparer und die deutsche Finanzindustrie, die deren Geld anlegt. Das verwundert nicht angesichts der Auswahl der Experten, die das Gericht zur Sache hörte. »Von diesen zehn Experten sind fünf Experten der verschiedenen Verbände der deutschen Finanzindustrie. Also im Prinzip Lobbyisten der deutschen Finanzindustrie«, sagte Guntram Wolff, der Leiter des Brüsseler Think Tanks Bruegel, dem Deutschlandfunk. Positive Effekte des PSPP für andere Euro-Länder erwähnte das Bundesverfassungsgericht erst gar nicht.

Der Widerspruch zwischen nationalen und europäischen Interessen zieht sich durch die gesamte Geschichte des Euro, denn die Wirtschaftspolitik innerhalb der Währungsgemeinschaft ist weiterhin überwiegend national geregelt. Das sorgt für gewaltige Disparitäten: Während sich die südlichen Euro-Staaten in immer höherem Maße verschulden, zieht Deutschland deren Kapital an. Zugleich zwingt die Bundesregierung, unterstützt von den Niederlanden, Finnland und Österreich, die Schuldnerländer zu drakonischen Sparmaßnahmen. Die Kehrseite der EZB-Hilfen ist die deutsche Austeritätspolitik.

Ohne die Intervention der EZB wäre diese wirtschaftliche Konstruktion schon lange auseinandergebrochen, denn nur durch die immensen Anleihenkäufe können Italien, Griechenland und Spanien ihre Defizite überhaupt noch finanzieren. Und nur weil der damalige EZB-Präsident Mario Draghi entschieden eingriff, kollabierte die Euro-Zone während der Finanzkrise nicht. Er werde alle Mittel einsetzen, sagte Draghi 2012, um die Spekulationen gegen den Euro abzuwehren – »whatever it takes«. Diese Worte wurden berühmt, die Euro-Zone blieb bestehen.

Bereits auf Draghis Intervention hatte das Bundesverfassungsgericht missbilligend reagiert – und damit erst den Weg für die jüngste Klage bereitet. Damals trug es den Vorwurf in Form einer Anfrage vor: Betreibe die EZB mit ihren Anleihekäufe nicht eine eigenständige Wirtschaftspolitik und mische sich in die nationale Haushaltspolitik ein? Anlass war eine Klage des CSU-Politikers Peter Gauweiler, der als Interessenvertreter der deutschen Sparer auftrat. Spätestens damit war klar, dass jeder weitere Stützungskauf der EZB zu weiteren Klagen führen würde.

Unklar ist hingegen, zu welchem Ergebnis diese Klagen führen sollen. Das Bundesverfassungsgericht kann nur deutsche Institutionen zum Handeln zwingen. Die EZB ist dem europäischen Recht verpflichtet, das den nationalen Gerichten vorgeordnet ist. So könnte sich die Bundesbank zwar weiteren Anleihenkäufen widersetzen, sie geriete damit aber in Konflikt mit dem europäischen Recht.

Im Kontext der derzeitigen Krise und der Auseinandersetzungen in der EU wirkt das Urteil geradezu nihilistisch. Denn ähnliche Konflikte gibt es bereits mit den Regierungen Ungarns und Polens, die etwa in der Flüchtlingspolitik die europäische Rechtsprechung ignorieren und sich auf ihre nationalen Gesetze berufen. Beide Regierungen reagierten denn auch begeistert auf das deutsche Urteil, ebenso wie Matteo Salvini, der Vorsitzende der rechtsextremen italienischen Partei Lega. Er stellte wegen des Urteils gleich die gesamte Währungsunion in Frage: »Wir müssen Europa auf ganz neuen Prinzipien aufbauen und zur Währungshoheit der einzelnen Staaten zurückkehren. Das ganze europäische System muss überdacht werden, auch das Recht, Geld zu drucken.«

Noch gravierender als die politischen könnten die ökonomischen Konsequenzen des Urteils sein. Während das Bundesverfassungsgericht versucht, die Anleihenkäufe der EZB zu unterbinden, blockiert die Bundesregierung eine gemeinsame europäische Fiskalpolitik und lehnt eine gemeinsame Schuldenaufnahme etwa in Form von Eurobonds kategorisch ab (Jungle World 18/2020). Verhindern oder erschweren deutsche Institutionen sowohl Anleihenkäufe als auch die Ausgabe von Eurobonds, ist nur schwer vorstellbar, wie die ökonomischen Folgen der Pandemie überwunden werden sollen. Der wirtschaftliche Einbruch in Frankreich, Italien und Spanien fiel in den vergangenen Monaten jeweils mehr als doppelt so stark aus wie in Deutschland. Hinzu kommt, dass diese Länder bereits vor der Krise hochverschuldet waren: In Italien beträgt das Defizit 134 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, in Deutschland sind es nur etwa 62 Prozent. Ohne weitreichende Unterstützung droht den hochverschuldeten Länder als ökonomische Folge der Pandemie der Zusammenbruch ihres Finanzsektors.

Die Mehrheit der Eurostaaten drängt deswegen vehement auf eine gemeinsame Schuldenaufnahme. Die Bundesverfassungsrichter reagieren darauf wie Geisterfahrer: In die falsche Richtung rasen nur die anderen. Wohin diese einsame Reise führen soll, ist ungewiss. Fast zwei Drittel des deutschen Exports gehen in die EU, etwa 40 Prozent in Euro-Staaten. Ohne Währungsgemeinschaft gerät auch das deutsche Wirtschaftsmodell in eine tiefe Krise.

Wegen dieser Aussichten sind mittlerweile auch viele Unternehmer besorgt. Covid-19 werde beispiellose Schäden für Wirtschaft und Gesellschaft verursachen, die Reaktion der EU müsse deshalb »das bisher bekannte Maß sprengen«, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), des italienischen Spitzenverbands Confindustria und des französischen Verbands Medef. Es brauche ein »starkes Element echter finanzieller Solidarität« für die besonders betroffenen Länder, schrieben die Verbände Anfang Mai. Einen vergleichbaren Aufruf gab es in der jüngeren europäischen Geschichte nicht.

Den deutschen Richtern widersprechen auch ihre europäischen Kollegen. Der Europäische Gerichtshof erinnerte sie kühl daran, dass sie sich dem europäischen Recht unterordnen müssen. Die deutsche EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen droht Deutschland mit einem Vertragsverletzungsverfahren, das unter Umständen eine Strafe in Milliardenhöhe nach sich ziehen kann. Und die EZB-Präsidentin Christine Lagarde stellte klar, dass sie weiterhin tun werde, was nötig sei, um ihr Mandat zu erfüllen, und eben nicht, was das Bundesverfassungsgericht als verhältnismäßig erachte. Allein in der vergangenen Woche kaufte die EZB Staatsanleihen in Höhe von rund 45 Milliarden Euro und andere Wertpapiere.