Die Bedeutung des Notierens

»Ohne Notizen geht es nicht«

Ein Gespräch über die Bedeutung des Einfalls beim Schreiben und darüber, wie man den flüchtigen Gedanken festhält.
Interview Von

Martin Lechner: Dein neues Buch besteht aus Notizen, wie schon ein Buch, das du vor ein paar Jahren geschrieben hast. Hat dein ganzes Schreiben mit Notizen begonnen?

Tobias Premper: Erst hab ich Gedichte geschrieben, dann Kurzgeschichten und dann bin ich mit dem ganz großen Roman gescheitert, den ich in New York schreiben wollte. Anfang der Zweitausender war das, da hab ich mich auf die Reise ans Ende des Regenbogens begeben auf den Spuren von Ginsberg, Warhol und Ivan Lendl. Und hab dann an­stelle eines Goldschatzes nur 150 vermurkste Seiten gehoben.

ML: Die Geburt der Notiz aus dem Murks des Romans. Mich würde in­teressieren, wie da der Übergang war. Es ist ja gar nicht so einfach zu sagen, wo das Suchen und Sudeln ins Schreiben übergeht, das Misslingen ins Gelingen.

»Der Übergang vom Gedanken zur Schrift ist schwer zu beschreiben, aber es findet dabei eine Verschärfung und Verwirrung statt, die
das Schreiben so anstrengend macht. Und die vielleicht auch die Verführung zu nahe­liegenden Worten erklärt, die man sich schnappt, bevor die unbegreiflich brodelnde Welt sich weiter­­gedreht hat.« Martin Lechner

TP: Weiß man das je? Ich habe, nachdem ich an der längeren Form zuerst gescheitert bin, komplett ­tabula rasa mit allen Texten gemacht, die ich bis dahin geschrieben hatte, und habe mir so ein kleines, in dunkelgrünes Leinen gebundenes Notizbuch gekauft, um noch mal von ­Anfang an schreiben zu lernen, zu experimentieren, etwas zu finden. Ohne veröffentlichen zu wollen oder sonst was.

ML: Roland Barthes beschreibt für die Notiz ein Gefühl der Überrum­pelung und des Beuteglücks: »Der Impuls zur Notatio ist unvorhersehbar«, sagt er in »Die Vorbereitung des ­Romans«, und dass die Notiz ein »innerer Scoop« ist. Also nicht die große aktuelle Weltnachricht an alle, sondern der kleine Krakel für mich. Oft sind es ja die kleinen Eindrücke, die im Hintergrund des Bewusstseins vorüberschweben. Oder die im Augenwinkel aufzucken.

TP: Bei mir begann das mit der kurzen Form, als ich wie ein halbtoter Fisch dalag und das Zucken begann.

ML: Zucken auch, weil es immer schnell gehen muss. Es gibt Situationen, da prickelt ein panisches Ameisenlaufen über den Rücken. Nicht dass der Augenblick vorüber ist, bevor man ihn erfasst hat. Man zieht den Stift, »wie ein Gangster seinen Colt zieht«, formuliert Barthes etwas affig. Um gleich danach zu erklären: »Es geht nicht darum, etwas zu zeigen, sondern den Keim eines Satzes entstehen zu lassen.« Das ist die zentrale Sorge. Nicht, dass man etwas vergisst, sondern dass der Keim, dieser luftige Zusammensturz von Ereignis und Bewusstsein, zerfällt, bevor er verwirklicht wurde.

TP: Manche Empfindung oder Situation ist ja nach ein paar Minuten schon ins Reich des Vergessens entschwunden, für immer.

ML: Zurück bleibt oft bloß das ­Gefühl, etwas Besonderes verpasst zu haben. Dabei muss die Notiz ja gar nichts Besonderes erfassen. Keine Neuigkeit, Entdeckung, Verkündung. Stattdessen Gestromer und Geschwebe, Gespenstigkeiten. ­Gestern etwa, als gerade die coronabedingten Schließungen verkün­­-det worden waren und ich vorm Café Motte saß und meine Verluste ­überschlug, da blies der Wind dem heraustretenden Kellner den Cappuccino aus den Tassen. Und gleich: Notiz.

TP: Hast du dann dein Notizbuch auch in einer einzigen Bewegung aus der Tasche gezogen und genau an der richtigen Stelle aufgeschlagen, um sofort etwas zu notieren? Oder hast du es später notiert? Und hast du nur die Beobachtung notiert oder auch, was sie mit dir in diesem Moment gemacht hat, also dass du ein Verlust­gefühl hattest?

ML: Ich habe einen Satz auf einen Zettel geballert und dann den Qualm von der Stiftspitze geblasen. Reine Beobachtungsnotizen mache ich eigentlich nie. Ich will ja immer im Augenblick der Notiz die Möglichkeit eines Satzes prüfen. Sozusagen im Angesicht des Auslösers.

TP: Auslöser gibt’s ja genug. Ich stand vor ein paar Tagen in einer verkehrsberuhigten Straße und habe eine Zigarette geraucht. Wunderschöner, sonniger Tag. Keine Menschenseele nirgendwo. Dann ging eine Frau auf der anderen Straßenseite entlang, ganz dicht am Zaun, und als sie mich sah, drückte sie sich regelrecht in die Lücke zwischen zwei Latten, wie in Zeitlupe, was mich sehr bedrückt hat, und über mir ­dieser weite, offene Himmel. Was meinst du übrigens mit »Satz prüfen?« Ist es nicht so, dass da im ­Moment eine Verwandlung von Welt in Sprache stattfindet?

»Barthes sagt, das eigentliche Schreiben beginne erst mit dem Abschreiben. Eine Miniatur oder ein längeres Prosastück sei dann eine wuchernde Notiz. Wobei das im Prinzip auch für die Abschrift einer Notiz gilt. Da kommt es ja auch vor, dass ich den Kern einer Situation zwar festgehalten, die Beschreibung aber vermasselt habe. Und dann muss ich bei der Abschrift noch mal ran und das präzisieren.« Tobias Premper

ML: Mit Prüfen meine ich, dass ja längst nicht jede Notiz gelingt. Vieles, wenn nicht das meiste, ist Murks. Verwandeln, wie du sagst, scheint mir der ideale Begriff. Und so eine Verwandlung kann natürlich ge­nauso im Nachhinein geschehen. In jedem Fall braucht es ein emp­fänglich entkrampftes Bewusstsein. Eines, das zumindest zeitweise aus dem Tunnel der Ziele und Zwecke befreit ist.

TP: Man könnte denken, dass Notizen beiläufig entstehen, aber das stimmt nicht. Ich brauche Zeit dafür. Bleibe manchmal einfach stehen und schaue. Wenn ich durch den Alltag hetze, ist da oft gar nichts. Dann schreibe ich wochenlang nichts auf, das ist wie eine Dauerablenkung durch Jobs oder Organisationskram, ein riesiger Haufen, unter dem ich verschwinde.

ML: Ich wünsche mir immer, dass gerade in diesen Zeiten Notizen möglich bleiben. Lieber Notizen beim verschwitzten Alltagssprint als auf dem poetischen Sonnendeck. Der Augenblick der Notiz, glaube ich, braucht notwendig das Moment der Über­raschung oder Überrumpelung.

TP: Der Anrufung sogar.

ML: Oder der beiläufigen Anrufung. Denn wenn ich mit gezücktem Stift spazieren gehe, in der anderen Hand das aufgeschlagene Notizheft, oder wenn ich mit über dem Display kreisendem Zeigefinger im Café sitze, immerfort lauernd auf die vorüberschleichende Möglichkeit zur Notiz, werde ich sicher vieles notieren, aber das meiste wird …

TP: … Banane sein.

ML: Vielleicht entsteht die Notiz am ehesten mit einem immer wieder abschweifenden, immer wieder zurückgepfiffenen, dann neu davon­stromernden Bewusstsein.

TP: Ein Bewusstsein, das gleichzeitig müde, zerstreut, offen und total konzentriert ist, um dann einen Haufen Mauersteine mit einem einzigen Schlag zu spalten.

ML: Ein Bewusstsein zerstreuter Konzentration.

TP: Das mitschwingt in seinem eigenen Rhythmus. Das wachsam die Welt im Augenblick erlebt. Das sich mit dem Ort verbindet und dem ­Erlebten, dem Gedanken auch, eine Sprache verleiht.

ML: Der Übergang vom Gedanken zur Schrift ist schwer zu beschreiben, aber es findet dabei eine Verschärfung und Verwirrung statt, die das Schreiben so anstrengend macht. Und die vielleicht auch die Verführung zu naheliegenden Worten erklärt, die man sich schnappt, bevor die unbegreiflich brodelnde Welt sich weitergedreht hat.

TP: Noch nicht mal ein nahe­liegendes Wort, sondern oft sogar nur Floskeln. In Wahrheit ist das Sprachverweigerung, Denkverweigerung, Lebensverweigerung. Das ist die Diktatur der Sprachlosigkeit. Da können nur noch Zahlen aufgesagt und Hälse durchgeschnitten ­werden.

Tobias Premper, geboren 1974, legte nach seinen Aufzeichnungen »Das ist ­eigentlich alles« (2012) und dem Kurz­geschichtenband »Durch ­Bäume hindurch« (2013) mit »Erst einmal für ­immer« (2015) seinen ersten Roman vor. Seine Bücher erscheinen bei Steidl, so die Miniaturenbände »Mississippi Orangeneis Blues« (2016) und »Aber nur dieses eine Mal« (2020). Premper lebt in Hannover.

Bild:
Janko Woltersmann

ML: Oha.

TP: Was hältst du eigentlich von Notizen als subjektiver Weltchronik oder Mitschrift der laufenden Ereignisse?

ML: Weltchronik klingt nach einer Mitschrift der politischen Ereignisse.

TP: Als bestünde die Welt nur aus Politik. Ich mag die Idee der subjek­tiven Weltchronik, aber nicht den Anspruch, der damit verbunden ist, dass das Notierte etwas Allgemeingültiges abbildet, das alle etwas angeht oder für jeden von größtmöglicher Bedeutung ist. Das Notierte ist erst mal nur für mich und total lückenhaft. Es erzeugt meine eigene Realität, die nicht von anderen bestimmt ist durch deren Sprache.

ML: Meinst du ein allgemeines Gefühl der Informationsüberflutung? Gerade in diesen Seuchentagen gibt es ja eine regelrechte Sintflut an Informationen.

TP: Ich meine den Unterschied zwischen Mediensprache, Werbung oder Politiksprache und der Sprache eines Dichters, Schriftstellers, Autors. Der eine will immer etwas von mir, will mich von etwas überzeugen, will mir etwas verkaufen, eine Wahrheit womöglich, und der andere will gar nichts von mir, sondern bietet mir nur seine Sicht auf die laufenden Ereignisse an.

ML: Jetzt hast du den Autor oder die Autorin aber etwas schöngefärbt, oder? Alle Schreibenden wollen dich doch von etwas überzeugen, von ihrer Geschichte nämlich. Sie nehmen sich nur mehr Zeit.

TP: Ich will gar nichts vom Leser. Ich will ihm nichts vormachen. Ich will ihm nichts antun. Ich mache ihm lediglich ein Angebot, das er annehmen oder ablehnen kann.

ML: Aber du willst schon, dass der Leser dich liest, oder? Was die Mitschrift betrifft, so scheint die mir immer nur den buchhalterischen Aspekt von Notizen zu erfassen, das Verlangen, etwas festzuhalten. Ich merke aber, wie mich gerade die flüchtigsten Erlebnisse zur Notiz ziehen. Der Hauch der Tage. Wahrnehmungen, die verweht sind, fast bevor sie die Schwelle des Bewusstseins passieren. Die man nur dadurch erfasst, dass man mit ihnen zu schreiben versucht. Die am Ende, trotz ihrer Herkunft aus Hamsterradtagen, vorrangig in Sprache bestehen.

TP: Dieses Gefühl, man würde sich in Luft auflösen, wenn man nichts notiert.

ML: Was unterscheidet eigentlich die Notizen von den Miniaturen, also den kurzen Prosastücken? Die Zeitverhaftung?

TP: Folgt der Leser den Notizen über eine längere Strecke, wird ihm die Zeit bewusst, der Wechsel der Jahreszeiten, die Stimmungen, ob da einer nur in seinem Zimmer sitzt und denkt oder ob da einer unterwegs ist in den italienischen Hügeln. Dann fließt er mit der Zeit dahin, verliert sich in ihr. Miniaturen dagegen sind in sich geschlossener und durchkomponierter, nicht artifizieller, aber doch nicht so im Lauf der Zeit.

ML: Der Unterschied zwischen Notizen und Miniaturen wäre für dich also weniger der, dass Erstere persönlicher, vielleicht tagebuchhafter sind, sondern dass sie stärker miteinander verbunden sind, während Letztere auch für sich stehen können.

TP: Viele Notizen sind ja auch wie Miniaturen, können alleine stehen und mit dem Schwänzchen wackeln. Aber die Gesamtkomposition, also ein Buch mit Notizen oder Miniaturen, ist eine andere.

ML: Sind Miniaturen auch stärker abgelöst vom Moment des Notierens?

Martin Lechner, 1974 in Düsseldorf ­geboren, studierte Philosophie und Literaturwissenschaft an der Universität in ­Potsdam. 2006 war er Finalist beim Literaturwettbewerb Open Mike. Mit seinem ­Debütroman »Kleine Kassa« stand er 2014 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. 2016 erschien sein Erzählband »Nach fünfhundertzwanzig Weltmeertagen« im ­Residenz-Verlag. 2021 erscheint der gemeinsam mit Tobias Premper verfasste Minia­turenband »Hat sich Ihr Gesicht in der letzten Zeit merklich verändert?«

Bild:
Katja Boldt

TP: Beiden Formen geht ein Impuls voraus, ein besonderer Klickmoment, in dem ich denke: Das könnte eine Geschichte sein, die ich erzählen will. Und dieser Moment muss im Notizbuch, auf einem Zettel oder direkt im Computer festgehalten werden. Barthes sagt, das eigentliche Schreiben beginnt erst mit dem Abschreiben. Eine Miniatur oder ein längeres Prosastück sei dann eine wuchernde Notiz. Wobei das im Prinzip auch für die Abschrift einer ­Notiz gilt. Da kommt es ja auch vor, dass ich den Kern einer Situation zwar festgehalten, die Beschreibung aber vermasselt habe. Und dann muss ich bei der Abschrift noch mal ran und das präzisieren.

ML: Ich würde nicht sagen, dass das Schreiben erst mit dem Abschreiben beginnt. Sondern immer schon mit dem allerersten Buchstaben. Natürlich dehnt sich das Schreiben über die verschiedenen Überarbeitungsphasen aus. Jeder Text ist ja ein unendlich expandierendes Universum, das bei jedem Pieks wie ein Luftballon zerplatzen kann. Deswegen finde ich Anfänge so interessant. Wenn ich von der Wahrnehmung, dem Gedanken, der Lektüre hinüberzugehen versuche in einen ersten Satz. Ist es dir eigentlich wichtig, dass sich dieser Moment in den Notizen niederschlägt, dürfen all die krummen und dummen Formulierungen überleben?

TP: … wenn der Schwung des Erlebens heftiger war als das Sprach­vermögen in dem Moment? Ja, sie dürfen, aber nur, wenn das Notierte besonders schön doof war.

ML: Befällt dich auch manchmal so eine Notizenmüdigkeit? Das sind ja Zustände unbegreiflichen Unglücks. Als würden die Knochen zu Gummi. Ohne Notizen geht es nicht. Und doch geht es manchmal auch nicht mit Notizen. Dann rauschen die Tage hilflos dahin.

TP: Klar gibt es Wochen ohne eine einzige Notiz, in denen ich mich wie ein Fremder fühle. Letztlich ist das Notizbuch wie ein Ausweis. Da steht drin, wer du bist. Manchmal fällst du in ein Loch und kommst nicht mehr raus. Und manchmal bist du voller Licht.

ML: Das klingt nach einer schönen Notiz.