Nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd erschüttern Unruhen die USA

Die Sprache derer, die nicht gehört werden

Nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd werden die Vereinigten Staaten von ausgedehnten »riots« erschüttert.

Es sind die schwersten Unruhen in den Vereinigten Staaten seit 1968. Am Wochenende kam es in US-amerikanischen Großstädten erneut zu heftigen Protesten wegen des Todes von George Floyd. In zahllosen Städte, beispielsweise Minneapolis, Washington, Miami, Detroit, Chicago, New York und Los Angeles, fanden riots statt, es gab Verletzte und erhebliche Sachschäden. CNN zufolge verhängten mindestens 40 Städte nächtliche Ausgangssperren, mindestens 15 der 50 Bundesstaaten mobilisierten demnach die Nationalgarde.

In den Tagen zuvor waren die Demonstrationen noch friedlich verlaufen. Tausende marschierten wegen des gewaltsamen Todes von George Floyd, einem unbescholtenen Bürger und Vater zweier Töchter. Am Abend des 25. Mai hatte eine Polizeistreife auf den Hinweis reagiert, Floyd habe versucht, in einem Laden mit Falschgeld zu bezahlen. Einer der Beamten, der 44jährige Derek Michael Chauvin, gegen den bereits 18 offiziell eingereichte Beschwerden vorlagen, drückte Floyd zu Boden und stemmte mehr als acht Minuten lang sein Knie gegen dessen Genick. Eine Handykamera filmte das Geschehen. Es ist zu sehen, wie Floyd um sein Leben fleht. »Ich kann nicht atmen«, sagt er mehrmals, doch vergeblich. Ein Krankenwagen brachte den reglosen Mann ins nahegelegene Hennepin County Medical Center, wo er für tot erklärt wurde.

Erstmals seit 1992 sind in der Innenstadt von Los Angeles wieder Panzerfahrzeuge und Soldaten zu sehen. Die schrillen Sirenen und lauten Rufe in der Nacht sind bis in die frühen Morgenstunden zu hören.

Floyd war 46 Jahre alt. Er war Afroamerikaner, Chauvin ist Weißer. Die Tötung Floyds war der neueste Gewaltakt auf einer langen, unrühmlichen Liste von Übergriffen. »Es ist eine Liste, die mehr als 400 Jahre zurückgeht«, sagte der demokratische Präsidentschaftskandidat Joe Biden bei einer Videoansprache am 29. Mai. »Schwarze Männer, Frauen, Kinder – die Ursünde dieses Landes beschmutzt unsere Nation noch heute.« Jene »Ursünde«, die systematische Diskriminierung von Afroamerikanern, nahm 1619 ihren Anfang, als die ersten afrikanischen Sklaven nordamerikanischen Boden betraten. Mit dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs 1865 endete die Sklaverei, doch im selben Jahr wurde auch der Ku-Klux-Klan gegründet. Vom Ende des Bürgerkriegs bis 1950 wurden in den USA über 4 000 Lynchmorde dokumentiert. In den sechziger Jahren kam es dank der Bürgerrechtsbewegung zu wichtigen Reformen wie dem Civil Rights Act von 1964, doch auch heute noch leidet die schwarze Minderheit unter behördlicher Willkür, weil die Machtstrukturen von der weißen Mehrheitsgesellschaft geprägt sind. Besonders gilt dies für die Polizei. Berüchtigt war beispielsweise Daryl Gates, von 1978 bis 1992 Polizeichef von Los Angeles. 1982 sagte er in einem Interview, dass Afroamerikaner vor allem deshalb im Würgegriff von Polizeibeamten ums Leben kämen, weil ihr Körperbau »anders« sei als bei »normalen Menschen«. Es waren Gates und sein Amtsvorgänger William Parker, die das Los Angeles Police Department stark militarisierten und die Polizei mit Panzerfahrzeugen und Helikoptern in beziehungsweise über der Stadt patrouillieren ließen. Parker und Gates schufen ein Modell, dem fast alle US-amerikanischen Großstädte bis heute folgen.

1991 verprügelten im kalifornischen Simi Valley vier Polizeibeamte den schwarzen Bauarbeiter Rodney King mit Schlagstöcken, sie wurden im folgenden Jahr von einem Geschworenengericht freigesprochen. Auch der Angriff auf King war auf Video festgehalten worden. Die Diskrepanz zwischen dem Freispruch und der Brutalität der Tat – 33 Schläge und sieben Tritte – war klar erkennbar. So kam es nach dem Freispruch in Los Angeles zu den schwersten Unruhen in der Geschichte der Stadt, über 60 Menschen kamen zu Tode. In den Folgejahren kam es zu einer weitreichenden Polizeireform, heutzutage untersteht die Polizei von Los Angeles einer zivilen Aufsichtskommission.

Doch viele der Probleme bestehen weiterhin, auch in anderen Städten. 2014 wurde in New York City der 43jährige, asthmakranke Eric Garner von einem Beamten des New York Police Department erwürgt; die Anwendung des Würgegriffs war im Vorjahr verboten worden. Vor seinem Tod sagte auch Garner: »Ich kann nicht atmen.« Das zuständige Gericht beschloss, keine Anklage zu erheben; 2019 wurde der betreffende Beamte allerdings aus dem Polizeidienst entlassen. Bei einer Verkehrskontrolle außerhalb von Minneapolis erschoss 2016 ein Polizist den 32jährige Philando Castile vor den Augen seiner Freundin Diamond Reynolds und deren vierjähriger Tochter. Reynolds filmte die Sekunden nach der Tat mit ihrem Handy und veröffentlichte das Video auf sozialen Medien, doch der Täter wurde später freigesprochen. Dass solch schwere polizeiliche Übergriffen seit der Prügelattacke auf Rodney King 1991 so viel Protest nach sich ziehen, liegt auch an der wachsenden Verbreitung von Videotechnik. Damals war die Aufnahme eines Amateurfilmers im Fernsehen zu sehen gewesen, mittlerweile schaffen die Allgegenwart von Handykameras und die Verbreitung von Aufnahmen im Internet eine neue Art von Transparenz – zumindest geschehen viele dieser ­Taten also nicht mehr unbemerkt von der Öffentlichkeit.

Es gibt auch Bemühungen, belastbare Statistiken zu erstellen. Die Ergebnisse sind erschreckend: Afroamerikaner werden im Durchschnitt 2,5 Mal häufiger von der Polizei getötet als Weiße, wie aus einer gemeinsamen Studie der Rutgers University, der Washington University, der University of Michigan und des St. Louis Department of Sociology hervorging. Die konservative Zeitschrift National Review berichtete am 31. Mai, dass sich vor allem Polizeigewerkschaften gegen jede Form von Transparenz sträubten. So unterliegen beispielsweise die bereits erwähnten 18 Beschwerden, die gegen Derek Chauvin vorliegen, einer Vertraulichkeitsvereinbarung, die die Polizei von Minneapolis mit der zuständigen Gewerkschaft getroffen hat.

Nur wenige Fälle polizeilicher Gewalt kommen tatsächlich vor Gericht, und selbst dann ist es schwierig, eine strafrechtliche Verurteilung zu erwirken, wie die Nachrichtenagentur Reuters am 8. Mai berichtete. Die Gerichte müssen in solchen Fällen die Frage stellen, ob die Beamten bei ihrer Gewaltanwendung wissentlich und vorsätzlich gegen den vierten Zusatzartikel der Verfassung verstoßen haben, der die Bürger vor staatlichen Übergriffen schützt. Falls das Gericht das verneint, erhalten die angeklagten Beamten automatisch eine »eingeschränkte Immunität«, die sie vor weiteren Klagen schützt. Seit der Grundsatz der eingeschränkten Immunität 1967 erstmals rechtskräftig angewandt wurde, hat er Tausende Beamte vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt. Kein Wunder, dass die Anzahl tödlicher Übergriffe durch Polizisten immer weiter zu steigen scheint. Dem Online-Projekt »Fatal Encounters« des Journalisten D. Brian Burghart zufolge, der Zwischenfälle dieser Art seit 2000 akribisch katalogisiert, droht das Jahr 2020 in Hinblick auf tödliche Polizeigewalt das blutigste seit Beginn der Dokumentation zu werden; bis zum 1. Juni wurden 819 polizeiliche Tötungen registriert. Das Vertrauen in den Rechtsstaat ist erschüttert. »Ich möchte endlich Taten sehen«, sagte Tera Brown, die Cousine von George Floyd, der New York Times. »Das war eindeutig Mord.«

Als die Staatsanwaltschaft in Minneapolis am Donnerstag voriger Woche bekanntgab, gegen Chauvin keine Anklage zu erheben, entlud sich die geballte Wut. In Minneapolis stürmten Protestierende ein zuvor evakuiertes Polizeirevier und brannten es nieder. Am Freitag wurde Chauvin zwar doch noch verhaftet, die Unruhen waren aber nicht mehr aufzuhalten. Zahllose Demonstranten strömten durch die Großstädte der Vereinigten Staaten. Im Lafayette Square, einem Park in Washington, D.C., kam es wiederholt zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Das Weiße Haus, das sich direkt neben dem Park befindet, unterliegt einer Absperrung. Als Protestierende sich Freitagabend vor dem Weißen Haus sammelten, brachten Geheimdienstmitarbeiter Präsident Donald Trump in den unterirdischen Bunker, der zuletzt bei den Terrorangriffen vom 11. September 2001 genutzt worden war. Von dort twitterte er eifrig.

Auch in anderen Städten herrscht der Ausnahmezustand. In Los Angeles wurde eine Ausgangssperre verhängt, Bürgermeister Eric Garcetti hat am Samstag den Einsatz der Nationalgarde autorisiert. Erstmals seit 1992 sind in der Innenstadt wieder militärische Panzerfahrzeuge und Soldaten zu sehen, die in den Straßen patrouillieren. Die schrillen Sirenen und lauten Rufe der Nacht sind bis in die frühen Morgenstunden zu hören. Eine Apple-Filiale wurde geplündert. Den teuren Rodeo Drive in Beverly Hills schützt eine Polizeiabsperrung. Der Schlachtruf der Demonstranten ist: »Ich kann nicht atmen.«

In der US-amerikanischen Linken ist eine heftige Debatte darüber entbrannt, inwieweit solche riots politisch sinnvoll sind. »Amerika muss erkennen, dass solche Unruhen nicht aus dem Nichts entstehen«, sagte der Bürgerrechtler Martin Luther King Jr. in einer Rede im April 1967. »In unserer Gesellschaft gibt es weiterhin Bedingungen, die ebenso energisch verurteilt werden sollten wie die Unruhen. Letztlich ist ein Aufstand die Sprache derer, die nicht gehört wurden.«