Ob die Pandemie den ökologischen Zustand des Mittelmeers verbessert, ist umstritten

Unter dem Plastik liegt der Strand

Die Covid-19-Pandemie verschafft der Natur vielerorts eine Verschnauf­pause. Doch der ökologische Zustand des Mittelmeers lässt sich ohne Umweltschutz nicht dauerhaft verbessern. Die spanische Regierung will nun den Gebrauch von Einwegplastik einschränken.
Von

Schwärme von Delphinen näherten sich den Küsten und schwammen durch die Kanäle Venedigs. Riesenhaie von über acht Metern Länge labten sich an der Planktonblüte vor der andalusischen Mittelmeerküste bei Motril. Den für Menschen ungefährlichen ­Giganten aus dem Atlantik waren Finnwale und Pottwale durch die Straße von Gibraltar gefolgt. So eindrucksvoll die Bilder und Videos auch sind, Meeresbiologen und Meeresschutz-NGOs wie Oceana erachten die jetzige Auszeit für die Meere als viel zu kurz.

Seit über 40 Jahren erforscht der spanische Meereszoologe Luís Sánchez ­Tocino von der Universität Granada die Küsten des Mittelmeeres, mit besonderem Augenmerk auf dessen westlichen Teil, das Alborán-Meer, und speziell die Schutzgebiete der Costa Tropical in der andalusischen Provinz Granada. Nach der Lockerung der Ausgangssperren Ende Mai konnten er und sein Team erstmals wieder im Meer tauchen. Veränderungen habe er dabei nicht wahrnehmen können, sagte er der Jungle World: »Zwei bis drei Monate lockdown sind sehr wenig Zeit. Und die ­Fischer haben ihre Arbeit ja fortgesetzt.« Der Meeresforscher berichtet, dass die Schleppnetzfischerei und auch die Netzfischerei nur leicht zurückgegangen seien. Die Sportfischerei sei zwar, wie die Jagd, bis Ende Mai verboten ­gewesen, aber die Fischwilderei sei weiterhin ein Problem gewesen. Der Meeresbiologe geht davon aus, dass die Wilderei in den Naturschutzgebieten der Meere mit der Wirtschaftskrise und dem Einsetzen des Tourismus wieder deutlich häufiger vorkommen werde, wie es schon in der Finanzkrise ab 2008 war. Die Hauptkunden der Wildfischer seien die an den Küsten gelegenen Hotels, Strandrestaurants, die ­chiringuito genannten Imbissbuden und Tapas-Bars: »Es ist eine wichtige Einnahmequelle, und die Kontrollen an der Costa Tropical sind einfach zu lax.« Ohne strengere Kontrollen sei die Einrichtung der zahlreichen ­Reservate nur eine Geste.

Wenn die Ausgangssperren und Reiseverbote aufgehoben werden, gebe es die einmalige Chance, eine »nachhaltigere Normalität« zu schaffen, meint Pascale Moehrle von der NGO Oceana.

Den derzeitigen Zustand der Küstengewässer erläutert Sánchez Tocino mit einem Beispiel: »Normalerweise müssten wir bei den Tauchgängen ­viele Dunkle Riesenzackenbarsche sehen, doch hier um Maro (ein Dorf an der Costa Tropical, Anm. d. Red.) haben wir das letzte Mal nur zwei kleine ­Exemplare gesehen.« Es sei die Summe aller negativen Einflüsse, die die Meere zum Kollaps bringe: Überfischung, Tourismus sowie Verschmutzung, vor allem durch nicht oder unzureichend geklärte Abwässer, die schlechte Kläranlagen und Containerschiffe, Tanker und Kreuzfahrtschiffe ins Meer ließen. »Seegräser wie die Zostera marina verschwinden oft zuerst, und mit ihnen kippt ein ganzer Lebensraum und das Ökosystem.« Die Schwammart Ircinia fasciculata war »binnen einer Woche aus dem Küstenabschnitt komplett verschwunden«. Dies ist ein Beleg dafür, wie schnell der Artenschwund vor sich gehen kann. Schwämme sind ein wesentlicher Teil von marinen Ökosystemen und reagieren sensibel auf Verschmutzung und erhöhte Wassertemperaturen. Sie sind bei der Riffbildung beteiligt, bieten Lebensraum für die Larven von Jungfischen und leisten einen Beitrag zur Reinigung der Meere.
»Glücklicherweise sind invasive Neophyten, also in das Gebiet eingeschleppte Arten, noch ein geringes Problem«, so Sánchez Tocino. »Gefährlicher wäre es, wenn invasive Algen wie die Rugulopteryx okamurae aus dem Pazifik in das Mittelmeer ein­wandern würden.« An der Straße von Gibraltar haben sie sich bereits angesiedelt und breiten sich von dort weiter aus.

Dass vermehrte große Riesenhaie und Wale gesichtet wurden, führt der Meeresbiologe nicht auf das Ausbleiben der Schifffahrt und des Tourismus zurück, sondern vielmehr auf eine von ihm dokumentierte Planktonblüte. Das konnte er anhand von Wasserproben belegen, die eine sehr hohe Konzentration von Ruderfußkrebsen aufwiesen, eine Nahrungsquelle für die großen Meerestiere. »Im Naturschutzgebiet der Straße von Gibraltar gibt es eine Population von Pottwalen, Grindwalen, Delphinen und Orcas, die auch durch den regen Container- und Tankerverkehr nicht abgeschreckt werden«, sagt Sánchez ­Tocino.

Der Meeresbiologe ist pessimistisch: Es dauere mehrere Dekaden, bis sich Bestände erholen, dafür sei die kurze Phase des spanischen lockdown völlig ungenügend. Zudem befürchtet er, dass für die Wiederbelebung der Ökonomie auch Gelder verwendet würden, die ­eigentlich für den Umwelt- und Meeresschutz gebraucht würden.

Auch die Geschäftsführerin der Meeresschutz-NGO Oceana, Pascale Moehrle, ist skeptisch. Sie befürchtet, dass »die geringen, kurzzeitigen Positiv­effekte« der pandemiebedingten Pause nicht lange vorhalten. Wenn die Ausgangssperren und Reiseverbote aufgehoben würden und Unternehmen mit Staatshilfen den Betrieb wiederaufnehmen, habe man aber auch die einmalige Chance, eine »nachhaltigere Normalität« zu schaffen. Sie fordert, man müsse die Art und Weise, »wie wir mit den Meeren interagieren, völlig ändern.«

»Spanien ist das Land der EU, das am meisten Plastikmüll ins Meer wirft«, sagt Natividad Sánchez, die Leiterin der europäischen Antiplastikkampagne von Oceana, im Gespräch mit der Jungle World. Die Auswirkungen der Pandemie beurteilt sie sogar negativ: »Mit der Pandemie gelangen nun zusätzlich chirurgische Schutzmasken und Handschuhe in die Meere. Jene Produkte, die man maximal ein paar Stunden nutzt, verschmutzen dann über viele Jahre marine Lebensräume.« Man dürfe die Ausnahmesituation der Pandemie nicht als Ausrede verwenden, den Kampf gegen Plastikmüll und Einwegplastik zu unterbrechen, fordert Sánchez und gibt zu, dass die Menschen zuletzt manches vermisst hätten: »Frische Luft und die Natur in vollen Zügen zu genießen. Aber Einwegplastik hat uns in der Quarantäne nicht gefehlt«, fährt Sánchez fort. »Plastik hat in der Natur nichts verloren.«

Die spanische Minderheitsregierung aus Sozialdemokraten und Linkspopulisten hat in der vergangenen Woche im Parlament ein Gesetz eingebracht, das Einwegflaschen und Verpackungsmaterial aus Plastik mit einer Steuer belegt, die über 750 Millionen Euro pro Jahr einbringen und für den Umweltschutz verwendet werden soll. Ab Juli kommenden Jahres soll es keine Trinkhalme sowie kein Geschirr und Besteck aus Plastik mehr geben. Welche Auswirkungen die wegen der Pandemie erhöhten Mengen an Handdesinfektionsmitteln, Bleiche und ähnlichen Substanzen auf die Gewässer haben, werde sich zeigen. Gutes verheiße der gestiegene Verbrauch jedenfalls nicht, ist man bei Oceana überzeugt.

Das Ausbleiben von Touristen hat für die Küstenlandstriche als Lebensräume von Tieren und Pflanzen aber eine sichtbar positive Wirkung. So haben sich die einzigartigen Sanddünen von Maspalomas auf Gran Canaria rasant erholt. Der Biologe Miguel Ángel Peña wacht für die Regionalregierung über das Naturschutzgebiet und sagte spanischen Medien, »dass die Dünenlandschaft sich nach nur zwei Monaten ohne menschliche Fußabdrücke schöner präsentiert als vor einem halben Jahrhundert«. In Zukunft sollen der Zugang streng reglementiert und unerlaubtes Betreten härter bestraft werden.