In der Pandemie gilt die Sexualität wieder als anrüchig

Liebe in Zeiten der Pandemie

Wenn der Mindestabstand nicht mit dem Begehren vereinbar ist und körperlicher Kontakt nur im eigenen Haushalt stattfinden darf, wird Sexualität wieder anrüchig. In der Coronakrise hat sich die gesellschaftliche Kontrolle über die Sexualität verstärkt.

I
Wer von Liebe spricht, der träumt. Wer von Sexualität spricht, der lügt. Aber natürlich haben der Traum und die Lüge ihre ganz eigenen Wahrheiten. Im Traum verborgen sind die Wünsche und die Furcht; in der Lüge die Energien, die man altmodisch Begehren und noch altmodischer Natur nennt. Sexualität, das ist deprimierend und erhebend zugleich, ist nicht nur, was man haben kann, sondern sie ist auch, was man ist.

Es handelt sich also nicht wie beim Essen von Sachertorten oder dem ­Lesen von Sonetten um ein Vergnügen, auf das man, wenn es sein muss, verzichten kann, nicht um einen Luxus (auch wenn uns möglicherweise An­gehörige anderer Zeiten und anderer Kulturen entweder um die »Freizügigkeit« dabei beneiden oder sie als verderblich ansehen müssten), sondern auch um Fragen der Identität und um Fragen der Gesellschaft. Was das Subjekt ist, das ergibt sich so sehr aus der Sexualität, wie umgekehrt Sexualität nur Ausdruck des Subjekts sein kann. Die soziale Energie, der Karrierefleiß und der Freizeitrausch, das vernetzte Einverstanden- und das nicht weniger vernetzte Dagegensein, all das speist sich auch aus der sexuellen Energie. Eine erzwungene »Desexualisierung« der Gesellschaft hat demnach Folgen auch an Orten, wo man es nicht vermuten würde.

 Die schärfste Waffe des Virus ist das »liebevolle Beieinander« seiner Wirte

Aber auch Nichtsexualität und Antisexualität sind sexuell. Man kann Sexualität nicht unterdrücken, man kann sie nur transformieren: auf der Ebene der Biographien, wo man das, was die Comicfigur Fritz the Cat einst den »günstigen Fick« nannte, aus unterschiedlichen Gründen nutzen oder darauf verzichten kann; auf der Ebene der Kultur, wo das Sprechen von Sexualität und das Sprechen über Sexualität einem Ausgleich der Energien, der Erhöhung des recht trivialen Geschehens durch Bewusstsein und Ästhetik dient; und auf der Ebene der Machtstrukturen, die, nach unserem derzeitigen Verständnis – oder dem Verständnis, das gerade in Frage gestellt ist – möglichst wenig und wenn, dann eher als Schutz der Schwächeren denn als Normierungsdruck, im Namen kontrollierter Vielfalt eher als in dem des Mainstream-Gebots, in die subjektive Realisierung von Sexualität eingreifen soll. Aber war die Forderung, dass der Staat sich aus unseren Betten heraushalten solle, überhaupt je erfüllt? Oder sind bloß Finanz- und Arbeitsämter an die ­Stelle der Inquisitionen und Sittenwächter getreten?

Was also ist Sexualität? Eine natürliche Notwendigkeit? Ein Grundrecht? Eine subjektive Entfaltungsmöglichkeit? Eine kollektive Verhandlung? Immer etwas anderes, je nachdem, von welcher Seite sie gerade gesehen wird. Sie ­basiert auf drei grundlegenden Diskursen: die Ordnung der Geschlechter (sexuelle Identitäten im Verhältnis zueinander, Verteilung der Rechte und Pflichten, Hegemoniale Ästhetiken, Familienaufstellungen und vieles mehr). Die Sprache des Begehrens. (Wie wird Sexualität abgebildet, inszeniert, ausgedrückt und besprochen? Welche ­Riten, welche Moden, welche »Erscheinungen« werden gewählt?) Das Gebo­tene, das Erlaubte und das Verbotene. (Was ist ein Verbrechen, was ist gefährlich und was nicht erwünscht? Wo verlaufen die Grenzen des Normalen, Gesunden, Sozialen, Konstruktiven und Friedvollen?) Und schon gelangen wir von einer eher dubiosen »Ganzheit« zu ziemlich präzisen Fragen: Was macht die Pandemie mit der Ordnung der Geschlechter? Mit der Kultur der Erotik? Mit der Struktur der Riten und Tabus?

II
Irgendwie sollte Sexualität gerade nicht das Thema sein, oder? Es geht schließlich ums Überleben, um die Organisation der Abwehr, um die Aufrechterhaltung von Staat und Ökonomie. Um vernünftiges Verhalten. Sexualität entspricht nicht dem Ernst der Lage und wird daher in den Bereich des Unvernünftigen, Barbarischen, Störenden verbannt. Aber sie verschwindet deswegen nicht. Wohin damit in Zeiten der Pandemie? Wie lebt man, wenn man dem Trieb keine Abfuhr ermöglichen kann? Das Träumen fällt schwerer als gewohnt in der viralen Krisenzeit, und die Lügen haben besonders kurze Beine. Denn das Sein und das Haben von ­Sexualität sind nun so radikal voneinander getrennt, dass man es weder in Bildern noch in Erzählungen wieder zusammenbringt. Es wird ein Fehlendes, Reduziertes, Konzentriertes, und das heißt auch, etwas Unheimliches, Gespenstisches, Fremdes.

Das beginnt schon, wie übrigens in vielen Seuchenerzählungen in der ­Kulturgeschichte, mit einem Ort der höllisch entgrenzten Lust. Ischgl, wenn nicht seuchenmedizinisch überführt, so doch medial als europäischer Superspreader erkannt, ist so ein Ort, wo der Après-Ski-Sex zum Paradox eines Massenluxus wird. Wo Sexualität, ganz im Sinn des Kulturmythos, vollkommen auf Bewusstsein und Ästhetik verzichtet. An ihre Stelle treten Suff und Geld. Seit Sodom und Gomorrha sind solche Höllenorte der Lust als plot points der Religions- und Sittengeschichten bekannt. Da zumindest ist, ohne dass man darüber sprechen muss, die Folge mit der Ursache kurzgeschlossen: Krankheit als Strafe. ­Infektion als Veröffentlichung der nicht mehr privaten Laster.

Warum gibt es eine Pandemie; warum gibt es ein neuartiges Virus? Jenseits der Verschwörungsphantasmen (die wir im Übrigen auch als Traum und Lüge im Stadium heilloser Erkrankung interpretieren können) haben sich drei große Erzählungen etabliert: Die Seuche als Strafe für die Globalisierung, durch den beschleunigten Personen- und Warenverkehr breitet sie sich in Windeseile aus. Die Seuche als Strafe für die ökologischen Sünden, ein Vor­bote der kommenden Klimakatastrophe, hervorgerufen unter anderem durch ein von Kapital und Politik erzwungenes Ineinander von Natur und Kultur, ein »perverses« Verhalten von Mensch und Tier. Die dritte Erzählung schließlich maskiert sich noch (jenseits der Verschwörungsphantasmen): Die Seuche ist Strafe für »verantwortungslose« Sexualität. Nun jedenfalls bricht sie, kaum unter Kontrolle, überall dort wieder aus, wo gefeiert wird, wo Nähe zelebriert wird, wo es Gemeinschaft und Flüssigkeit gibt.

Und dann auch das noch in den Nachrichten: »Das neuartige Corona­virus wurde in Sperma nachgewiesen – man kann aber noch nicht sicher einschätzen, ob es auch über Sperma zu einer Ansteckung kommt.« Auffallend stark jedenfalls und mit bizarr vagem Material zu belegen ist ein mediales Interesse an »häuslicher Gewalt«. Als wartete man nur auf eine Implosion der familiären Ordnungen. Auffallend auch der sexuelle Unterton der Denunziationen (die Soziophilen, die um ­jeden Preis zurückwollen auf die Partys, in die Bordelle, in die Ischgl-Lusthöllenwelt; die Ghettos und Favelas als Seuchenherde, von denen man ja weiß, wie es da zugeht; Nähe als Aggression). Auffallend auch eine pädagogisch-technische Sprachregelung: Sexualität wird auf diese Weise wieder »peinlich«, das Sprechen darüber wieder verräterisch. Die Unmöglichkeit der ­Versöhnung von Liebe und Sexualität in Seuchenzeiten (im Gefängnis der Angst verliert auch die größte Liebe ihren Glanz) führt zu Sprachregelungen und Sprachlosigkeit.

Man läuft Gefahr, die Sprache der Liebe und Sexualität zu verlieren, weil sie von nichts mehr kommen und zu nichts mehr führen kann. Unter den Bedingungen der Seuche ist die sexuelle Rebellion nicht mehr gegen eine unterdrückende Autorität oder einen unterdrückenden Code oder auch gegen einen unterdrückenden Diskurs zu richten. Die Liebe selbst ist zu der Zerstörungsmacht geworden, vor der sie uns bewahren sollte. Die schärfste Waffe des Virus ist das »liebevolle Beieinander« seiner Wirte.

III
Corona ist keine neue »Lustseuche« (so wurde anfangs Aids bezeichnet). Sie verlangt umfassend den Verzicht auf Berührung, Nähe, Verschmelzung, Verflüssigung. Und steigert das alles zugleich in isolierten Beziehungen und Verhältnissen. In Ermangelung von Fakten formen sich nach und nach die ­soziologischen und psychologischen Fragen zum Thema Sexualität und Pandemie:

  • Wie verhält es sich mit der Geburtenrate? Werden wir einen Boom der ­Coronakinder erleben oder eine demographische Lücke?
  • Werden Pornoseiten im Internet häufiger oder weniger häufig besucht?
  • Wie vergleicht man Daten über sexuelle Gewalt und übergriffiges Verhalten?
  • Wie verändern sich Angststörungen und Depressionen in der (sexuellen) Isolation?
  • Was geschieht in den sexuellen Subkulturen, denen die kulturellen Zentren genommen wurden?
  • Können wir Sexarbeiter so solidarisch wie andere Dienstleister aus öffentlichen Geldern für entgangene Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten entschädigen, oder wäre dazu ein bürokratischer Eingriff notwendig, der ­erneut das Kontrollierte aus seinen gesellschaftlichen Beziehungen heraus­präpariert?

Was die Ordnung der Geschlechter anbelangt: Sind die Lasten der Krise gerecht verteilt? Oder verstärkt sich vielmehr die Ungleichheit, nicht nur der Klassen und der Generationen, so dass – wieder einmal – Frauen mehr abverlangt und weniger gelohnt wird? Was die Sprache des Begehrens anbelangt: Muss nicht bereits das Verlangen überwacht und unterbunden werden, wenn es doch als Praxis bereits in den Rang eines Verbrechens erhoben sein muss? Muss also der Staat nicht nur Sexualität, sondern auch die Sprache der Sexualität strenger überwachen, wie er ja auch andere Vorbereitungen zum Verstoß gegen das Abstandsgebot überwachen muss, wenn man ihn als Krisenmanager ernst nehmen will? So ist also, was Gebot und Tabu anbelangt, die Krise eine Frage nach Freiheit und Kontrolle. Wie bei anderen Einschränkungen auch geht es dabei nicht zuletzt darum, was bei einer »Rückkehr zur Normalität« zu erwarten ist. Denn in der Krise mussten ja neue Kontroll- und Zugriffsinstanzen gebildet werden. Alles, was schließlich Schritt um Schritt »wieder erlaubt« sein wird, steht unter einer neuen Form der ­Beobachtung.

In Zeiten der Pandemie muss man sich für Sex eigentlich wieder schämen, wenn auch aus anderen Gründen als einst.

Es wird ein wenig unheimlich, da sich die Sprache nun auffällig pädagogisiert oder ethnologisiert. Der sexu­elle Mensch, die Sprache des Begehrens und die Ordnung der Geschlechter werden einem irgendwie fremd. In Zeiten der Pandemie muss man sich für Sex eigentlich wieder schämen, wenn auch aus anderen Gründen als einst. Zugleich aber ist eine Welt ohne Sex ­eigentlich nicht vorstellbar. Und so verhält es sich mit der Sexualität wie mit anderen Beziehungen und Kulturen. Man sucht nicht mehr nach dem utopischen Gehalt, nach Erfahrung und ­Erkenntnis, man sucht nur nach einem Ausweg. Der Mensch wird sich selbst zum Studienobjekt, fragt nach seiner Bonobohaftigkeit (zivile Gesellschaft als Sexgemeinschaft), nach einem Management der Lust.

Auf der Internetseite liebesleben.de heißt es dazu: »Gerade für Singles oder Menschen mit wechselnden (Sex-)Partnerinnen und (Sex-)Partnern bedeutet Corona oft einen größeren Einschnitt in ihr Liebesleben. Da man persönliche Treffen stark einschränken und möglichst vermeiden sollte, heißt das auch, dass man Sex mit anderen Menschen vermeiden sollte. Man kann sich in dieser Zeit jedoch auch auf sich und seine eigene Sexualität fokussieren. Denn auch ›Sex mit sich selbst‹ kann spannend, lustvoll und reizvoll sein. Du kannst deinen Körper entdecken und herausfinden, was dir wie am besten gefällt, ob du beispielsweise Sextoys magst oder nicht. Und es besteht bei Selbstbefriedigung kein Risiko für eine Infektion mit dem neuartigen Coronavirus!«

Es wird dann schon merkwürdig kalt, wie etwa auf der Seite des ARD-Magazins »Brisant«: »Zumindest für Menschen in Bayern, im Saarland und in Sachsen ist jetzt Askese angesagt. Denn hier darf sich mit gar keinen Personen getroffen werden, die nicht zur Familie gehören und in einem anderen Haushalt leben. Doch auch die Bewohner aller anderen Bundesländer sollten sich ­zügeln.« Denn, so gibt »Brisant« Empfehlungen der Gesundheitsbehörde von New York City wieder, es »sollte Sex mit Personen, die nicht zum eigenen Haushalt gehören, vermieden werden. Will einem das so gar nicht gelingen, sollte man wenigstens so wenige Partner wie möglich haben und auf Sex mit Infizierten oder Menschen, die Symptome zeigen, verzichten. Nicht einmal Küssen ist erlaubt, denn beim direkten Tröpfchenaustausch überträgt sich das Coronavirus in Windeseile.«

Damit etwas kontrolliert werden kann, muss es technisch, abstrakt und fremd werden. Quantifizierter und grammatisch. Corona-Sexualität und Post-Corona-Sexualität ist notwendigerweise kontrollierte und technifizierte Sexualität. Gefordert ist Selbstkontrolle (einschließlich einer Form der freiwilligen Quarantäne nach einem Sündenfall), medizinisch-wissenschaftliche Kontrolle (ein beständiges Justieren der Regeln und Risiken), eine staatlich-polizeiliche Kontrolle (die Sicherung der »heißen« Orte, die Überwachung eines Marktes), eine gesellschaftliche Kontrolle (dies »tut man nicht« und jenes nur unter Vorbehalt), eine seman­tische Kontrolle (wir sprechen für- und vorsorglich, nicht wild), eine statistische Kontrolle (da man die sexuelle Wirklichkeit schlecht zählen kann, zählt man direkte und indirekte Folgen), am Ende aber und vor allem: die ökonomische Kontrolle. Die Produktion und der Markt brauchen die sexuelle Energie, um sie in Profit und Wachstum zu verwandeln. Bewusstsein und Ästhetik müssen demnach wieder ausgetrieben werden. Ökonomische Kontrolle setzt eine Kompatibilität von Sexualität und Ware voraus. Sexualität muss als Produktivkraft wieder hochgefahren werden. Sie soll wieder als Belohnung für politische Abstinenz Bestandteil der gewährten subjektiven Freiheit sein. Wir dürfen wieder, aber eben kontrolliert, Schritt für Schritt …

IV
Krisen sind unter anderem dazu da, Verhältnisse sichtbar zu machen. Hier konnte der Transformationsprozessen zwischen Biographien, Kulturen und politisch-ökonomischen Strukturen bei der Behandlung von Liebe und Sexualität betrachtet werden. Rückkehr zur Normalität heißt dann wohl auch Rückkehr zur sexuellen Ökonomie der Vorkrisenzeit, die Wiedereröffnung der Ischgls auf der ganzen Welt, Dating-Apps, Aufhebung der Trennungen im Leben der Liebenden, und ach, einfach mal schauen, was geht. Aber nicht wirklich. Denn in der Krise haben sich die beiden Formen der Kontrolle erheblich verstärkt, die politische Kontrolle (die Überwachung, Verwaltung und Klassifizierung) und die ökonomische Kontrolle (die Medialisierung, Statusbildung, Topographie der Wege des Begehrens). Die Krise hat den Kontrollinstanzen wieder neues Wissen über die Sexualität übermittelt, und damit neue Macht. Sexuelle Insubordination, Queerness, unerwünschte Sub­limationen, der Aufstand der Liebenden, die Verwandlung der Diskurse, all das, was im Spannungsfeld von Politik und Sexualität zu erhoffen war, wird auf die Verlustlisten der Krise gesetzt, wie ganze Bereiche von Kunst und Kultur, von Kritik und Reflexion. Und sie hat neue Ängste erzeugt, so dass an die Stelle der Hoffnung auf Bewusstsein und Ästhetik die Forderung nach Vernunft und Moral tritt. Die Kontrollinstanzen freilich bleiben weiter polyphon, kein lüsterner Zensor, kein Superzuhälter, kein medizinisch-humanwissenschaftlicher mad scientist, vielmehr ein System der Rückkoppelungen und Verwertungen. Die Rückkehr zur sexuellen Normalität wird im Namen der Nützlichkeit organisiert.

Und in alledem klingt doch die etwas verzweifelte und abgewertete Frage an: Was ist das eigentlich, die Liebe? Wo ist die Schönheit in der Sprache des Begehrens? Wo ist die sexuelle Utopie, die Warenform und Gesellschafts­ordnung überwindet? Genau dorthin will die Liebe nie und nimmer: in die Normalität.