Was nach den Blumen kam
Vor 50 Jahren, im Frühjahr des Jahres 1970, scheinen die USA am Rande eines Bürgerkrieges zu stehen. Chrissie Hynde, damals 18 Jahre alt und eine Dekade später die Frontfrau der Postpunk-Band Pretenders, erlebt am 4. Mai 1970 als Studentin der Kent State University, wie Nationalgardisten auf dem Campus ohne Vorwarnung gezielt in die Menge von 500 Unbewaffneten schießen, die gegen den Vietnam-Krieg demonstrieren. Vier Studenten sterben. Die Musikerin hat den Tag nie vergessen, wie sie in ihrer Autobiographie berichtet; die Bluttat in Kent, Ohio, erschüttert die US-amerikanische Jugend. Rund 500 der insgesamt 2 000 Colleges und Universitäten werden in den folgenden Wochen bestreikt. Überall in den großen Städten finden Demonstrationen mit Hunderttausenden Teilnehmern statt. Die 23jährige Patti Smith, die sich am Tag der Todesschüsse ein paar Hundert Meilen weiter östlich in New York auf einer Abendveranstaltung gegen den Vietnam-Krieg befindet, kommentiert in ihrer Autobiographie lakonisch: »Es galt als ausgemacht, dass die Nixon-Regierung korrupt und der Vietnam-Krieg falsch war, aber nun lag das Leichentuch der Kent State University über der ganzen Vorstellung, es wurde kein guter Abend.«
Die Siebziger sind das Jahrzehnt, in dem der Neoliberalismus seinen Aufstieg beginnt. Es ist eine Zeit der sozialen und kulturellen Kämpfe und des Übergangs. Im Vergleich mit den Sechzigern sind die Siebziger das subversivere und experimentellere Jahrzehnt.
Nicht nur in den Metropolen hat sich in Windeseile herumgesprochen, was in Kent passiert ist, die Nachricht erreicht schnell auch die provinziellen Ecken des Landes. Eine Autostunde von San Francisco entfernt sieht sich die angesagte Gruppe Crosby, Stills, Nash & Young, die gerade mit »Déja Vu« ihr erstes Album veröffentlicht hat, dazu veranlasst, sofort wieder ins Studio zu gehen und eine Single aufzunehmen: »Ohio«. In ihrem Klagelied auf das Massaker an der Kent State University singen sie in ihrem typischen Sprechsingsang von Zinnsoldaten, Richard Nixon und vier Toten in Ohio. Es ist klar, auf welcher Seite sie stehen. Die Band verkörpert geradezu eine politisierte Popmusik, die weit über ihre Unterhaltungsfunktion hinausweist. Viele Songtexte der siebziger Jahren sind zwar nicht so eindeutig politisch wie »Ohio«, doch zum allergrößten Teil spiegeln sie die kritische und emanzipationshungrige Stimmung jener Jahre wider. Sie suchen die Überschreitung rigider Beschränkungen in der Gesellschaft, gegen die aufzubegehren Freiheiten ermöglichte, die in der Rückschau schon fast als utopisch erscheinen.
Dies beschreibt der Musikjournalist Ernst Hofacker in dem Buch »Die 70er. Der Sound eines Jahrzehnts« in einer soziologisch gefärbten Erzählweise, die niemals akademisch wird. Indem er für jedes Jahr ein Ereignis, eine Band oder Person beschreibt – zum Beispiel Nina Hagen für 1979 –, führt er durch das popkulturell epochale Jahrzehnt. Seinerzeit geht Rock und Pop mehr um Statements als schnellen Erfolg, Alben sind wichtiger als Singles geworden. Es gilt allenthalben: Sag mir, was du hörst, und ich sag dir, wer du bist. Das ganze Jahrzehnt über sprießen die popkulturellen Blüten nur so: von Metal bis Glam Rock, von Prog bis Punk, von Reggae bis Funk. Nicht zu vergessen der Krautrock. Ein üppiges Gemälde, das die Pop- und Rockmusik verästelt und mit den großen Themen ironischer Negation und erträumter Befreiung verbindet. Es mischen sich hohe moralische Ansprüche (auch an sich selbst) mit Zynismus und Individualisierung.
Hofacker schreibt – als Zeitgenosse – zu Beginn seines akribischen Werkes: »Als das Jahrzehnt begann, waren die hochfliegenden Träume der Sixties geplatzt, an die Stelle ihres bilderstürmenden Optimismus war weitgehend Desillusionierung getreten. (…) Das Klima war ein anderes als zu Sgt. Pepper’s Zeiten. Der Ton wurde aggressiver, die Auseinandersetzungen härter und die Kontrahenten misstrauischer. (…) An die Stelle der alten Love & Peace-Visionen traten zunehmend Hedonismus und zynische Selbstbezogenheit.«
Detailliert widmet er sich den prägenden Musikgruppen. Viel Sympathie hat er für die drei Musketiere des Glam Rock, der sich früh für die Wut des Punk öffnet: David Bowie, der mit Geschlechterrollen spielt und als Ziggy Stardust vom Himmel fällt; Iggy Pop, der für fröhlichen Anarchismus und die metallisch-harte Kante des Glam Rock steht; und Lou Reed, der einst mit Velvet Underground die dunkle Seite des Rockuniversums erkundet hat. Alle drei sind gute Beispiele dafür, dass der neue Rock in den Siebzigern noch nicht Massen-, sondern Minderheitenprogramm ist. Wahrgenommen werden diese künstlerischen Revolutionen zuvörderst in Underground-Zirkeln, deren Stil Schüler und Lehrlinge anzog. Die hören besonders gern eine junge Band aus der rauen Industriestadt Birmingham: Black Sabbath. Sie stützt sich auf Bands wie Led Zeppelin, The Who, Deep Purple und Steppenwolf, die aus dem Bluesrock der Sechziger den Hard Rock der frühen Siebziger gemacht haben. Daraus entwickeln Black Sabbath mit einem schrill klagenden, fast apokalyptischen Gesang und bleischweren düsteren Riffs einen einzigartigen Gitarrensound, der jeden mit Arbeit und Schule unzufriedenen Heranwachsenden sofort aus der Lethargie reißt: den sogenannten Powerchord-Sound. Das ist die Geburt des Metal, der bis heute langlebigsten und publikumswirksamsten Subkultur der Rockmusik.
Zunächst eine Underground-Erscheinung ist der sogenannte Krautrock, der völlig unterschiedliche Musikstile umfasste: Vom wilden Jazzrock Guru Gurus über romantischen Kitsch à la Novalis bis zu den rheinischen Ingenieuren der Klänge, ohne die Elektropop, HipHop und Techno nicht möglich gewesen wären. Als die Düsseldorfer Band Kraftwerk am 10. Oktober 1973 ins ZDF-Kulturmagazin »Aspekte« eingeladen wird, die dem breiten Fernsehpublikum noch gänzlich unbekannt war, ist Udo Lindenberg mit seinem Hamburger Szeneslang der bekannteste Krautrocker im Lande. Doch wirklich populär wird er erst in den achtziger und neunziger Jahren. Das trifft auch auf Rio Reiser und seine Band Ton, Steine, Scherben zu, dessen Radikalität sich von der Trivialität des Pop wie vom Politkitsch der Liedermacherszene unterscheidet.
Als Mitte der siebziger Jahre der sogenannten Disco-Sound mit seiner schlichten, aber effektiven elektronischen Klangerzeugung populär wird, ist das ein Schock für viele Rockfans, die lieber in die Phantasiewelten von Led Zeppelin und Pink Floyd eintauchen oder sich an der Coolness des Reggae von Bob Marleys Wailers erfreuen, der seine widerständige Musik so definiert: »Die Musik trifft dich, aber du fühlst keinen Schmerz.«
Die junge britische Punk-Szene, die gegen Ende der siebziger Jahre auch Berlin beeinflusst, ist eine ausdrücklich politische Reaktion auf die Wirtschaftskrise und auf Margaret Thatchers Neoliberalismus. Hofacker betont, dass sich das Frauenbild in der Szene verändert: »Mit dem Aufstieg des Punk war die Zeit für Frauen wie Patti Smith und Debbie Harry endlich reif geworden.« Chrissie Hynde von den Pretenders wird mit der Aussage zitiert, Punk habe sich dadurch ausgezeichnet, »dass sexuelle Diskriminierung in dieser Szene nicht existierte«. Anders als in der populären Musik zuvor spielen Liebe und Sexualität im Punk ohnehin zunächst keine nennenswerte Rolle in den Texten.
In der traditionellen Linken werden die sechziger Jahre kulturell und politisch höher bewertet als die Siebziger. Doch in vielerlei Hinsicht ist es heute wichtiger, sich mit den Hoffnungen auseinanderzusetzen, die die Gegenkultur der Siebziger beherrscht haben.
Mark Fisher schreibt in seinem Grundsatztext »Acid-Kommunimus«, dass in den siebziger Jahren die Ablehnung der alten repressiven Vorstellung von Arbeit einhergeht mit einer neuen Art zu hören und zu sehen. Viele wollen sich dem bürgerlichen Blick nicht mehr unterwerfen und das Establishment ist nicht mehr in der Lage, eine »widerspruchsfreie Unterwerfung« zu verlangen. »Ein Großteil der Musik der Gegenkultur gab diesem Außen eine Stimme und Foucaults Hinwendung zur Grenzerfahrung war eine Parallele zu populären Bewusstseinsexperimenten.« Bei den vielen jungen schwarzen und weißen Arbeiterinnen und Arbeitern der siebziger Jahre gibt es eine »massive Verweigerung der Tristesse der Arbeit«, so Fisher, der im Jahr 2016 ergänzt: »Wir müssen den Optimismus dieses Moments der siebziger Jahre wiedererlangen.«
Gewiss sind die siebziger Jahre ein Jahrzehnt der Professionalisierung und der kommerziellen Blüte für die Musikindustrie. Sie sind das Jahrzehnt, in dem der Neoliberalismus seinen Aufstieg beginnt, der bis in die Gegenwart als alternativlos gelten wird. Es ist eine Zeit der sozialen und kulturellen Kämpfe und des Übergangs. Im Vergleich mit den Sechzigern sind die Siebziger das subversivere und experimentellere Jahrzehnt.
Ernst Hofacker: Die 70er. Der Sound eines Jahrzehnts. Reclam, Ditzingen 2020. 350 Seiten. 28 Euro.