Ein Gespräch mit dem Arbeitssoziologen Werner Schmidt

»Der Universalismus ist auf den Betrieb beschränkt«

Der Arbeitssoziologe Werner Schmidt forscht zur Integration von Geflüchteten in die Arbeitswelt. Diese werde durch die Erosion von Tarifverträgen und Leiharbeitsverhältnisse erschwert, sagt er.
Interview Von

Werner Schmidt ist Arbeits- und Wirtschaftssoziologe. Er forscht am Forschungsinstitut für Arbeit, Technik und Kultur e. V. in Tübingen zum Themenbereich Migration und Arbeitswelt. Im März erschien sein Buch ­»Geflüchtete im Betrieb. Integration und Arbeitsbeziehungen zwischen Ressentiment und Kollegialität« im Transcript-Verlag in gedruckter Form und als frei zugängliche Online-Publikation.

 

Warum ist die Arbeitswelt in der ­Migrationsforschung so unterbelichtet?

Die Arbeitswelt scheint vielen Migrationsforscherinnen und -forschern eher fremd geblieben zu sein. Überraschend ist aber, dass sich auch, so­zusagen spiegelbildlich, die Arbeits­soziologie lange Zeit kaum für Migra­tion interessiert hat.

»Kulturelle Unterschiede gibt es, aber sie spielen im Betrieb keine so große Rolle, wie manche Klischees nahelegen. Die wirklichen Probleme sind andere.«

Wie fanden Sie einen Zugang zu diesem Themenbereich?

Ich machte mir Sorgen, weil man wenig darüber wusste, wie Beschäftigte unterschiedlicher Herkunft im Betrieb miteinander umgehen. Ich schloss nicht aus, auf blanken Rassismus zu stoßen. Deshalb begann ich Anfang der nuller Jahre, der Thematik nachzugehen.

Sie schreiben, dass es in Betrieben weniger Rassismus und Ausgrenzung als in der übrigen Gesellschaft gebe. Ist die postmigrantische ­Gesellschaft in Betrieben weiter entwickelt als in der übrigen Gesellschaft?

Die meisten Beschäftigten kamen und kommen trotz unterschiedlicher ­Herkunft relativ gut miteinander klar. Zwar finden sich die sonst in der Gesellschaft vorhandenen Ressentiments, Vorurteile und rassistischen Vorstellungen auch in den Köpfen vieler Beschäftigter, doch im Betrieb – so wurde es mir in Interviews öfter erzählt – sei man eben zuerst Kollege oder Kollegin. Man muss und will die Arbeit bewältigen. Ständige Konflikte untereinander sind da nicht hilfreich. Etliche arbeiten seit vielen Jahren eng zusammen und allmählich nähert man sich dann auch an. Allerdings sind Ressentiments dann nicht immer verschwunden, man ­betrachtet diese aber meist als eine Art Privatsache, die bei der Arbeit nichts zu suchen habe.

Behindern die Erosion von Tarifverträgen und die Schwächung von ­Gewerkschaften die Integration von Geflüchteten, oder umgekehrt formuliert, sind starke Gewerkschaften ein Motor der Integration von Geflüchteten?

Ja, Gewerkschaften, Tarifverträge und Betriebsräte sind wichtig für die soziale Integration in der Arbeitswelt. Sie sorgen für einheitliche Regeln, etwa bei Bezahlung und Arbeitszeiten. Das erleichtert es den Beschäftigten, sich auf Augenhöhe zu begegnen und sich als zusammengehörig zu empfinden, weil sie gemeinsame Interessen erkennen. Das wäre auch dann wichtig, wenn alle Beschäftigten derselben Herkunft ­wären. Bei Herkunftsunterschieden ist es noch wichtiger, damit man sich im Betrieb nicht primär etwa als deutsch oder türkisch sieht, sondern als lohnabhängig beschäftigter Arbeitnehmer.

Das gilt auch für die Geflüchteten, die um 2015 nach Deutschland gekommen sind. Weil es vielen anfangs schwerfällt, eigene Interessen selbst zu artikulieren, sind für sie etablierte ­Regeln der Gleichbehandlung ganz besonders wichtig. Ohne den gesetzlichen Mindestlohn sowie Unterstützung durch Gewerkschaften und Betriebsräte wäre das Risiko hoch, dass sich auf Dauer eine separate Unterschicht aus Geflüchteten bildet. In vielen Betrieben fehlen nun aber leider Tarifverträge und auch beim Mindestlohn wird öfter mal getrickst.

Haben gewerkschaftliche antirassistische Kampagnen nach dem Vorbild von »Mach’ meinen Kumpel nicht an« in den achtziger Jahren oder die an Geflüchtete gerichtete Mitgliederwerbung bei Verdi in Hamburg Vorbildcharakter?

Das sind gute Beispiele. Es gibt auch Fälle, in denen sich Betriebsräte und ­Jugendvertretungen dafür engagiert haben, dass sich ihr Betrieb zum ­»Betrieb ohne Rassismus« erklärt, Anti­rassismusseminare stattfinden oder »Kulturmittler« ausgebildet werden, die zum gegenseitigen Verständnis bei­tragen sollen. Es war früher nicht immer ganz so eindeutig, aber die Gewerkschaften wenden sich heutzu­tage ganz klar gegen Rassismus. Leider gilt das aber nicht für viele ihrer Mitglieder.

Sie verteidigen einen »betrieblichen Universalismus«. Was ist damit gemeint und wie unterscheidet dieser sich von dem, was Sie »repressiven Universalismus« nennen, der das Aufkommen rechtsextremer Tendenzen auch in der Arbeitswelt befördern könnte?

»Betrieblicher Universalismus« soll bedeuten, dass im Betrieb für alle Beschäftigten dieselben Regeln gelten und nicht nach Herkunft unterschieden wird. Egal welchen Pass man hat, man darf den Betriebsrat wählen und auch selbst dafür kandidieren. Außerhalb des Betriebs ist das bekanntlich anders, der Universalismus ist also auf den Betrieb beschränkt. So richtig funktioniert die Sache aber nur, wenn alle Beteiligten, also Beschäftigte, Betriebsräte und möglichst auch alle Vorgesetzten, Regeln wie »gleicher Lohn für gleiche Arbeit« als selbstverständlich empfinden. Was gerade dort, wo es ­keine starken Regeln gibt, jedoch nicht immer der Fall ist.

Wenn sich manche Beschäftigte oder Vorgesetzte nicht mehr an die Regeln der Gleichbehandlung halten, dann wird diskriminierendes Verhalten öfter mit Abmahnungen und Entlassungen »von oben« bekämpft. Dann spreche ich von »repressivem Universalismus«. Das ist manchmal nötig, kann aber auch falsche Solidarisierungen erzeugen. Der bessere Weg ist Überzeugung.

Sie verweisen auch auf Schwierigkeiten bei der Integration von Geflüchteten im Arbeitsleben, die beispielsweise eine patriarchale Kultur in den Herkunftsländern verursacht. Sind das eher Ausnahmen oder weiter verbreitete Probleme?

Kulturelle Unterschiede gibt es schon, aber sie spielen im Betrieb keine so große Rolle, wie manche Klischees nahelegen. Die wirklichen Probleme sind andere. Schwierigkeiten in der Berufsausbildung kommen eher von geringen Deutschkenntnissen und manchmal Schwächen beim naturwissenschaftlichen Basiswissen.

Inwieweit beeinträchtigt die rechtliche Situation der Geflüchteten ihre Integration in die Arbeitswelt?

Es gab Fälle, in denen Betriebe Geflüchtete eingestellt hatten, die dann trotzdem abgeschoben wurden. Manchmal kam das auch bei Leuten vor, die in ­einer Berufsausbildung waren. Zumindest während einer Berufsausbildung wird man gegenwärtig meist nicht mehr abgeschoben. Aber viele Firmen sind vorsichtig geworden, Menschen einzustellen, von denen sie nicht wissen, ob diese bleiben dürfen. Außerdem ist es für Geflüchtete in unsicherer Situ­ation nicht so einfach, den anderen auf gleichrangig gegenüberzutreten, wie es für die Sozialintegration gut wäre.

Wie wirkt sich das Verschwinden des fordistischen Massenarbeiters auf die Integration von Geflüchteten aus?

Es gibt zwar noch einige Arbeitsplätze an Fließbändern in der Industrie, doch viele Geflüchtete arbeiten heute im Dienstleistungsbereich, etwa im Hotel- und Gaststättengewerbe. Also dort, wo Arbeitnehmerrechte oft schwächer durchgesetzt sind.

Gefährden Leiharbeitsverhält­nisse die Integration in die ­Arbeitswelt?

Für Geflüchtete stellt die Leiharbeit in zweifacher Weise ein Problem dar. Erstens erschwert Leiharbeit den Aufbau sozialer Kontakte, da es länger dauert, bis man an einem dauerhaften Arbeitsplatz angekommen ist. Zweitens gibt es in vielen Betrieben schon Wartelisten von Leiharbeitern, die bereits länger auf eine Übernahme warten, Geflüchtete kommen dort nicht so schnell zum Zug.

Könnte ein Erstarken rechtsextremer Strömungen in der Gesellschaft auch in der Arbeitswelt den Rassismus und die Ausgrenzung verstärken?

Es gab bereits vor der Coronakrise Anzeichen dafür, dass rechte Diskurse und Rassismus auch in die Arbeitswelt stärker eindringen. Das ist ja wenig überraschend. Die Krise und massenhafte Kurzarbeit verstärken natürlich die Unsicherheit und tragen nicht dazu bei, dass sich Spannungen legen.

Welche konkreten Auswirkungen hat die Coronakrise?

Ganz besonders betroffen sind von der Coronakrise natürlich die Geflüchteten. Wer bis jetzt noch nicht in der Arbeitswelt angekommen ist, hat in nächster Zeit kaum Chancen dazu. In den Hotels und Restaurants sind auch Arbeitsplätze weggefallen, die bereits Geflüchtete eingenommen hatten. Geringe ­Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel waren bis zur Krise für die Integration von Geflüchteten hilfreich; beides fehlt derzeit.