Die Vorstellung des neuen ­Verfassungsschutzberichts bot Lichtblicke

Auf halbem Wege

Die Vorstellung des neuen Verfassungsschutzberichts bot allerlei Merkwürdigkeiten, aber auch einige Lichtblicke.
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Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) sieht derzeit im Rechts­extremismus die größte Bedrohung für die Sicherheit in Deutschland. Es gebe eine neue Qualität der Gewalt, sagte der Präsident des BfV, Thomas Haldenwang (CDU), am 9. Juli bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts für das Jahr 2019. Er hob dabei den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) und die rechtsextremen Terroranschläge in Halle und Hanau in den Jahren 2019 und 2020 hervor. »Hier geht es offenbar darum, einen ›Highscore‹ an Toten zu brechen«, so Haldenwang. Seine größte Sorge sei »die gestiegene Gewaltbereitschaft in nahezu allen Bereichen«. Die Anzahl der rechtsextremen Straftaten lag dem Bericht zufolge bei 22 300, das sind zehn Prozent mehr als 2018. Es existiere ein deutliches Gefährdungspotential durch Waffenbesitz bei Rechtsextremen und Reichsbürgern. 2019 verfügten etwa 900 Rechtsextreme über eine waffenrechtliche Erlaubnis.

Auch die Zahl der »linksextremen Straftaten« sei in Deutschland im Jahr 2019 stark angestiegen; hier habe es einen Zuwachs von 40 Prozent auf 6 400 Delikte gegeben. Dem BfV zufolge sinkt auch hier »die Hemmschwelle der Gewalttäter« kontinuierlich. Seinem ­eigenen Bericht nach sank die Gesamtzahl der politisch motivierten Gewalttaten allerdings, sowohl die der links- als auch die der rechtsextremen. Der Gefährlichkeit des Rechtsterrorismus tut das sicher keinen Abbruch. Wie das Portal »Volksverpetzer« recherchierte, dürfte aber der rasant scheinende Anstieg »linksextremer Straftaten« zum weitaus größten Teil auf zerstörte AfD-Wahlplakate im »Superwahljahr« 2019 zurückzuführen sein.

Im islamistischen Bereich werden weiterhin Salafisten als besonders gefährlich eingeschätzt. Die Zahl der antisemitischen Straf­taten stieg dem Bericht zufolge um 17 Prozent. 90 Prozent davon seien rechtsextrem motiviert, der Antisemitismus damit ein »wich­tiges Bindeglied der rechtsextremistischen Szene«, sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) bei der Vorstellung des ­Berichts.

Haldenwang ist seit November 2018 im Amt und scheint sowohl inhaltlich als auch formal einen anderen Kurs als sein Vorgänger Hans-Georg Maaßen zu verfolgen, der mittler­weile als CDU-Rechtsaußen und Brückenbauer zur AfD durch die Lande zieht. Haldenwang spricht nicht nur über die klassischen Neonaziorganisationen, sondern neben dem immer virulenter gewordenen Rechtsterrorismus auch über »Wegbereiter«, etwa von der »Neuen Rechten«, und ihre »pseudointellektuellen Theorien«. Sie übten »zwar keine physische Gewalt« aus, brächten »aber Ras­sismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit in unsere Gesellschaft«. Haldenwang spricht auch über die inzwischen offiziell aufgelöste völkische AfD-Strömung »Der Flügel« und die AfD-Jugendorganisation »Junge Alternative« (JA), die nun erstmals im Bericht des BfV geführt werden. Mindestens 20 Prozent der AfD-Mitglieder, etwa 7 000 Personen, ordnet der Bericht dem »Flügel« zu, zählt man die 1 600 Mitglieder der JA hinzu, kommt man auf einem Anteil von fast einem Viertel der Gesamtpartei, wobei aber einige Doppelmitgliedschaften abzuziehen wären.

Seehofer hatte offenbar Bedenken, was die Darstellung der AfD in dem Bericht angeht. Doch Haldenwang hatte bereits im März verkündet, der »Flügel« gelte nunmehr als »gesichert« rechtsextreme Organisation. Die Gruppe von Björn Höcke, Andreas Kalbitz und anderen hatte sich daraufhin formell aufgelöst, was im Allgemeinen als bloße Show für die Öffentlichkeit interpretiert wurde. Nun wäre es an der Zeit, auch der Größenordnung der »gesichert rechtsextremistischen Bestrebungen« in der AfD Genüge zu tun und endlich die gesamte Partei als Beobachtungsobjekt einzu­stufen.

Was in dem Bericht erneut fehlt, sind Vertreter von Verschwörungsideologien wie beispielsweise »Qanon«, obwohl es unter diesen deutliche Bezüge zum Rechtsterrorismus gibt und deren Relevanz wächst. Auch Pegida taucht nicht auf, obwohl Haldenwang den Pegida-Gründer Lutz Bachmann noch im März 2020 als rechtsextrem bezeichnet hatte. Die Grünen kritisierten zudem, dass die Mehrheit der Reichsbürger nicht als rechtsextrem eingestuft werde – damit habe das BfV nur die Spitze des Eisberges erfasst.

Zudem folgt das BfV offenbar weiterhin der Perspektive einer Bedrohung der Gesellschaft und des Staates »von den Rändern«, durch zwei, drei, viele Extremismen. Doch die Demokratie in Deutschland unterliegt nicht so sehr der Gefahr, »von ihren Rändern her zerstört« zu werden, sondern, wie die New York Times kürzlich schrieb, von einem »inneren Feind« (gemeint war dort die Bundeswehreinheit Kommando Spezialkräfte), von rechtsextremen Netzwerke in der Mitte der Gesellschaft. Diese Gefahr ist weiterhin nicht im Fokus von Bundesinnenministerium und Verfassungsschutz: Es gibt kein Lagebild zum Rechtsextremismus innerhalb der Sicherheitsbehörden und im gesamten Öffentlichen Dienst. Seehofer zeigt hier, freundlich formuliert, wenig Engagement. Eine angekündigte Studie zu Rassismus in den Polizeibehörden erklärte er kurzerhand für überflüssig: Racial profling könne es gar nicht geben, denn das sei ja verboten.

Immerhin scheint der neue BfV-Präsident Haldenwang den Rechtsextremismus endlich als Hauptbedrohung ernst zu nehmen. Die Bundestagsabgeordnete Martina Renner (Linkspartei) sagte im Interview mit dem Deutschlandfunk: »Das sind alles Dinge, die hart erkämpft wurden in den letzten Jahren, durch investigative journalistische Arbeit, durch Druck in den Parlamenten, endlich klar zu sagen, wo die größte Gefahr für Demokratie und Menschen­würde in diesem Land derzeit herkommt.«

Sogar beim Generalbundesanwalt wurde nun endlich, nach 40 Jahren, das Oktoberfestattentat als rechtsextremer Terroranschlag ­bewertet. Zugleich wurde aber das neu angesetzte Ermittlungsverfahren eingestellt, der mutmaßliche Bombenleger gilt weiterhin als Einzeltäter ohne Netzwerk und Hintermänner. Vielleicht auf ein Neues im Jahr 2060?