Antisemitismus in der Pandemie

Alter Wahn, neues Gewand

In der Covid-19-Pandemie setzen Antisemiten ihre Wahngebilde aus alten Versatzstücken neu zusammen. Antisemitische Propaganda verlagert sich ins Internet, wird aber auch auf den Demonstrationen von Impfgegnern und Verschwörungstheoretikern verbreitet.

Als Max Brym am 20. Mai mit seinem Hund im Englischen Garten in München spazieren geht, wird er von einem Mountainbike-Fahrer angegangen. Anlass ist nicht etwa der Vierbeiner. Brym trägt eine Sportjacke seines Vereins TSV Maccabi München e. V., und die ist vorn und hinten mit einem Davidstern verziert. »Ihr jüdischen Schweine seid schuld! Ihr Juden habt das mit dem Corona gemacht! Du jüdischer Dreckskerl!« pöbelt der Radfahrer. Der Fußballtrainer Brym will den Mann, der ein T-Shirt mit der Aufschrift »Coronaleugner« und »Impfgegner« trägt, zur Rede stellen. Doch der macht sich aus dem Staub.

Bedingt durch die in zahlreichen Ländern verhängten Einschränkungen des öffentlichen Lebens verlagerte sich das antisemitische Geschehen ins Internet, wo es auch zuvor schon unüberschaubare Ausmaße hatte. Es beschränkt sich jedoch nicht auf antisemitische Postings in den verschiedenen Foren und sozialen Medien.

Der von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) in Bayern dokumentierte Übergriff ist ein drastisches Beispiel dafür, wie sich Antisemitismus im Zuge der Covid-19-­Pandemie artikuliert. Das geschieht nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Eine im Juni veröffentlichte Studie des Kantor Center for the Study of Contemporary European Jewry an der Universität Tel Aviv berichtet auf der Grundlage von 35 Länderberichten von einer »neuen Welle des Antisemitismus«. Diese habe man seit März dieses Jahres beobachten können. Der mit der Pandemie verknüpfte Antisemitismus sei »scharf und intensiv«, in allen Fällen würden die Juden, die Zionisten oder der Staat Israel für die Pandemie verantwortlich gemacht »und/oder beschuldigt, von ihr zu profitieren«. Solche Meinungen verfügen offenbar über eine beachtliche gesellschaftliche Verbreitung: So stimmt beispielsweise rund jede fünfte Person in England mehr oder weniger der Ansicht zu, Juden hätten das Virus geschaffen, um die Wirtschaft kollabieren zu lassen und ein Geschäft aus der Situation zu machen, wie eine Ende Mai von der Universität Oxford publizierte repräsentative Studie ergeben hat.

Bedingt durch die in zahlreichen Ländern verhängten Einschränkungen des öffentlichen Lebens verlagerte sich das antisemitische Geschehen ins Internet, wo es auch zuvor schon unüberschaubare Ausmaße hatte. Es beschränkt sich jedoch nicht auf antisemitische Postings in den verschiedenen Foren und sozialen Medien. Auch Online-Zusammenkünfte jüdischer Initiativen und Organisationen bis hin zu Seminaren und Gedenkveranstaltungen werden zum Ziel. »Die betreffenden Leute haben sich einfach eingeloggt«, so Alexander Rasumny von RIAS Berlin. Dabei wurde unter anderem der Nutzername »Hitler« verwendet. Im Zuge solcher »Zoombombings« gab es antisemitische Beleidigungen und Beschimpfungen, teils wurde Archivmaterial aus der Zeit des Nationalsozialismus eingespielt. Betroffen war beispielsweise eine Gruppe 15jähriger Mädchen, die gemeinsam die Tora studierten.

Mit den Protesten gegen die staatlichen und kommunalen Pandemiemaßnahmen kehrte der Antisemitismus umso offensichtlicher auf die Straße zurück. In Deutschland hat der Bundesverband der RIAS eine Vielzahl von Vorfällen registriert. Vor allem im Internet wurden »die Juden« als Urheber eines vermeintlichen Impfzwangs präsentiert, und dieser wurde auf Demonstrationen mit der Verfolgung der Juden im Nationalsozialismus gleichgesetzt: »Impfen macht frei«, war auf einem Schild zu lesen, das ein Demonstrant Anfang Mai in Freiburg mit sich führte. In Villingen-Schwenningen trug jemand ein Plakat mit der Aufschrift »Corona ökonomischer Holocaust«. In Augsburg hieß es unter anderem: »Endlösung der Coronafrage: Impfen«. All das ziele auch darauf ab, »den realen Schrecken der Shoah zu relativieren und zu bagatellisieren«, sagt Rasumny.

Ein häufig und in verschiedenen Variationen verwendetes Motiv bei den Demonstrationen war der sogenannte Judenstern. So trug in Berlin ein Teilnehmer eine Armbinde mit dem gelben Stern und der Aufschrift »Jude«. Von anderen wurde der Stern mit dem Wort »ungeimpft« kombiniert. Ein Versandhandel in Halle, der von dem Rechtsextremen Sven Liebich geführt wird, vertreibt T-Shirts und Kapuzenpullis mit dem Motiv. »Wir haben das Phänomen bereits in den vergangenen Jahren häufig beobachtet«, sagt Rasumny. »Doch nun wird es noch viel bereitwilliger verbreitet.«

Bei Rechtsextremen wie Liebich gehört die Bagatellisierung des Judenmords zur allgemeinen politischen Strategie. Er hat den Stern auch mit den Schriftzügen »Dieselfahrer« und »Sachse« im Sortiment. Doch nicht nur bekennende Rechtsextreme verwendeten das Emblem, um sich als Opfer zu inszenieren. Für Felix Balandat von RIAS Bayern ist es daher auch ein Teil des Problems, dass auf den Demonstrationen »nicht widersprochen wird, wenn jemand offen ein solches T-Shirt trägt«. Wer für solche Symbolik und Parolen empfänglich sei, sehe sich oftmals in der gesellschaftlichen Mitte und sei auch nicht immer einer bestimmten politischen Strömung zuzuordnen, sagt er.
Am 2. Mai fand in Stuttgart eine Kundgebung gegen die Pandemiemaßnahmen statt, an der etwa 5 000 Menschen teilnahmen. Ein Redner rief, man dulde »keinen neuen Holocaust, diesen ungetesteten Impfwahn, für deren Weltherrschaft«, ohne offenbar auf großen Protest zu stoßen. Er konnte sich darauf verlassen, dass verstanden wurde, von wem die Rede war, als er vor »deren Weltherrschaft« warnte. Alternativ wurde bei ähnlichen Veranstaltungen die Aufmerksamkeit auf die »Rothschilds«, »George Soros«, die »Neue Weltordnung« oder die »Zionisten« beziehungsweise »Zion« gelenkt. Solche Codewörter dienen dazu, den Mythos von der »jüdischen Weltverschwörung« zu verbreiten. »Das ist dann nur noch eine Frage der Ausbuchstabierung, für überzeugte Antisemiten ist ohnehin klar, wer gemeint ist«, sagt Balandat.

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