Rechtsextreme bedrohen linke und migrantische Prominente

Im Visier des »NSU 2.0«

Rechtsextreme, die über Informationen aus hessischen Polizeidatenbanken verfügen, bedrohen immer mehr linke und migrantische Prominente – insbesondere Frauen.

Das Verfassen von Drohbriefen scheint derzeit die Paradedisziplin einiger Neonazis zu sein, besonders jener bei der hessischen Polizei. Wie bereits vor zwei Jahren haben Polizisten private Daten aus behördlichen Datenbanken abgerufen. Damals erhielt die Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, unter anderem bekannt als Anwältin von Nebenklägern im NSU-Prozess, nur wenige Wochen nach dem Münchner Urteil gegen die Rechtsterroristin Beate Zschäpe per Telefax ein erstes von mehreren Schreiben, in denen ein ominöser »NSU 2.0« sie und ihre Tochter auf brutale und persönliche Weise bedrohte. Obwohl neben der Beamtin aus dem Ersten Frankfurter Revier, über deren Login in dem Drohschreiben verwendete Daten abgerufen worden waren, und fünf weitere Polizisten einer rechtsextremen Chatgruppe ermittelt wurden, ist der Fall weiterhin nicht aufgeklärt. Ein der Übersendung der Faxe verdächtigter Polizist steht einem Papier des hessischen Innenministeriums von Anfang Juni zufolge weiter im Fokus der »Arbeitsgruppe 21« (AG 21) des Landeskriminalamts (LKA), die nach den Drohungen gegen Başay-Yıldız eingerichtet wurde. Die Verantwortlichen versichern, mit Hochdruck gegen die suspendierten Polizisten zu ermitteln, von denen inzwischen einer auf eigenen Wunsch entlassen wurde. Başay-Yıldız erhielt ein Dutzend weiterer Drohungen.

Je länger die derzeitige Serie von Drohbriefen anhält und je weiter sie streut, desto nötiger werden bundesweite Ermittlungen.


Die Serie setzte sich mit den Anfang Juli bekannt gewordenen Nachrichten an Janine Wissler, die Fraktionsvorsitzende der Partei »Die Linke« im hessischen Landtag, und die Berliner Kabarettistin İdil Baydar fort. Bald darauf erhielten weitere Adressatinnen und Adressaten Schreiben mit Drohungen brutaler Gewalt und zumeist frauenfeindlichen Inhalten. Die meisten richteten sich an prominente antifaschistisch engagierte Frauen, darunter drei weitere Politikerinnen der Partei »Die Linke«: die Bundestagsabgeordneten Martina Renner und Helin Evrim Sommer sowie Anne Helm, die Fraktionsvorsitzende im Berliner Abgeordnetenhaus.

Drohschreiben erhielten ferner der Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler, wie Başay-Yıldız Vertreter der Nebenklage im Münchner NSU-Prozess, sowie zuletzt auch die Publizistin Jutta Ditfurth und Deniz Yücel, Redakteur der Tageszeitung Die Welt und Mitherausgeber der Jungle World. Auch Redaktionen von Medienhäusern und andere Parlamentsfraktionen erhielten Drohschreiben mit dem Absender »NSU 2.0«.

Möglicherweise stammen nicht alle vom selben Täter, es könnte sich auch um Trittbrettfahrer oder Unterstützer handeln. Anne Helm hielt es »eher für unwahrscheinlich«, dass die in ihrem Schreiben verwendeten Informationen allein aus Polizeicomputern stammen. Auch sind nicht alle Drohschreiben mit »NSU 2.0« signiert. Im Falle Sommers wurde die E-Mail mit »AFD« unterzeichnet, wie ihr Pressereferent der Jungle World mitteilte.

In Hessen lösten die Vorgänge einen politischen Eklat aus. Wie die Frankfurter Rundschau berichtete, wusste das von Janine Wissler benachrichtigte LKA bereits Ende Februar, welcher Polizist zur Tatzeit an einem Rechner des Dritten Wiesbadener Reviers eingeloggt war. Da der Beamte behauptete, weder die Betroffene zu kennen noch etwas von der Abfrage zu wissen, gab es bei ihm keine Durchsuchungen. Er wird seither als Zeuge und nicht als Beschuldigter geführt. LKA-Beamte hätten in einer Videokonferenz Anfang März das Polizeipräsidium über den Fall informiert. Landesinnenminister Peter Beuth (CDU) hat nach eigenen Angaben allerdings erst in der zweiten Juliwoche von der Abfrage erfahren.

Beuth gab dem LKA die Schuld für die schlechte Informationspolitik; daraufhin trat der Landespolizeipräsident Udo Münch zurück. Dieser sei bereits während einer Videokonferenz im März über die Datenabfrage informiert worden, »habe jedoch weder das Protokoll noch den Sachverhalt selbst bewusst wahrgenommen«, referierte Beuth die Vorkommnisse bei einer Pressekonferenz am 14. Juli. Angesichts dessen, dass die zeitweise 60köpfige »AG 21« des LKA über Rechtsextremismus in den eigenen Reihen ermitteln sollte, klingt das ziemlich unglaubwürdig. Nach dem Rücktritt des Polizeipräsidenten verschärfte Beuth die Abfrageregeln an den Dienstcomputern und berief den Frankfurter Kriminalbeamten Hanspeter Mener zum Sonderermittler. Es bleibt abzuwarten, als wie unabhängig sich dessen Arbeit erweisen wird.

Hermann Schaus, der innenpolitische Sprecher der Landtagsfraktion der Linkspartei, sagte dem Deutschlandfunk, der Opposition erscheine Münch lediglich als Bauernopfer – nicht zuletzt, weil er an der betreffenden Telefonkonferenz gar nicht teilgenommen habe. Der Landtagsabgeordnete Günter Rudolph (SPD) betonte, dass es der »völlig orientierungslose« Innenminister sei, der für das »Organisationsversagen« verantwortlich zeichne. »So etwas habe ich in meiner langjährigen Tätigkeit im Landtag nicht erlebt«, sagte er im Hessischen Rundfunk.

Helm wies darauf hin, dass eine der im Drohschreiben an sie verwendeten Informationen durch Ausspähung ihres Wohnumfelds gewonnen wurde. »Diese Methode nutzt das Neonazinetzwerk, dem die Anschlagsserie hier in Neukölln zugeschrieben wird, schon sehr lange«, sagte sie der Frankfurter Rundschau. Martina Renner schrieb auf Twitter, dass ein Zusammenhang zwischen dem »NSU 2.0« und der Neuköllner Terrorserie geprüft werden müsse, »da es in Schreiben Referenzen gibt, Drohungen teilweise über ähnlichen Weg erfolgten beziehungsweise Betroffene identisch sind«.

Renner, die seit zwei Jahren stellvertretende Bundesvorsitzende der Partei »Die Linke« ist, tritt derzeit auch als Nebenklägerin im Prozess am Berliner Landgericht gegen den 32jährigen Neonazi André M. aus Halstenbek in Schleswig-Holstein auf. Diesem wird vorgeworfen, zwischen Dezember 2018 und April 2019 über 100 Drohschreiben und Bombendrohungen unter dem Namen »Nationalsozialistische Offensive« versendet zu haben. Nach Informationen der Taz steht er in Kontakt mit einem Komplizen, der seit Mitte 2018 eine weitere Serie von Schreiben unter dem Namen »Wehrmacht« und »Staatsstreichorchester« verantwortet. Inwiefern dieser mit anderen Absendern wie »Wolfszeit 2.0« oder eben auch »NSU 2.0« zusammenhängt, ist ungeklärt. Wie die Gruppe »NSU-Watch« in einer Pressemitteilung schrieb, grenzte sich jedoch ein Darknet-User unter dem Namen »Wehrmacht« vom »NSU 2.0« ab, der für die Drohschreiben gegen Başay-Yıldız verantwortlich zeichnete.

Hermann Schaus sagte der Jungle World, dass er in der hessischen Serie einen bestimmten Polizisten für »dringend überprüfungsbedürftig« hält. Dieser wurde 2019 von Hessen nach Berlin versetzt, die »AG 21« hat im Zusammenhang mit der extrem rechten Frankfurter Chatgruppe gegen ihn ermittelt. Einer Pressemitteilung der Berliner Polizei zufolge erfolgte bei ihm Anfang Februar eine Hausdurchsuchung wegen des Verdachts der Volksverhetzung und des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.

Je länger die derzeitige Serie anhält und je weiter sie streut, desto nötiger werden bundesweite Ermittlungen. So forderte unter anderem bereits der FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle in der Welt, dass der Generalbundesanwalt die Ermittlungen an sich ziehen solle, »um dem Staatsschutz-Charakter der Vorfälle Rechnung zu tragen«.