In Omri Boehms Utopie für Israel lässt sich vor allem Dystophisches erkennen

Mehr Dystopie als Utopie

Weil die Zweistaatenlösung gescheitert sei, müsse Israel neu gedacht werden, fordert Omri Boehm in seinem Buch »Israel – eine Utopie«. Der deutsch-israelische Philosoph beruft sich auf die Ideen des Rechtszionisten Wladimir Jabotinsky und den Aufklärer Immanuel Kant.

»Israel – eine Utopie« – was der Titel verspricht, hält das Buch ganz und gar nicht. Tatsächlich geht es in dem ursprünglich auf Englisch verfassten, aber bisher nur in deutscher Übersetzung erschienenen Essay des deutsch-israelischen Philosophen Omri Boehm um das Ende des Staates Israel. Die These lautet: Durch das Vorgehen der Siedlerbewegung sei die Zweistaatenlösung endgültig obsolet geworden. Solle die Idee des Zionismus überleben, müsse sie von staatlicher Souveränität gelöst werden. Der Friedensplan von Oslo müsse aufgekündigt, die »Staatlichkeit« Israels »neu gedacht« werden. Israel und eine entstehende politische Einheit Palästina sollten nach den Vorstellungen Boehms in einer föderalen Beziehung zueinander stehen.

Dass europäische und US-amerikanische Rechte die Politik Netanyahus unterstützen, wird zu einem Argument gegen die Staatlichkeit Israels.

Damit greift der Autor auf Ideen zurück, die von zionistischen Anführern, linken wie rechten, lange vor der Staatsgründung und der Shoah formuliert worden sind. So beruft sich der 1979 in Haifa geborene Boehm unter anderem auf den Rechtszionisten Wladimir Ze’ev Jabotinsky. Dieser begründete den zionistischen Revisionismus und war ein Gegenspieler David Ben-Gurions. Heutzutage gilt er als protofaschistischer, autoritärer Bellizist, er wurde von seinen politischen Gegnern auch schon mal als »jüdischer Mussolini« bezeichnet. Jabotinsky unterschied sich von den meisten zionistischen Denkern vor allem dadurch, dass er die Forderungen der im Mandatsgebiet Palästina lebenden Araber nicht ignorierte. Für ihn stand fest, dass sowohl Juden als auch Araber einen legitimen Anspruch auf das Land hatten und dass es unweigerlich zu einem Konflikt kommen werde. Jabotinsky war sich völlig im Klaren darüber, dass die arabische Welt eine »jüdische Heimstatt« jedweder Gestalt nicht akzeptieren würde. Er pochte deshalb darauf, dass ein jüdischer Staat eine starke Verteidigungsarmee brauche. In einer Schrift von 1906 schlug er vor, eine föderative Ordnung einzurichten, in der jedes der beiden Völker seine eigene Verwaltung stellen und sich beide in einer jüdisch-arabischen Republik vereinen würden.

Menachem Begin, von 1977 bis 1983 Israels erster rechter Ministerpräsident, gehörte zu Jabotinskys Schülern. Er griff die Ideen seines politischen Mentors auf, um zu einer Lösung für die besetzten Gebiete des Westjordanlands zu kommen. Sein Plan sah vor, dass Israelis und ­Palästinenser Bürger ihres jeweils eigenen Landes wären und der jeweiligen Jurisdiktion unterstünden, es aber beiden Seiten gestattet wäre, Land im jeweils anderen Teilstaat zu kaufen. Israelis hätten im Westjordanland und im Gaza-Streifen leben können, Palästinenser in Israel. Bekanntlich ist Begins Plan nicht verwirklicht worden, obwohl die Knesset ihn angenommen hat. Boehm stellt ihn ins Zentrum seiner Überlegungen.

In seiner Vision eines »ethnisch neutralen« Israel hat der Judenstaat seine Souveränität aufgegeben. Anschließend an die Ideen des Brit-Shalom-Kreises, Überlegungen Hannah Arendts zum Zionismus sowie frühe zionistische Diskussionen aus der Zeit vor der Shoah spricht sich Boehm für eine jüdische Selbstbestimmung jenseits staatlicher Souveränität aus, die erst durch die Shoah Einzug in den Zionismus gehalten habe und notwendigerweise die Vertreibung der arabischen Bevölkerung – die sogenannte Nakba – durch die israelische Armee zur Folge haben musste. Diese Vertreibung sei also durch die Shoah bedingt. Ein souveränistischer Zionismus musste, so Boehm, einen verbrecherischen Kern haben. Dass die arabischen Staaten 1948 noch in der Gründungsnacht des Staates Israel gegen diesen einen Krieg begannen, in dessen Folge es erst zu den Vertreibungen kam, erwähnt er nicht. Unterschlagen wird auch der Umstand, dass die arabischen Nachbarstaaten jegliche Teilungspläne von vornherein ablehnten, da sie eine wie auch immer geartete »jüdische Heimstatt« in Palästina immer zu bekämpfen gedachten. Erst durch die militärische Niederlage im Sechs­tagekrieg 1967 lernten zumindest einige arabische Staaten, die Existenz Israels zu akzeptieren.

Wie viele Israel-Kritiker spricht Boehm ausgiebig über Israel und seine Politik, lässt aber arabische beziehungsweise palästinensische ­Akteure, deren Interessen und Politik außen vor. Sein utopisches Gebilde scheint angesichts der verfahrenen Realität in gewisser Weise verlockend. Doch bleibt der Plan einer Art selbstverwalteten Föderation, an der Juden und Araber beteiligt sein sollen, eine wohlfeile Gedankenspielerei; er kommt zudem den Forderungen der antisemitischen BDS-Bewegung recht nahe.

Boehm unterstellt, dass die Regierungspolitik von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und die teils offen reaktionären Tendenzen, die derzeit in Israel erstarken, so etwas wie die heimliche Essenz des Zionismus seien. Allerdings stellt er sich niemals der Frage, ob die Palästinenser überhaupt Interesse an einer gemeinsamen Republik hätten und was der Kern arabischer Israel-Politik sein könnte. Die politische Realität auf palästinensischer Seite sowie deren Verantwortung für das Scheitern der Zweistaatenlösung kommen ebenso wenig vor.

»Die Vorstellung einer binationalen Föderation, einst urzionistischer Konsens, wurde aus dem zionistischen Denken ausgelöscht – begraben unter dem Holocaust und der Umsiedlungspolitik«, schreibt der Autor. Der historischen Zäsur, die die Vernichtung von sechs Millionen Juden und Jüdinnen auch und gerade für das ­zionistische Denken bedeutet, widmet er gerade mal einen Absatz. Zwar sieht Boehm die raison d’être des Staates Israels in der Erinnerung an die Shoah und der Verhinderung ihrer Wiederholung. Doch seiner Meinung nach ist gerade die Shoah zum Ballast geworden. Folgerichtig müsste man dann aber die Erinnerung an sie eliminieren. Nun weiß auch Boehm, dass eine solche Forderung barbarisch wäre, also fordert er vorsichtiger, dass das staatlich vermittelte Gedenken an die ­Opfer der deutschen Verbrechen abgeschafft werden müsse, um sich ihrer wirklich erinnern zu können.

Da die Shoah Boehms Darstellung zufolge direkt zur Nakba geführt hat, verlangt er der Fairness halber von den Arabern, gleichermaßen den Bezug auf die Nakba aufzugeben, damit sich beide Seiten einander annähern könnten. Allerdings lässt sich weder die industrielle Massenvernichtung der europäischen Juden mit der Flucht und Vertreibung von arabischen ­Palästinensern aus Teilen des früheren britischen Mandatsgebiets Palästina vergleichen, noch besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen beiden historischen Ereignissen. Generell lebt Boehms Buch von solchen Suggestionen. So vergleicht er den Zionismus an einer Stelle mit ­jüdischen Kapos in den Konzentrationslagern und lässt auch sonst keine Gelegenheit aus, den Zionismus in die Nähe historischer und zeitgenössischer Nazis zu rücken.

Die Politik von Benny Gantz, behauptet Boehm, entspreche jener der AfD. Er bemüht linke wie rechte deutsche Ressentiments gegen Israel. Dass europäische und US-amerikanische Rechte die Politik Netanyahus unterstützen, wird zu einem Argument gegen die Staatlichkeit Israels. Anstatt aktuelle politische Entwicklungen zu kritisieren und als Ergebnis einer gesellschaftlichen Entwicklung und demokratischer Aushandlung zu verstehen, vertritt Boehm die Meinung, dass der Zionismus und die Idee eines jüdischen Staats schon immer verbrecherisch gewesen seien. Beim deutschen Publikum wird er eine dankbare Leserschaft finden, denn das, was der Autor als Ent­hüllung über Israel darstellt, wissen deutsche Friedensbewegte schon längst. Boehm kommt jedoch zu dem eigenartigen Schluss, dass der Kan­tische Begriff der Aufklärung erst dann verwirklicht werde, wenn deutsche Intellektuelle Israel kritisieren. Als ob in deutschen Zeitungen diese Form von »Aufklärung« nicht täglich praktiziert würde.

Omri Boehm: Israel – eine Utopie. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Propyläen, Berlin 2020, 256 Seiten, 20 Euro