Die deutsche Linke relativiert den Genozid von Srebrenica vor 25 Jahren

Srebrenica und die deutsche Linke

Der Genozid von Srebrenica wurde auch von Teilen der deutschen Linken lange relativiert. 25 Jahre nach den Massakern wäre es an der Zeit für eine Aufarbeitung.

Am 11. Juli wurden acht Männer in Poto­čari bei Srebrenica beigesetzt, 25 Jahre nach ihrer Ermordung. Die Suche nach den Opfern des Genozids an den Bosniaken, den bosnischen Muslimen, gestaltet sich schwierig. Die Mörder haben viele der Leichen in sogenannten sekundären Massengräbern verscharrt, um die Ausmaße des Verbrechens zu verschleiern. In manchen Fällen lagen die sterblichen Überreste einer Person in vier verschiedenen Gräbern. Noch immer sind nicht alle Opfer identifiziert worden, noch immer warten Angehörige darauf, dass man die sterblichen Überreste ihrer ermordeten Freunde, Ehemänner, Brüder, Söhne und Väter findet.

Im Juli 1995 ermordete die Armee der Republika Srpska über 8000 Menschen, vor allem Männer und Jungen, aus der UN-Sicherheitszone Srebrenica. Der bosnisch-serbische General Ratko Mladić gab den Befehl, sie zu töten, weil sie Muslime waren. Die in der Sicherheitszone stationierten niederländischen Blauhelmsoldaten verteidigten die Menschen nicht, sondern halfen bei der Selektion. Ein Genozid, der vor den Augen der Weltöffentlichkeit stattfand – mit logistischer Unterstützung der Vereinten Nationen.

Autonome in Deutschland stellten sich in den neunziger Jahren zwar schützend vor Flüchtlingsheime, schafften es aber oft nicht, jene klar zu verurteilen, wegen derer überhaupt Hunderttausende aus Jugoslawien fliehen mussten. Im Gegenteil: Teile der deutschen Linken standen auf Seiten der Kriegstreiber.

Der Massenmord von Srebrenica, den UN-Gerichte als Genozid einstuften, wurde von Teilen der deutschen Linken lange Zeit relativiert. Bei der Suche nach Schuldigen für den Kriegsausbruch in Jugoslawien haben deutsche Linke und serbische Nationalisten lieber nicht auf die Kriegsverbrecher Slobodan Milošević und Radovan Karadžić gezeigt, sondern auf den deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Dieser habe 1991 mit seiner frühen Anerkennung der Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens Jugoslawien »zerschlagen«, der Krieg selbst sei Produkt deutschen, und nicht etwa serbischen, Großmachtstrebens gewesen.

Jugoslawien diente der deutschen radikalen Linken in den neunziger Jahren vornehmlich als Projektionsfläche für die Kritik an der frisch vergrößerten Bundesrepublik Deutschland. Die Entwicklungen in Jugoslawien selbst und die Verantwortung von Akteuren vor Ort wurden meist ebenso ignoriert wie die im April 1992 beginnenden Massaker an der muslimischen Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas. Autonome in Deutschland stellten sich damals zwar schützend vor Flüchtlingsheime, schafften es aber oft nicht, jene klar zu verurteilen, wegen derer überhaupt Hunderttausende aus Jugoslawien fliehen mussten. Im Gegenteil: Teile der deutschen Linken standen auf Seiten der Kriegstreiber.

Einige solidarisierten sich mit dem serbischen Kriegsverbrecher Slobodan Milošević, weil dieser nominell Sozialist war. Andere solidarisierten sich mit »den Serben«, weil sie die Schablone des Zweiten Weltkriegs auf die Jugoslawien-Kriege der neunziger Jahre legten: Die Deutschen als böse Nazis, die Serben als tapfere Partisanen. Für jene Serben, die gegen den Krieg und das Milošević-Regime protestierten, war in dieser Sichtweise kein Platz.

Einige Linksradikale vertraten zwar eine nationalismuskritische Sicht, die die westliche Einflussnahme verurteilte, die Hauptschuld für den Konflikt aber bei den politischen Führungsschichten der jugoslawischen Teilstaaten, vor allem Serbiens und in geringerem Maße Kroatiens, sah, und sich für den Erhalt eines multiethnischen Bosnien-Herzegowinas einsetzte. Doch machten sich trotz der Spaltung anlässlich des Irak-Kriegs 1991 sowohl Antiimperialisten als auch Antideutsche mit serbischen und bosnisch-serbischen Kriegsverbrechern gemein. Bei den Antiimperialisten gehörte Werner Pirker zu den Wortführern, bei den Antideutschen waren es unter anderem Jürgen Elsässer und Justus Wertmüller. Fraktionen, die sich ansonsten spinnefeind waren, kamen zusammen, wo es darum ging, Mladićs und Miloševićs Soldateska gegen Kritik zu verteidigen.

Vier Jahre nach dem Genozid von Srebrenica kritisierte Justus Wertmüller in der Jungle World jene, die sich nicht bedingungslos hinter Serbien stellten oder es gar wagten, Milošević einen »Faschisten« zu nennen. Wertmüller verteidigte den serbischen Natio­nalismus, forderte von deutschen Linken, diesen nicht zu kritisieren, und schrieb in der Zeitschrift Bahamas, dass die Opposition in Serbien schlimmer sei als Miloševićs Regierung – wohlgemerkt zu einer Zeit, als Milošević mit der rechtsextremen Serbischen Radikalen Partei koalierte, deren Freischärlerbanden Massaker an Tausenden Zivilisten in Bosnien-Herzegowina, Kroatien und dem Kosovo verübten. Solche Positionen trugen zu weiteren Spaltungen in der radikalen Linken bei.

Einige Antinationalisten waren vernünftig genug, den Kosovo-Krieg nicht zum Anlass für eine kritiklose Solidarisierung mit dem ultranationalistischen serbischen Regime zu nehmen; andere Teile der deutschen radikalen Linken schienen sich nicht besonders daran zu stören, dass Zehntausende Musliminnen und Muslime ermordet oder vergewaltigt wurden, weil sie Muslime waren.

Das antiimperialistische Pendant zu Wertmüller war Werner Pirker. In der Jungen Welt bezeichnete er die ethnischen Säuberungen Mladićs als »Kampf für nationale Selbstbestimmung«, das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag als »antiserbische Gerichtsbarkeit«. Nach dem Tod von Slobodan Milošević 2006 gab Pirker in einem Nachruf seiner Hoffnung Ausdruck, dieser werde eines Tages als »Held von Den Haag« in die Geschichtsbücher eingehen. Als der serbische Präsident Tomislav Nikolić in einem Interview im Jahr 2013 darum bat, Serbien die in Srebrenica begangenen Verbrechen zu verzeihen, nannte Pirker dies einen »erbärmlichen Kniefall«. Die Massaker in Srebrenica bezeichnete Pirker als einen Racheakt, verübt nur, weil zuvor bosniakische Freischärler mit »mörderischem Vergnügen den türkischen Brauch des Enthauptens« ausgeübt hätten. Pirker leugnete bis zu seinem Tod 2014, dass in Srebrenica ein Völkermord stattgefunden hat. Zwei Jahrzehnte lang erschienen solche Texte in einer sich als links verstehenden Zeitung.

Jürgen Elsässer gehörte in den neunziger Jahre zu jenen radikalen Linken, die sich auf die Seite serbischer Kriegsverbrecher stellten und behaupteten, dass es sich bei vielen Bosniaken, also den Opfern des Genozids von Srebrenica, um Islamisten gehandelt habe. Elsässer radikalisierte seine Positionen schrittweise. Schrieb er noch 2002 in der Konkret, dass es wahrscheinlich 2 000 bis 3 000 Tote in Srebrenica gegeben habe, reduzierte er seine Einschätzung 2003 im Freitag auf 1 500 Opfer. In der Jungen Welt schrieb er bereits 2004 vom »Srebrenica-Mythos«. Je offenkundiger das Ausmaß der Massaker wurde, umso mehr bagatellisierte Elsässer den Massenmord. Solche Texte verfasste er damals für fast jedes linke Blatt, das am Kiosk erhältlich war. Bei seiner Reise von der radikalen Linken zur extremen Rechten blieb Elsässer seinen Positionen zu den Jugoslawien-Kriegen treu, inzwischen verkauft er dieselbe Interpretation dieser Kriege und des Massakers von Srebrenica an ein extrem rechtes Publikum. Dass diese Narrative in beiden Lagern auf Zustimmung trafen und treffen, sollte zumindest den progressiven Kräften in der deutschen Linken zu denken geben.

Wie akzeptiert solche Positionen und die Relativierung des Genozids in Srebrenica auch heutzutage noch sind, konnte man bei der Verleihung des Literaturnobelpreises an Peter Handke 2019 beobachten. Große Teile des linken Feuilletons spendeten Handke Beifall. In der Jungle World begrüßte Magnus Klaue die Ehrung Handkes, weil den Preis ein Mensch erhalte, »der schreiben kann«. Nonchalant bemerkte er über Handke, man müsse »nicht seine politische Meinung teilen, um in ihm einen würdigen Preisträger zu sehen«, ganz so, als wäre die Leugnung von Völkermord und die Parteinahme für die Täter eine von vielen möglichen Meinungen, die man eben zu akzeptieren hätte, weil der Autor mal ein paar gute Bücher geschrieben habe.

Handke argumentierte ähnlich wie die Elsässer, Pirker und Wertmüller: Die Serben seien dämonisiert worden, der Massenmord von Srebrenica sei kein Völkermord, sondern ein Rachemassaker gewesen, das er nicht völlig verurteilen könne. Alle Parteien seien gleich schlimm, und wenn eine schlimmer sei als die andere, dann bestimmt nicht »die Serben«, sondern die »Muselmanen« – tatsächlich schreckte Handke nicht davor zurück, dieses Wort in seinen Jugoslawien-Texten zu verwenden.

Nach dem Genozid in Srebrenica haben deutsche Linke angezweifelt, ob dort Menschen ermordet wurden. Dabei begannen die Massaker und ethnischen Säuberungen gegen Muslime beziehungsweise Bosniaken bereits im April 1992 im Drinatal an der Grenze zwischen Serbien und Bosnien-Herzegowina. Die Schutzbehauptung vieler Linker, dass sie 1995 nichts von Srebrenica hätten wissen können, klingt da doch sehr deutsch.