Proteste für einen verhafteten Gouverneur im Fernen Osten Russlands

Verhaftet und abgesetzt

In Russlands fernem Osten protestieren Zehntausende für den Gouverneur Sergej Furgal, der wegen angeblicher Auftragsmorde im Gefängnis landete.

So etwas hat Chabarowsk noch nicht erlebt. Seit am 11. Juli in der 600 000 Einwohner zählenden Stadt im russischen Fernen Osten bis zu 35 000 ­Menschen ohne jegliche Genehmigung demonstrierten, ebben die Proteste dort nicht ab. Täglich finden Versammlungen auf der Straße statt, am Samstag stieg die Zahl der Teilnehmenden auf mindestens 50 000. Die gesamte Region befindet sich im Aufruhr und selbst im benachbarten Wladiwostok und in Birobidschan, der Hauptstadt des Jüdischen Autonomen Gebiets, ­erklären immer mehr Menschen ihre Solidarität. Während Staatsmedien über zugereiste Provokateure lamentieren und die Lokalregierung ver­­bale Schadensbegrenzung betreibt, hält sich die Polizei auffallend zurück.

Anders als im acht Flugstunden entfernten Moskau, wo vor einem Jahr ­Oppositionskundgebungen in Strafprozesse wegen vermeintlicher Massenunruhen mündeten und es auch vergangene Woche zu Festnahmen kam, scheinen die Chabarowsker Sommeraktivitäten selbst Hardliner aus dem Konzept gebracht zu haben.

Am Morgen des 9. Juli war der Gouverneur der Region Chabarowsk, Sergej Furgal, festgenommen worden, am Montag wurde er per Dekret abgesetzt. Es ist nicht die erste Verhaftung eines amtierenden Regionalfürsten, aber gegen niemanden zuvor lauteten die ­Vorwürfe auf Auftragsmorde, die noch dazu über 15 Jahre zurückliegen. Denkbar ungünstig wirkte sich zudem der Zeitpunkt der Ermittlungen aus. Die Zustimmung zu den jüngsten Ver­fassungs­änderungen lag bei den Chaba­rowsker Wahlberechtigten weit nied­riger als landesweit, die Wahlbeteiligung war unterdurchschnittlich.

Die Region Chabarowsk ist reich an Rohstoffen, aber das Lohnniveau ist niedrig. Zudem befinden sich wesentliche Teile der Wirtschaft unter der Kontrolle von Moskauer Geschäftsleuten. Dass der 50jährige Furgal nicht nur verhaftet, sondern auch demonstrativ in die ungeliebte Hauptstadt überstellt wurde, trieb selbst jene auf die Straße, die sich vor Jahren noch für die Annexion der Krim begeisterten und zur Anhängerschaft von Präsident Wladimir Putin zählten. Die Protestierenden verlangen die Freilassung Furgals oder zumindest einen fairen Prozess an Ort und Stelle, aber die politische Dimension der Proteste reicht weit über dessen Person hinaus. So gehört zu den Forderungen die Absetzung aller aus dem Chabarowsker Gebiet entsendeten Abgeordneten von Putins Hauspartei Einiges Russland in der Staatsduma sowie im Regionalparlament. Mehr noch, Einiges Russland soll im Fernen Osten gleich ganz verboten, Putin abgesetzt und lokale Betriebe sollen unter Gebietsaufsicht gestellt werden.
So viel politisches Selbstbewusstsein bei der Bevölkerung, die in Putins Machtgefüge als Subjekt keine Anerkennung findet oder gar nicht erst auftaucht, kommt nicht von ungefähr. Ausgangspunkt für das jetzige Geschehen war der September 2018. Wahlen sind in den russischen Regionen ein abgekartetes Spiel, und so sollte der damalige Gouverneur Wjatscheslaw Schport nach zwei Amtszeiten weitermachen. Als dessen Gegenspieler, der nach den Plänen der russischen Regierung zu unterliegen hatte, fungierte Sergej Furgal, der damals bereits seit zehn Jahren für die rechtsnationalistische Liberaldemokratische Partei (LDPR) in der Duma saß. Weil er seine vorgesehene Rolle nicht in Frage stellte, führte Furgal nicht mal einen Wahlkampf, aber nach dem ersten Wahlgang lag er trotzdem vor Schport.

An diesem Punkt hätte Furgal einen Rückzieher machen müssen, aber er trat zur Stichwahl an, aus der er als klarer Sieger hervorging. Warum er sich auf dieses riskante Spiel eingelassen hat, ist unklar. Eine Version lautet, dass der Vorsitzende der LDPR, Wladimir Schirinowskij, diese Chance nicht ungenutzt lassen wollte. Mit der Unterstützung einer realen Wählerschaft, von der fast jeder andere russische Gouverneur nur träumen kann, füllte Furgal, ein ehemaliger Arzt, seine Rolle von nun an auf eine überaus untypische Weise aus. Er ließ die Beamten- und Abgeordnetengehälter – auch sein eigenes – kürzen, suchte den Kontakt zur Bevölkerung und gewährte Zuschüsse für Flugtickets, um die Mobilität in der abgeschiedenen Region zu erhöhen. Im Gedächtnis bleiben Videoaufnahmen, die zeigen, wie Furgal bei einem Kabinettstreffen das gängige Zweiklassen­system bei Schulspeisungen kriti­sierte – es gab verschiedene Mahlzeiten abhängig davon, ob die Eltern der Kinder zuzahlten. Inzwischen erhalten alle die gleiche Ration.

Furgal hat als Gouverneur zumindest für einen Hoffnungsschimmer gesorgt. Die Bevölkerung dankte es ihm im vergangenen Jahr und strafte Einiges Russland bei den Gebietsparlamentswahlen erneut ab, die LDPR gewann haushoch. Aber es handelte sich dabei nicht um Zuspruch für Wladimir Schi­rinowskijs chauvinistisches Auftreten. Weder verfügt die LDPR in Chabarowsk über ein klares ideologisches Konzept, noch existiert sie als straffe Kader­organisation. Als älteste aller offiziell registrierten russischen Parteien schlägt sie Kapital aus ihren sich daraus ergebenden Vorteilen, denn Regionalparteien sind nicht erlaubt und neue Parteien können nur mit Unterstützung des Kreml entstehen. Bekannt ist die LDPR aber auch als Sammelbecken für kriminelle oder am Rande der Legalität agierende Geschäftsleute.
Würde man eine Kriminalgeschichte des heutigen Russland schreiben, fänden die LDPR und Furgal darin zweifellos ihren Platz. Letzterer gab seinen Arztberuf auf, um in den neunziger Jahren in den Buntmetallhandel einzusteigen. Saubere Geschäfte sind kein Charakteristikum jener Zeit, aber das gilt in gleichem Maß wie für Furgal für die gesamte politische Führungsschicht. Im Übrigen ist es durchaus möglich, dass die politischen Umtriebe Furgals bei der Abrechnung mit ihm nur eine Nebenrolle spielen. Seine Frau hält 25 Prozent Anteile am Unternehmen Amurstal, dessen Stahlproduktion bei dem geplanten Bau einer Brücke vom Festland auf die Insel Sachalin eine Schlüsselfunktion zukommen wird. Weitere 25 Prozent gehörten bis vor kurzem Nikolaj Mistrjukow, der im November festgenommen wurde und seinen Anteil erst danach an den Haupteigner Pawel Balskij übertrug. Mistrjukow hat nun gegen Furgal ausgesagt. Balskij wiederum dient als eine Art Strohmann der Brüder Arkadij und Boris Rotenberg, deren freundschaftliche Beziehungen bis zum Präsidenten reichen. Nicht ausgeschlossen ist, dass Furgals Verhaftung dazu dienen soll, an den 25prozentigen Anteil an Amurstal zu kommen, den pro forma seine Frau hält.