In Deutschland ist Vermögen extrem ungleich verteilt

Deutschlands unterschätzte Ungleichheit

Die ungleiche Verteilung der Vermögen in Deutschland ist noch deutlicher als bislang angenommen, die Armut wächst, die Löhne steigen kaum. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Schwäche der Gewerkschaften.

»Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich«, reimte Bertolt Brecht 1934 in seinem Gedicht »Alfabet«. Dass Vermögen in Deutschland extrem ungleich verteilt sind, ist nichts Neues, und ebenso wenig, dass dieser Missstand sich in den vergangenen Jahren stetig verschlimmert hat. Die bisherigen empirischen Untersuchungen zur Einkommens- und Vermögens­verteilung wiesen jedoch eine große Datenlücke auf: Diejenigen mit den höchsten Einkommen und die Besitzer sehr großer Vermögen tauchten in Bevölkerungsbefragungen und anderen Erhebungen kaum auf. Das führt zu ­einem falschen Bild von der tatsächlichen Vermögensverteilung.

Eine neue Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) schließt diese Datenlücke zumindest teilweise. In drei Jahren Recherchearbeit haben die Forscher mittels Befragungen und anderer Datenerhebungen auch die Vermögensverhältnisse von Millionären untersucht und kommen zu wenig überraschenden Ergebnissen: Die Vermögenskonzentration ist in den vergangenen Jahren weiter gestiegen, bei Einbeziehung auch der höchsten Einkommen erweist sich die soziale Ungleichheit hierzulande als noch dramatischer als bisher angenommen.

So besitzen die reichsten zehn Prozent der Haushalte in Deutschland nicht wie bisher angenommen 59 Prozent des Gesamtvermögens, sondern zwei Drittel. Das reichste Prozent besitzt statt 22 rund 35 Prozent des Gesamtvermögens. Die Hälfte der Bevölkerung hat hingegen kein oder nur ein geringes Vermögen von maximal 22 800 Euro pro Kopf. 20 Prozent der Haushalte sind verschuldet. »Deutschlands ohnehin schon hohe Vermögens­ungleichheit wurde bisher deutlich ­unterschätzt«, so Johannes König, einer der Forscher der DIW-Studie.

Bei der Vermögensungleichheit nimmt Deutschland im internationalen Vergleich einen Spitzenplatz ein. Das verbreitetste Maß der Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen ist der Gini-Koeffizient. Dieser kann Werte zwischen 0 und 1 annehmen. Beträgt er null, ist das Gesamtvermögen völlig gleichmäßig verteilt, beträgt er eins, besitzt ein einzelner sämtliches Vermögen und alle anderen besitzen nichts. Die DIW-Studie ergibt für die Vermögensverteilung in Deutschland einen Gini-Koeffizienten von 0,83. In der Euro-Zone ist Deutschland damit neben Österreich das Land mit der höchsten Ungleichheit der Vermögen. Gewachsen ist die Ungleichheit auch bei den Einkommen. So stieg bei den verfügbaren Haushaltseinkommen der Gini-Koeffizient seit 1999 rapide an und liegt gegenwärtig bei 0,29, 20 Prozent höher als noch vor 20 Jahren.
Dem stetig wachsenden Reichtum steht eine stetig wachsende Armut ­gegenüber. Der gängigen Definition zufolge gilt als arm, wer weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Nettohaushaltseinkommens zur Verfügung hat. Darunter fallen in Deutschland inzwischen mehr als 18 Prozent der Bevölkerung.

Lag der Anteil der Armen bis Mitte der neunziger Jahre noch bei etwa zehn Prozent, stieg er im Zuge der Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Bundesregierung in den nuller Jahren enorm an.

So sind nach Angaben des Statistischen Bundesamts inzwischen 20 Prozent der Minderjährigen in Deutschland arm – allein das sind etwa drei Millionen Menschen. Armut ist oftmals ein dauerhafter Zustand; mehr als die Hälfte der Betroffenen im Alter zwischen sieben und 15 Jahren sind drei Jahre und länger auf staatliche Grundsicherung angewiesen. Die Armut im Alter wächst ebenfalls: Waren vor zehn Jahren noch 10,3 Prozent der über 65jährigen von Altersarmut betroffen, sind es mittlerweile bereits 15,6 Prozent. Zugleich steigt auch die Zahl derjenigen, die trotz Arbeit in relativer Armut leben, kontinuierlich an.

So waren nach Angaben der Bundesregierung zuletzt 1,2 Millionen Erwerbstätige ­zusätzlich zu ihrem Einkommen auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen. Die Bundesregierung geht von weiteren zwei Millionen Erwerbstätigen aus, die keine solchen Leistungen beziehen, obwohl sie berechtigt wären. Etwa 7,7 Prozent der Erwerbstätigen sind Schätzungen zufolge arm. Die Umstrukturierung des Arbeitsmarkts unter der rot-grünen Regierung ließ einen enormen Niedriglohnsektor entstehen, in dem die Lohnabhängigen immer ­ärmer wurden.

Dass soziale Ungleichheit und Armut wachsen, stellen auch weite Teile der Bevölkerung fest. In einer 2016 veröffentlichten repräsentativen Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung gaben 82 Prozent der Befragten an, »dass die soziale Ungleichheit in Deutschland mittlerweile zu groß« sei. Von denen, die so antworteten, betrachteten 72 Prozent eine Erhöhung der Löhne und Gehälter als geeignetes Mittel, um soziale Unterschiede zu verringern. Wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass die Löhne in Deutschland seit Jahren deutlich langsamer steigen als die Unternehmensgewinne. Ähnlich viele befürworteten eine stärkere Besteuerung von hohen Einkommen und Vermögen sowie einer steuerlichen Entlastung von mittleren und unteren Einkommen.

Während der Reichtum hierzulande in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich wuchs, bekommen die Lohnabhängigen davon immer weniger ab. So stieg das deutsche Bruttoinlandsprodukt von 1995 bis 2017 um 71,9 Prozent, Löhne und Gehälter stiegen hingegen lediglich um 43 Prozent. Berücksichtigt man, dass in dem Zeitraum die Kaufkraft der Löhne und Gehälter gesunken ist, sieht die Entwicklung noch schlechter aus: Inflationsbereinigt stiegen die Verdienste seit 1995 gerade mal um 5,1 Prozent.
Diese Entwicklung liegt auch am Bedeutungs- und Mitgliederverlust der DGB-Gewerkschaften. Ihnen gelingt es häufig nicht mehr, Lohnerhöhungen durchzusetzen, die die Beschäftigten am wachsenden Wohlstand teilhaben ließen. In den vergangenen 15 Jahren verloren die acht Mitgliedsgewerkschaften des DGB mehr als eine Million Mitglieder. Mittlerweile sind nur noch 17 Prozent der lohnabhängig Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert.

Die damit einhergehende mangelnde Durchsetzungsfähigkeit hat Auswirkungen auf alle Beschäftigten. Waren 1996 die Löhne von 82 Prozent aller Arbeitnehmer durch Tarifverträge geregelt, sind es mittlerweile nur noch 54 Prozent.
Die Lohnabhängigen als die Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums gehen folglich bei der Verteilung von dessen Zuwächsen weitgehend leer aus.

Die Umstrukturierung des ­Arbeitsmarkts unter der rot-grünen Regierung ließ einen riesigen Niedrig­lohnsektor entstehen, in dem die Lohnabhängigen immer ärmer wurden.

Das liegt auch an der geringen Intensität, mit der die Auseinander­setzungen um diese Verteilung geführt werden. In kaum einem Land in Europa wird so wenig gestreikt wie in Deutschland. Zwischen 2007 und 2016 fielen hierzulande im Jahresdurchschnitt pro 1 000 Beschäftigten rechnerisch 16 Arbeitstage durch Streiks aus. In Frankreich waren es in der Privatwirtschaft mit 117 Tagen mehr als siebenmal so viele, ähnlich in Dänemark mit 119.

Auch in Belgien, Spanien, Irland, Norwegen und Finnland wird bedeutend häufiger gestreikt, seltener dagegen nur in Österreich und einigen osteuropäischen Staaten. Kein Wunder, betonen doch alle DGB-Gewerkschaften in ­ihren Veröffentlichungen, dass sie Streiks möglichst vermeiden wollen. So heißt es in Broschüren der beiden größten DGB-Gewerkschaften IG Metall und Verdi gleichlautend: »Der Streik ist immer das letzte Mittel, um berechtigte Forderungen der Gewerkschaften durchzusetzen.«

Stattdessen bemühen sich die Gewerkschaften noch immer weitgehend um sozialpartnerschaftlichen Interessenausgleich und den vielbeschworenen »Klassenkompromiss« der sozialen Marktwirtschaft – ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass diesen die Gegenseite längst aufgekündigt hat. An der ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen wird sich so wohl auch in den kommenden Jahren kaum etwas ­ändern. Vielmehr dürften die ökonomischen Folgen der Covid-19-Pandemie die soziale Ungleichheit weiter verschärfen.