Leon Saltiel, griechischer Historiker, im Gespräch über den Holocaust und die Zerstörung des jüdischen Friedhofs in Thessaloniki

»Mir geht es darum, wer was getan hat«

In seinem jüngst erschienenen Buch »The Holocaust in Thessaloniki: Reactions to the Anti-Jewish Persecution, 1942–1943« (Routledge 2020) hat Leon Saltiel das Verhalten der unter deutscher Besatzung operierenden griechischen Führungsschicht – also der Stadtverwaltung, der Kirche, der Universität, der Gerichte und Berufsverbände – untersucht. Thessaloniki galt vor der Besatzung durch die Wehrmacht als »Jerusalem des Balkan«; 95 Prozent der griechischen Juden Thessalonikis wurden in deutschen Konzentrationslagern ermordet, die meisten von ihnen in Auschwitz. 50 000 Juden, knapp 20 Prozent der ­Bevölkerung der Stadt, wurden ab 1943 deportiert.
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Was trägt Ihr Buch zur jüngeren griechischen Debatte über Kolla­boration während des Zweiten Weltkriegs bei?

Ein Grund für meine Forschung war, das Narrativ genauer zu untersuchen, das in Griechenland lange existiert hat. Dieses lautete: Wir waren Opfer. Die Nazis sind gekommen und es gab nichts, was wir hätten tun können. Selbst wenn wir kollaboriert haben, dann nur weil wir es mussten. – In ­meinem Buch zeige ich, dass es viele Grautöne gab. Es gab Widerstand und Kollaboration und alles, was dazwischen liegt. Viele Leute waren auch einfach froh über das, was die Deutschen in Griechenland gemacht haben. In manchen Fällen ging die Initiative auch von den griechischen Eliten aus, etwa bei der Zerstörung des jüdischen Friedhofs von Thessaloniki. In Athen war die Reaktion auf die Deportation thessalonikischer Juden ganz anders als in Thessaloniki selbst. Das zeigt, dass es im selben Land verschiedene Arten und Möglichkeiten gab, mit dem Holocaust umzugehen. Die Debatte über den Holocaust in Griechenland hat sich geändert, aber sie wird noch immer nicht sehr ernsthaft geführt. ­Einer der Gründe dafür ist, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg in Griechenland zu einem Bürgerkrieg gekommen ist. Das macht die ganze Diskussion so schwierig, weil es 1945 nicht wirklich einen Neubeginn gab.

Als ich im Jüdischen Museum in Berlin war, habe ich erfahren, dass in ­Berlin, im Herzen des Nationalsozialismus, 1 900 Juden versteckt wurden. In Thessaloniki waren es 50. Es ist also ein wenig wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern: Wenn mehr als 90 Prozent der Juden verschwinden, weiß ­insgeheim jeder, dass es den Leuten egal war. Aber es gab bis jetzt kein Buch, dass das wissenschaftlich fundiert dargestellt hat.

Sie schreiben, dass es keine europaweite Politik der Nazis bezüglich des Umgangs mit jüdischen Friedhöfen gab. Daher ist die Zerstörung und Plünderung des 350 000 Quadratmeter großen jüdischen Friedhofs von Thessaloniki eine Besonderheit. Wie kam es dazu und in welchem Zusammenhang steht die Zerstörung des Friedhofs mit der Vernichtung der Juden?

Den Deutschen war es wichtig, dass es in Thessaloniki »friedlich« zugeht, dass alles seinen Gang geht, und dazu brauchten sie die lokale Bevölkerung. Sie haben daher immer versucht, mit den Einheimischen zusammenzuarbeiten. Die Einheimischen haben ihrerseits die Deutschen bevorzugt, denn sie wussten, dass sonst die Bulgaren kommen; die Bulgaren wollten sich Thessaloniki schon lange einverleiben.
Die Thessaloniker wollten schon seit Jahrzehnten den jüdischen Friedhof loswerden. Den Deutschen war der Friedhof völlig egal und dafür, dass sie die Zerstörung zugelassen haben, haben sie sehr viel öffentliche Anerkennung gewonnen. Interessant ist nun, dass die Zerstörung des Friedhofs zeitlich mit der Implementierung der »End­lösung« zusammengefallen ist. Ich meine, und ich hoffe das ­gezeigt zu haben, dass diese zwei Ereignisse nicht logisch miteinander zusammenhingen.

Zugleich sprechen Sie aber auch davon, dass die Zerstörung des Friedhofs eine Vorahnung dessen war, was noch kommen würde – Ghettoisierung und Deportationen.

Im bisherigen Narrativ, auch jenem der Überlebenden, ist es auch so. Für die Opfer ist es eine lineare Entwicklung und eine Eskalation der Maßnahmen: Die Deutschen kamen, haben uns in die Zwangsarbeit geschickt, dann haben sie unseren Friedhof zerstört, uns den gelben Stern angeheftet, uns ghettoisiert und uns schließlich nach Auschwitz deportiert und ermordet. In meinem Buch geht es aber darum, wer was getan hat. Die Zerstörung des Friedhofs war eine lokale Initiative, während die »Endlösung« eine Aktion Eichmanns war, der seine eigenen SS-Leute nach Thessaloniki geschickt hat. Die Deutschen haben den Griechen zur Zerstörung des Friedhofs lediglich grünes Licht gegeben.

Der spätere Uno-Generalsekretär und österreichische Bundespräsident Kurt Waldheim, dessen NS-Vergangenheit der World Jewish Congress vor den österreichischen Präsidentschaftswahlen 1986 thematisierte, war ebenfalls in Thessaloniki stationiert. Haben Sie in Ihren ­Recherchen etwas über seine Verwicklung in die Deportationen ­herausgefunden?

Über die Waldheim-Affäre habe ich ­natürlich gelesen, in meinen Quellen habe ich zu ihm jedoch nichts gefunden. Der Vorwurf lautete damals aber nicht, er sei in die Deportationen ­involviert gewesen, sondern, er habe davon gewusst und es geleugnet.

Ein wichtiges Erklärungsmodell in Ihrem Buch liefert das osmanische Millet-System, eine historisch ­gewachsene Struktur der Trennung und Selbstverwaltung religiöser ­Gemeinden. Wie hilft dieses Modell dabei, den Holocaust in Thessalo­niki zu verstehen?

Die Theorie des Millet-Systems hat ­natürlich ihre Grenzen. Aber die griechischen Eliten sprechen in dieser Zeit selbst von einer »Millet-Mentalität«. Als die Deutschen Thessaloniki besetzen, kommt es zu einer Krise, einem Bruch, wodurch die Bevölkerung in dieser »Millet-Mentalität« Sicherheit sucht – einer alten osmanischen Tradition von Koexistenz und Selbstregierung. Was sich im Vergleich zur osmanischen Herrschaft geändert hat, ist die Tatsache, dass der griechische Staat sich nun als Repräsentant der christlichen Religionsgemeinschaft sieht. Das bedeutet: Er kümmert sich um die christliche Bevölkerung, während sich die jüdische Gemeinschaft um die Juden kümmern musste. Dadurch war es den Juden nicht möglich, Hilfe oder Sicherheit beim griechischen Staat zu suchen, denn dieser ist nach der Logik der »Millet-Mentalität« nur für die Christen zuständig. Ich habe das in meinem Buch anhand der Suppenküchen gezeigt. Dort lesen wir in einem Dokument: »Wir, der griechische Staat« – der Staat, nicht die Kirche! – »kümmern uns um die Christen, und die jüdische Religionsgemeinschaft kümmert sich um die Juden.« Wenn der Staat die Bürger auf der Grundlage von Religion unterscheidet, gibt es keinen Grund, den Juden Solidarität und Hilfe zuzusichern.

Sollte man in diesem Kontext und bei dem griechischen Desinteresse an der beziehungsweise den Antipathien gegen die jüdische Bevölkerung also eher von religiösem Antijudaismus statt von modernem Antisemitismus sprechen?

Es gibt einen Grund, warum der Untertitel meines Buchs »Reactions to the Anti-Jewish Persecution« lautet. Es gab Antisemitismus, aber es ist schwierig, dem ein bestimmtes Etikett aufzukleben. Sicher ist, dass der Antisemitismus der Griechen zu jener Zeit keinen Bezug zu »Rasse« hatte. Darüber haben sich sogar die Nazis beschwert. Außerdem war der griechische Antisemitismus nicht genozidal – die Griechen wollten die Juden loswerden, aber nicht umbringen.

In welchem Zusammenhang steht Ihre Arbeit als Historiker und ­Holocaustforscher mit Ihrer Arbeit bei der Uno – zunächst bei UN Watch und jetzt beim WJC?

Durch meine Forschung habe ich eine besondere historische Perspektive auf die Gegenwart: Alles, was wir heutzutage haben, Uno, Unesco, EU, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, all diese Strukturen basieren auf der Erfahrung des Holocaust. Man kann das Gebäude nicht verstehen, ohne sein Fundament zu betrachten. Die Tatsache, dass die Uno heutzutage delegitimiert ist und die multilaterale Diplomatie auseinanderbricht, hat etwas mit der historischen Entfernung von der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs zu tun.

Exemplifiziert aber nicht gerade die Waldheim-Affäre, dass die Uno dem Anspruch, die Erinnerung an den Holocaust zu wahren, nicht gerecht wurde? Immerhin bekleidete Waldheim von 1972 bis 1981 als Generalsekretär ihr höchstes politisches Amt.

Das ist ein guter Einwand. Die Informationen über Waldheims Vergangenheit kamen allerdings erst später ans Licht. Das entschuldigt natürlich nicht, dass die Uno-Mitgliedstaaten ihn zum Generalsekretär gewählt haben. Sie hätten seine Vergangenheit genau unter die Lupe nehmen müssen und ihn nie wählen sollen.