Ein Interview mit Lorenzo ­Vidino, Direktor des Programms zur Bekämpfung von Extremismus an der George Washington University, über die Muslimbruderschaft im Westen

»Die Muslimbruderschaft ist eine große transnationale Familie«

Für sein kürzlich erschienenes Buch »The Closed Circle: Joining and Leaving the Muslim Brotherhood in the West« interviewte Lorenzo Vidino ehemalige Muslimbrüder in den westlichen Einwanderungsländern. Die Protokolle bieten einen seltenen Einblick in die verschwiegene Organisation. Viel zu wenig sei über ihre Ziele und Strukturen bekannt, kritisiert Vidino. Die westliche Politik solle alles unterlassen, was die Bruderschaft ermächtigt oder legitimiert.
Interview Von

Was lässt sich über die Organisationsstruktur der Muslimbruderschaft in den westlichen Ländern sagen?

Die ersten Mitglieder der Muslimbrüder kamen in den fünfziger und sechziger Jahren nach Europa und Nordamerika, wo sie einige der Strukturen aus der arabischen Welt nachgebildet haben. Diese Organisationen existieren heute noch und funktionieren im Wesentlichen wie jene im Nahen Osten, nur auf niedrigerem Niveau. Allerdings werden sie geheimgehalten, ihre Existenz wird standhaft geleugnet. Die Muslim­bruderschaft präsentiert sich im Westen lieber in Gestalt öffentlicher ­Organisationen, deren Namen in keiner Weise auf die Muslimbruderschaft rekurrieren. Vielmehr versucht man, den Eindruck zu vermitteln, die gesamte muslimische community zu repräsentieren.

»Es steht außer Frage, dass die Muslimbrüder in einigen Ländern, insbesondere in denen, die eine extreme Interpretation des Multikulturalismus annehmen, einen fruchtbaren Boden gefunden haben. Das beste Beispiel ist Schweden, wo die Bruderschaft ein hohes Maß an Unterstützung von den meisten politischen Kräften erfährt.«

Wie schätzen Sie den Einfluss der arabischen Muslimbrüder auf ihre Ableger im Westen ein?

Ableger der Muslimbruderschaft im Westen haben historische, organisatorische, personelle und finanzielle Verbindungen zu den größeren Gruppen in der arabischen Welt, von denen sie abstammen. Und es ist keine Frage, dass sie zu diesen aufsehen und diese ihren Referenz­rahmen bilden. Dennoch ist es richtig, von einem französischen, einem schwedischen, einem britischen Ableger der Muslimbruderschaft zu sprechen; jeder Ab­leger ist unabhängig in der Wahl seiner Mittel und schätzt selbst ein, was die beste Vorgehensweise ist. Die Muslimbruderschaft ist eine große transnationale Familie, deren Ableger im Westen zweifellos die Juniormitglieder sind. Allerdings ist das nicht wie seinerzeit im Realsozialismus, als die Komintern für alle das Sagen hatte.

Wie geht die Muslimbruderschaft im Westen vor?

Ganz anders als in Gesellschaften mit muslimischer Mehrheit. Grundsätzlich gibt es zwei Ziele: Erstens versucht die Muslimbruderschaft, die eine geringe Mitgliederzahl hat, aber über reichliche Ressourcen verfügt, die religiösen und politischen Ansichten der im Westen lebenden Muslime zu beeinflussen. Das zweite Ziel besteht darin, bevorzugter Ansprechpartner westlicher Regierungen und als offiziell anerkannter gatekeeper der muslimischen Gemeinschaft mit der Verwaltung aller Aspekte des muslimischen Leben betraut zu werden, um die Politik beeinflussen zu können. In dieser Hinsicht konnten die Muslimbrüder bereits einige Erfolge verzeichnen, ­allerdings gibt es auch immer wieder Schwierigkeiten.

Kann die Muslimbruderschaft in ein paar Jahren die Macht zu übernehmen?

Es kommt darauf an, was man unter Machtübernahme versteht. Wenn damit wie in Michel Houellebecqs Roman »Unterwerfung« gemeint ist, die derzeitigen westlichen Regierungen zu übernehmen, gibt es während unserer Lebenszeit dazu keine Chance. Wenn wir jedoch davon sprechen, Macht über die Definition und Repräsentation des Islam sowohl für westliche muslimische Gemeinschaften als auch für westliche Einrichtungen zu erlangen, sind die Chancen höher, wenngleich von Land zu Land unterschiedlich.

In welchen Ländern sind die Muslimbrüder besonders einflussreich?

Es ist kompliziert, Maßstäbe für den Erfolg der Bruderschaft festzulegen, da die Organisation auf so vielen unterschiedlichen Ebenen gleichzeitig arbeitet. In einigen Ländern hat sie vielleicht Erfolg dabei, die lokale muslimische Gemeinde zu beeinflussen, besitzt aber keinen Einfluss auf die politischen Entscheidungsträger. In anderen Fällen kann es genau umgekehrt sein. Es steht außer Frage, dass die Muslimbrüder in einigen Ländern, insbesondere in denen, die eine extreme Interpretation des ­Multikulturalismus annehmen, einen fruchtbaren Boden gefunden haben. Das beste Beispiel ist Schweden, wo die Bruderschaft ein hohes Maß an Unterstützung von den meisten politischen Kräften erfährt. Mehrere Muslimbrüder hatten dort wichtige politische Positionen auf nationaler Ebene inne. Zudem erhalten sie üppige Zuwendungen von unterschied­lichen staatlichen Behörden. All dies sind Elemente, die der Muslimbruderschaft erlauben, ihren Einfluss innerhalb der muslimischen community in Schweden zu vergrößern. Auf der anderen Seite hat die Muslimbruderschaft in zwei Ländern, in denen sie einst sehr stark war, an Einfluss verloren, nämlich in Österreich und in Großbritannien. In ­beiden Ländern haben die politische Entscheidungsträger nach und nach den negativen Einfluss der Muslimbruderschaft auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt erkannt, was dazu geführt hat, dass die Regierungen verschiedene Maßnahmen ergriffen haben, um die Macht der Bruderschaft zu begrenzen. Wobei es ­natürlich auch in diesen Ländern keinen völligen Konsens gab, wie man mit der Muslimbruderschaft umgehen sollte.

Queere Allianzen. Teilnehmer der Pride London 2013 unter dem Motto »Liebe (und Ehe)«

Bild:
mauritius images / Bettina Strenske

Was haben Sie über die Finanzierung der Organisationen im Westen herausgefunden? Welche Rolle spielen dabei die Golfstaaten?

Der »Arabische Frühling« hat für die Muslimbruderschaft erhebliche geopolitische Umwälzungen mit sich gebracht, vor allem das Ende der finanziellen Unterstützung durch die Mehrzahl der Golfstaaten, was eine der Voraussetzungen darstellte, um ein derart breites Netzwerk mit weltweiter Geltung im Westen zu etablieren. Dennoch kann die Muslimbruderschaft weiterhin auf einige wohlhabende individuelle Unterstützer am Golf zählen. Auf staatlicher Ebene unterstützt sie allerdings nur noch Katar – das aber ziemlich großzügig.

»Wenig überraschend spielen einige zentrale Aktivisten der deutschen Muslimbruderschaft Schlüsselrollen in einigen der paneuropäischen Organisationen der Muslimbruderschaft. Es ist eine Entwicklung, die die deutschen Sicherheitsdienste sehr genau kennen.«

Auch die Türkei unterhält Kontakte mit der Organisation. Wie sieht die Einflussnahme aus?

In den vergangenen zehn Jahren hat die Türkei ihre finanzielle und, wohl noch wichtiger, politische Unterstützung verstärkt. Millî Görüş und die Muslimbruderschaft sind de facto Schwesterorganisationen. Die Ideo­logie von Millî Görüş ist im Wesent­lichen identisch mit der der Muslimbruderschaft, ergänzt mit einem Schuss türkischen Nationalismus. Beide Organisationen haben im Westen schon immer zusammengearbeitet, was in Deutschland seit mehr als 20 Jahren offensichtlich ist. Eines aber hat sich in den vergangenen zehn Jahren geändert. Die Religionsbehörde Diyanet diente ursprünglich als Instrument des säkularen türkischen Staats, um den islamistischen Einfluss von Millî Görüş zurückzudrängen, Erdoğan hat sie aber zu einer zum Islamismus tendierenden Organisation umgebaut. Heutzutage ­arbeiten Millî Görüş, Diyanet und die Muslimbruderschaft regelmäßig ­zusammen. Eine Entwicklung, die für alle Regierungen in Europa von Belang ist.

Welchem Stellenwert hat Deutschland im Netzwerk der Muslimbruderschaft?

Einen sehr wichtigen. Historisch war es Deutschland – und speziell München –, wo eines der ersten Netzwerke der Muslimbruderschaft im Westen entstand. Der deutsche Ableger der Muslimbruderschaft ist zweifellos ein sehr großer und wichtiger, zusammen mit dem französischen und dem britischen. Und wenig über­raschend spielen einige zentrale Aktivisten der deutschen Muslim­bruderschaft Schlüsselrollen in einigen der paneuropäischen Organi­sationen der Muslimbruderschaft. Es ist eine Entwicklung, die die deutschen Sicherheitsdienste sehr genau kennen.

Welche Rolle spielen Frauen in der Muslimbruderschaft?

Die Organisation wird eindeutig von Männern geleitet, Frauen haben kein Recht darauf, an internen Wahlen teilzunehmen oder in offizielle Führungsposition gewählt zu werden. Offiziell können Frauen auch gar ­keine Mitglieder werden. Allerdings gibt es zahlreiche Beispiele von Frauen, die eine bedeutende Rolle in der Muslimbruderschaft hatten oder noch haben. Am bekanntesten ist Zaynab al-Ghazali, die in Ägypten während der Säuberungen unter Nasser in den späten Sechzigern verhaftet und gefoltert wurde und ­später eine Schlüsselrolle beim Wiederaufbau der Muslimbruderschaft im Land spielte. Ihr Wirken bescherte ihr einen herausgehobenen Status in der Muslimbruderschaft. Gegenwärtig spielen eine Handvoll Frauen entscheidende Rollen in den westlichen Ländern.

Sie haben für Ihr Buch lediglich mit einer Frau gesprochen, die sich von der Muslimbruderschaft abgewandt hat.

Es war schon nicht einfach, ehemalige männliche Mitglieder zu finden. Ich konnte tatsächlich nur eine einzige Frau finden. Frauen können Teil des Umfelds werden, in manchen Fällen erlangen sie besonders prominente Positionen. Aber es ist unzweifelhaft eine männerdominierte Organi­sation.

Vorbereitung einer Demonstration der Muslimbruderschaft im Lafayette Park in Washington, D.C., August 2013

Bild:
mauritius images / Katharine Andriotis

Wenn man über die Muslimbruderschaft im Westen und besonders über deren zweite und dritte Generation spricht, fällt sehr häufig der Begriff »Postislamismus«. Was ist damit gemeint?

Der Begriff beschreibt verschiedene Entwicklungen. Es gibt den Trend, dass im Westen geborene muslimische Aktivisten, die in den traditionell von den Älteren der ersten Gene­ration dominierten Netzwerken der Muslimbruderschaft angefangen ­haben, nun ihren Platz finden wollen. Sie suchen nach einem neuen Ausdruck und einen neuen Weg für ihren Aktivismus. Bei einigen Aktivisten kann man vermutlich von einem »Woke-Islamismus« sprechen, also einem hybriden Ansatz, der Themen, die sowohl der zeitgenössischen Identitätspolitik als auch dem klassischen Islamismus am Herzen liegen, mit einer Wendung zur postkoloni­alen Theorie verbindet. Es ist aber fraglich, ob diejenigen, die diesen Ansatz verfolgen, ihn ernst meinen oder ihn nicht vielmehr instru­mentell verwenden, um Brücken zu den naiveren Teilen der westlichen Linken zu schlagen, um diese auszunutzen.

Es gab Gerüchte, wonach US-Präsident Donald Trump die Muslimbruderschaft zu einer Terrororganisation erklären wolle. Was würden Sie von dieser Einstufung halten?

Das ist eine komplexe Angelegenheit. Die Definition einer Gruppe berührt unterschiedliche rechtliche Grundlagen in unterschiedlichen Ländern. Für Terrorgruppen sind die Maßstäbe dafür in den USA relativ hoch. Es ­besteht kein Zweifel, dass Ableger der Muslimbruderschaft zum Beispiel in Libyen oder Syrien derzeit in terroristische Aktionen involviert sind. Aber es ist etwas anderes zu sagen, dass die Muslimbruderschaft als globale Bewegung eine Terrororganisation ist. Was die Muslimbruderschaft im Westen betrifft, unterstütze ich den Ansatz deutscher Geheimdienste, die eine Kategorie für Terrorgruppen wie den IS haben und eine für extremistische, legalistische Gruppen wie die Muslimbruderschaft, die hochproblematisch und beobachtungswürdig, aber nicht terroristisch sind.

Welche Fehler macht die westliche Politik in Bezug auf die Muslimbruderschaft?

Bei politischen Entscheidungsträgern, Kommentatoren und Wissenschaftlern fehlt es an einer auch nur annähernd kohärenten Einschätzung dessen, was die Muslimbruderschaft macht, wie sie funktioniert und was sie will, erst recht bezüglich der Frage, wie westliche Regierungen darauf ­reagieren sollten. Optimisten argumentieren, dass die Muslimbruderschaft im Westen einfach nur eine sozialkonservative Kraft sei, die im Unterschied zu anderen Bewegungen, zu denen sie fälschlicherweise häufig gezählt wird, die Integration westlicher Muslime fördert und ein ­Modell anbietet, das es Muslimen erlaubt, ihren Glauben zu praktizieren und eine starke islamische Identität zu bewahren, während sie zugleich engagierte Bürger werden. Pessimisten hingegen argumentieren, dass aufgrund der Ressourcen der Muslimbruderschaft und der Naivität der meisten Europäer die Muslimbruderschaft im Westen eine langsame, aber stetige soziale Entwicklung vorantreibt, die darauf abzielt, im Westen lebende Muslime zu islamisieren, und letztlich mit den westlichen Regierungen um deren Loyalität konkurriert. Die meisten stehen bei dieser Debatte irgendwo in der Mitte.

Was ist Ihr allgemeiner Ratschlag für den Umgang mit der Muslimbruderschaft?

Meine Empfehlung lautet: Beteiligung, nicht Ermächtigung. Die Muslimbruderschaft im Westen bildet eine Realität ab, die nicht ignoriert werden kann. Sie hat einen signifikanten Einfluss bekommen, so dass es unrealistisch wäre, einer Regierung vorzuschlagen, sie niemals zu beteiligen. Aber was viele Regierungen gerade tun, ist, die Muslimbruderschaft zu ermächtigen, indem sie sie als Repräsentantin der muslimischen community behandeln und zahlreiche Partnerschaften eingehen. Das reicht vom islamischem Religionsunterricht bis zur Radikalisierungsprävention und dem Gewähren finanzieller Mittel. Jedes Treffen, jede Partnerschaft, jede gemeinsame Aktivität, so klein und belanglos sie auch erscheint, ist ein kleines Glied in der Legitimationskette, die Islamisten zu schmieden versuchen – und das ist hochproblematisch. Deswegen sollten Regierungen eine Politik betreiben, die der Bruderschaft keinerlei Plattform bietet. Treffen nur, wenn nötig, aber jede Handlung vermeiden, die sie ermächtigt oder legitimiert. Der erste Schritt, um zu einem angemessenen Umgang zu finden, wäre, ein Bewusstsein zu haben für das, was die Muslimbruderschaft ist und will. Das aber fehlt den politischen Entscheidungsträgern.