Ein Gespräch mit Andrew Foxall, Forschungsdirektor der Henry Jackson Society

»Eine vernichtende Kritik der britischen Regierungspolitik«

Der vor kurzem veröffentlichte Bericht eines parlamentarischen Ausschusses dokumentiert russische Einflussnahme auf die britische Politik und die unzulängliche offizielle Reaktion.
Interview Von

Andrew Foxall ist Forschungsdirektor des Studienzentrums für Russland und Eurasien bei der Henry Jackson Society, einem konservativen Think Tank in London. Die »Jungle World« sprach mit ihm über den Russland-Bericht des britischen Parlamentsausschusses zur Überwachung der Geheimdienstarbeit. Der Bericht soll über russische Einflussnahme in Großbritannien aufklären, insbesondere beim Referendum über den EU-Austritt 2016. Er wurde bereits im März 2019 fertiggestellt, aber erst kürzlich veröffentlicht.

 

Haben Sie aus dem Russland-Bericht etwas Neues erfahren?

Die wichtigste Schlussfolgerung des Berichts ist nicht neu. Der Bericht beschreibt die Außenpolitik des Kremls als Nullsummenspiel. Russland will die regelbasierte internationale Ordnung untergraben und bedient sich dazu staat­licher sowie nichtstaatlicher Organisationen und Täter, einschließlich des organisierten Verbrechens. Der Mord an Alexander Litwinenko (ein Mitarbeiter des russischen Geheimdiensts FSB, der zum britischen Auslandsgeheimdienst MI6 überlief; er starb am 23. November 2006, nachdem er mit dem radioaktiven Element Polonium vergiftet worden war, mutmaßlich von zwei Russen, einen ehemaligen KGB-Mitarbeiter und dessen Geschäftspartner, Anm. d. Red.) war ein Wendepunkt in der Beziehung Großbritanniens zu Russland.

»Großbritannien wird möglicherweise schlechte politische Beziehungen zu Russland im Austausch für wirtschaftliche Gewinne akzeptieren.«

Die Cyberaktivitäten Russlands gefährden nicht nur die nationale Sicherheit Großbritanniens, sondern auch die Sicherheit unserer Verbündeten und Partner. Der Bericht verknüpft die russischen Aktivitäten in den vergangenen Jahren miteinander. Er liefert meiner Meinung nach ein ziemlich klares und überzeugendes Bild des subversiven und bösartigen Einfluss des Kreml in Großbritannien. Er beschreibt, wie russische Agenten in britische Institutionen eingedrungen sind, stellt London als Waschsalon dar, in dem illegale Gelder gewaschen werden, und argumentiert, prominente Russen, die der dortigen Regierung nahestehen, seien gut in die britische Politik, Gesellschaft und Wirtschaft integriert. Das wissen wir schon.

Warum wird das als »neue Normalität« bezeichnet?

Es kann nur noch wenig dagegen unternommen werden. Die Situation ist so ernst, dass man die Prozesse oder Trends nicht umkehren kann, sondern stattdessen ihre schlimmsten Auswüchse im Zaum halten muss. Im Bericht wird auch argumentiert, dass die von Russland ausgehende Bedrohung nicht nur den Einfluss auf oder die Durchdringung von Institutionen betrifft, sondern auch die Subversion demokratischer Prozesse.

Und der Bericht kritisiert, wie Regierungen und Sicherheitsbehörden bislang mit dieser Subversion umgegangen sind …

Der Bericht liest sich wie eine vernichtende Kritik der Regierungspolitik gegenüber Russland in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Es wird argumentiert, dass es mehrere konkurrierende Strategien für den Umgang mit der von Russland ausgehenden Bedrohung gibt und im Grunde keine davon zweckmäßig ist. Es wird auch auf das Versäumnis der britischen Regierung hingewiesen, zu untersuchen, wie Russland demokratische Prozesse im Vereinigten Königreich beeinflusst, beispielsweise im Rahmen des schottischen Unabhängigkeitsreferendums 2014. Dafür gibt es glaubwürdige und öffentlich einsehbare Beweise einer russischen Einflussnahme, was insbesondere auch für das Referendum über den EU-Austritt 2016 gilt.

Warum haben bisherige Regierungen es versäumt, angemessen auf die im Bericht beschriebene Bedrohung der britischen Demokratie durch die russische Regierung zu reagieren?

Das ist schwer zu beantworten und ich habe keine passende Erklärung. Es ist sicher symptomatisch für ein umfassenderes Problem der Beziehung Großbritanniens zum russischen Regime. Britische Regierungen haben bisher versucht, zwei Dinge für ihre Bevölkerung zu garantieren: Sicherheit und Wohlstand. Wenn es um Russland geht, harmonieren diese beiden Dinge nicht. Die politischen Beziehungen sind mit dem Mord an Litwinenko und dem Skripal-Vorfall (im März 2018 wurden der ehemalige russische Doppelagent Sergej Skripal und seine Tochter Julia im britischen Salisbury mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet, mutmaßlich von russischen Geheimdienstmitarbeitern, Anm. d. Red.) auf einem Tiefpunkt angelangt. Trotzdem haben die britischen Regierungen versucht, gute wirtschaftliche Beziehungen zu Russland zu pflegen. Dieses Ziel verfolgte sie unter anderem durch die Aufnahme russischer Oligarchen in Großbritannien. Britische Regierungen schufen eine Atmosphäre, in der es als vollkommen akzeptabel galt, von einem System zu profitieren, das im Inland grotesk korrupt ist und im Ausland aggressiv vorgeht.

Akzeptieren britische politische Parteien den russischen Einfluss, wenn sie dadurch einen Vorteil erzielen könnten, etwa in Bezug auf das schottische Unabhängigkeitsreferendum oder das Referendum über den Austritt aus der EU?

Das ist nicht so eindeutig, und oft geht bei der Berichterstattung über dieses Problem eine Nuance verloren. Dass die russische Regierung eindeutig von der Unabhängigkeit Schottlands oder vom Austritt Großbritanniens aus der EU profitieren würde, lässt sich nicht umstandslos auf jeden Russen übertragen, der einer britischen politischen Partei Geld gegeben hat. Einige reiche und prominente Russen waren tatsächlich lautstark und vehement für remain, obwohl sie in der Vergangenheit Verbindungen zum Kreml hatten, und sie wenden sich jetzt offen gegen das meiste, wenn nicht alles, was der Kreml tut.

Der Bericht wurde im März 2019 fertiggestellt, aber erst jetzt veröffentlicht. Was sind die Gründe für diese Verzögerung?

Der Bericht war längst überfällig und die bisherigen Regierungen haben seine Veröffentlichung hinausgeschoben. Der Ausschuss (das 663231619 Intelligence and Security Committee, der Parlamentsausschuss zur Überwachung der Geheimdienstarbeit, Anm. d. Red.) hatte ursprünglich gehofft, die Untersuchung der russischen Einmischung im Jahr 2015 unter dem damaligen Premierminister David Cameron einzuleiten, aber dessen Regierung verzögerte sie. Dann verzögerte Theresa May, als sie Premierministerin wurde, die Untersuchung, so lange sie konnte. Bereits 2006 war die öffentliche Untersuchung des Mords an Litwinenko hinausgeschoben worden. Zurückgehalten wurde der jetzt vorliegende Bericht vermutlich in der Hoffnung, dass er den Leuten bei der Veröffentlichung veral­tet und irrelevant vorkommen werde.

Bei der Lektüre des Berichts fällt auf, dass die Verbreitung von Desinformation eine wichtige Taktik Russlands ist, aber man erfährt nichts über die Größenordnung des Problems. Wie schätzen Sie das ein?

Der Bericht konzentriert sich auf die Verbreitung von Desinformation, sei es über Twitter, Facebook oder Russia Today, sagt jedoch nichts über ihre Reichweite aus. In Großbritannien herrscht eindeutig eine Legitimitätskrise, wie in vielen westlichen Ländern. Die in dem Bericht vorgeschlagene Lösung besteht darin, die Lizenz von Russia Today zu überprüfen. Ich denke, das sollte passieren, denn Russia Today ist eher ein staatliches Propagandainstitut als ein Medienunternehmen. Aber ich denke nicht, dass wir Russia Today komplett verbieten sollten. Sieht man sich die Zuschauerzahlen an, sind es nie mehr als ungefähr 3 500. Man kann nicht behaupten, dass dies eine existentielle Bedrohung für die britische Demokra­tie ist. Einige der im Bericht vorgeschlagenen Lösungen sind daher nicht angemessen. Gleichzeitig werden einige der größeren Probleme nicht betrachtet.

Lassen sich Großbritannien und die USA bezüglich der Einflussnahme Russlands vergleichen?

Der Mueller-Bericht (der im April 2018 veröffentlichte Bericht des US-Sonderermittlers Robert Mueller über die russische Einflussnahme auf den US-Präsidentschaftswahlkampf 2016, Anm. d. Red.) in den USA war viel klarer, was die Operationen zur Einflussnahme angeht, die der Kreml in den Jahren 2015 und 2016 in den USA vollzogen hat, und viel methodischer und chronologischer in seiner Vorgehensweise. Unser Ausschuss war nicht so kriminalistisch. Beispielsweise wurden nur fünf externe Zeugen befragt, die alle ähnliche Ansichten über Russland haben. Der britische Bericht war also nicht so breit angelegt, aber tatsächlich erzählt er eine sehr ähnliche Geschichte über den subversiven Einfluss Russlands und darüber, was es erreichen will.

Welchen Effekt wird der Bericht haben?

Einige Schlussfolgerungen, zu denen der Bericht gelangt, werden übernommen werden. Ich befürchte aber, dass die Regierung den Schwerpunkt auf die wirtschaftlichen Interessen legen wird. Sicherheitsbedenken werden letztlich zweitrangig sein. Eines der Argumente für den EU-Austritt und eines der Argumente der gegenwärtigen Regierung ist, dass Großbritanniens Wohlstand nicht von der EU abhänge. Weil das Hauptaugenmerk auf dem »globalen Großbritannien«, dem EU-Austritt sowie der Covid-19-Pandemie und ihren wirtschaftlichen Folgen liegt, wird die Regierung den ökonomischen Interesse den Vorzug geben. Dies bedeutet möglicherweise, dass wir schlechte politische Beziehungen zu Russland im Austausch für wirtschaftliche Gewinne akzeptieren werden.

Ist die im Bericht beschriebene Taktik der Einflussnahme speziell russisch?

Es besteht die Tendenz, Russland zu exotisieren oder zu sagen, was in Russland passiert, sei einmalig. Das glaube ich nicht. Was in Russland passiert und was Russland tut, ist nicht einmalig. Die größere Bedrohung wird das sein, was China wahrscheinlich bereits tut, und in mancher Hinsicht werden wir Russland noch für den frühen Weckruf und für die Möglichkeit dankbar sein, viele der Kapazitäten aufzubauen, die wir längerfristig benötigen. In dem Bericht geht es mehr darum, was wir falsch gemacht haben, als darum, was wir gut gemacht haben. Russland sieht stark aus, weil wir eher schwach waren. Das ist für mich die Schlüsselbotschaft, die ich dem Bericht entnehme.