Der Umgang der Bayreuther Festspiele mit dem Antisemitismus Richard Wagners

Diskursdämmerung in Bayreuth

Weil die Bayreuther Festspiele in diesem Jahr ausfallen müssen, wird das Rahmenprogramm »Diskurs Bayreuth« online präsentiert. In der Gesprächsreihe »Hier gilt’s der Kunst« wird auch über den Antisemitismus Richard Wagners gesprochen.

Die Kritik an Richard Wagners Antisemitismus ist in der öffentlichen Diskussion über den Komponisten inzwischen weitgehend institutionalisiert. Auch die Bayreuther Festspiele kommen um das Thema nicht herum, weswegen am Rande des nationalen Kulturevents jährlich zahlreiche Gesprächsrunden stattfinden. So haben die Veranstalter auch in diesem Jahr – trotz des coronabedingten Ausfalls der Konzerte – zum »Diskurs Bayreuth« geladen, einem Gesprächsformat in Kooperation mit dem Bayerischen Rundfunk. Der politische Gehalt von Wagners Stücken wie auch die eigene Festivalgeschichte sollen in der Gesprächsreihe »Hier gilt’s der Kunst. Wagner, Musik und Politik« diskutiert werden.

Einer der Diskutanten der insgesamt vier Gespräche ist der Regisseur Barrie Kosky, dessen Inszenierung von »Die Meistersinger von Nürnberg« 2017 den antisemitischen Kern der Wagner-Opern publikumswirksam herauszustellen vermochte. Seine Aussagen lassen aufmerken. Im Interview stellt er dezidiert jene Trennung von Werk und Komponist in Frage, die von großen Teilen des kulturkonservativen Feuilletons gern postuliert wird. Wagners Kompositionen, so Kosky, verkörperten in direkter Weise die nationalistischen und antisemitischen Dispositionen des Komponisten, seine Opern sei­en »alle Reflexionen von ihm selbst« und seines musikalischen Anspruchs. Bernhard Neuhoff, der das Gespräch moderiert, zerpflückt den Mythos vom Judenfreund Richard Wagner. Er stellt unmissverständlich klar, dass die von Schikanen geprägte Zusammenarbeit mit dem jüdischen Dirigenten Hermann Levi nicht dazu taugt, Wagners Antisemitismus zu relativieren. Dieser galt sehr konkret Jüdinnen und Juden, auch das ist Thema der Runde. Die Musikjournalistin Julia Spinola schlägt den Bogen in die Gegenwart: »Wie gehen wir heute mit den Juden um? Und wie schützen wir sie vor dem neu aufflammenden Antisemitismus?« Das dürfte in der Debatte über den deutschen Komponisten in dieser Form ein Novum darstellen.

Nachdem Wagners Hass auf das Jüdische jahrzehntelang verharmlost wurde, überrascht das diesjährige Rahmenprogramm mit einer Gesprächsrunde, in der der Antisemitismus des Komponisten nicht zur bloßen Randerscheinung erklärt wird. Kosky, Neuhoff und Spinola zeigen auf, dass die Rezeption Wagners im Kontext der Geschichte der Judenfeindlichkeit in Deutschland betrachtet werden muss. Der Antisemitismus ist für sie keine persönliche Eigenheit des Komponisten, sondern integraler Teil des Werks. Als solcher ragt er, verbunden mit einer Aufführungspraxis, die ihn jahrzehntelang ignorierte, in die Gegenwart hinein. Eine Darstellung, an der die Bayreuther Festspiele sich in Zukunft werden messen lassen müssen.

Über die Intention der Symposien sollte man sich indes keine Illusionen machen. Zu groß war der öffentliche Druck, der auf Festspielleiterin Katharina Wagner und dem Rat der Wagner-Stiftung in den letzten Jahren lastete. 2013 wurde der Nachlass von Richard Wagners Enkel Wolfgang Wagner an das Bayerische Staatsarchiv übergeben und damit für interessierte Wissenschaftler einsehbar gemacht. Die Unterlagen belegen die enge Beziehung der Bayreuther Festspielleitung zur nationalsozialistischen Führung, etwa in Form der persönlichen Förderung der Festspiele durch Adolf Hitler. 2015 stieß die Historikerin Sylvia Krauss-Meyl auf einen Film, den der damals 16jährige Wolfgang Wagner aufgenommen hatte. Die Bilder zeigen Hitler im Garten der Villa Wahnfried. Unentdeckt soll die Filmrolle im zweiten Stock des Festspielhauses die Jahrzehnte überdauert haben. Noch unterliegen einige Dokumente aus dem Nachlass dem Schutz von Persönlichkeitsrechten. Nach Ablauf einer zehnjährigen Frist werden sie das Bild vervollständigen.

Welchen Stellenwert die Aufarbeitung der Festspielgeschichte intern tatsächlich einnimmt, offenbarte eine Sonderausstellung im vergangenen Jahr. Die Wolfgang Wagner gewidmete Retrospektive tat sich durch eine besonders unkritische Rezeption der Nachkriegszeit hervor.

»Diskurs Bayreuth« ist Teil der Marketingstrategie der Festspiele. Nach dem Erfolg von Koskys »Meister­singer«-Inszenierung suchten die Veranstalter einen ebenso provokanten und modernen Stil. Der Regisseur Tobias Kratzer inszenierte die Figur der Venus im »Tannhäuser« als gegen das Establishment rebellierende Aktivistin. In einer fingierten Aktion wurde vor dem Festspielhaus ein Transparent entrollt, dessen Inschrift auf Wagners sozialrevolutionäres Engagement im Vormärz verweist. Eine Ästhetik, die bewusst Anleihen bei gegenwärtigen Kontroversen und Konjunkturen nimmt. Mögen solche Inszenierungen einen Teil des konservativen Opernpublikums noch vor den Kopf stoßen, weiß man die Mehrheit längst auf der eigenen Seite. Mit dem Engagement junger, aufsteigender Regisseure versucht die künstlerische Leiterin Katharina Wagner, eine neue, im Kulturbetrieb immer mehr tonangebende Zielgruppe zu erschließen – jung, urban, kosmopolitisch. Darüber hinaus entfaltet der in die Öffentlichkeit getragene, das Wort der Aufarbeitung bemühende Diskurs auch eine gewisse kathartische Wirkung. Die jahrzehntelang vorherrschende Leugnung und Verharmlosung antisemitischer Kontinuitäten droht paradoxerweise gerade angesichts der kulturpolitischen Wende in Bayreuth in Vergessenheit zu geraten.

Welchen Stellenwert die Aufarbeitung der Festspielgeschichte intern tatsächlich einnimmt, offenbarte eine Sonderausstellung im vergangenen Jahr. Die Wolfgang Wagner gewidmete Retrospektive tat sich durch eine besonders unkritische Rezep­tion der Nachkriegszeit hervor. Die Verklärung der Bayreuther Festspiele in dieser Zeit sowie die Latenz antisemitischer Schuld- und Erinnerungsabwehr wurden nur wenig beachtet. »Der Prinzipal« Wolfgang Wagner wiederum, so auch der Titel der Ausstellung, kam denkbar vorteilhaft davon. Anstatt die von ihm betriebene Entpolitisierung Wagners, die bis heute einer grundlegenden Auseinandersetzung mit dessen Antisemitismus im Wege steht, umfassend zu aufzudecken, betrieben die Kuratoren Personenkult.

Auch innerhalb der aktuellen Reihe finden sich relativierende Beiträge. So kommt mit dem argentinisch-israelischen Dirigenten Daniel Barenboim ein Wagnerianer zu Wort, der das Werk des deutschen Komponisten seit Jahrzehnten notorisch gegen jede Form der Kritik verteidigt. Die grundlegende Verstrickung von Wagners Œuvre mit dem Antisemitismus bestreitet Barenboim im Gespräch mit der Schriftstellerin Thea Dorn entschieden. Stattdessen verficht er in kulturkonservativem Jargon das Postulat der fundamentalen Trennung »zwischen dem Musiker Wagner und dem Menschen Wagner«. Der Antisemitismus des Kompo­nisten erscheint ihm als bloßer Charakterzug. Als solcher stehe er nicht in Verbindung zu Wagners musikalischem Werk. Zur Unterstützung dieser These bringt Barenboim zudem altbekannte Relativierungen vor. »Antisemit zu sein in Europa«, sei damals »selbstverständlich für jeden Nationalisten« gewesen. »Es gehörte zu dem Profil.« »Die ganze Geschichte gegen Wagner« sei, so Barenboim, »natürlich zehnfach größer geworden durch die Tatsache, dass Adolf Hitler ihn verehrte.«

In seinem Denken ist Barenboim Wagner verwandt. Für beide ist ­Musik ein fast schon mythisches, existentielles Erlebnis, das rational nicht durchdringbar ist und auch nicht sein sollte. Es verwundert nicht, dass Barenboim noch jene Mythen über Wagners Antisemitismus anführt, die Korsky, Neuhoff und Spinola in ihrem Gespräch als revisionistische Argumentationsmuster entlarven. In der Figur Beckmessers, des Protagonisten der »Meistersinger«, will er keinerlei antisemitische Klischees erkennen können. Es handele sich vielmehr um eine historische Figur; mit Antisemitismus habe das nichts zu tun. Und auch an der Legen­de des Judenfreunds Wagner hält Barenboim fest. Zum Engagement Hermann Levis erklärt er völlig kontrafaktisch, dass es den Komponisten »in diesem Fall nicht gestört« habe, dass »der Jude war«. Selbst Hinweise auf die antisemitische Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte Wagners wehrt er erbittert ab. Den ­Verweis Thea Dorns auf die Festspiele 1924, damals unter der Leitung Siegfried Wagners, bei denen sich ein völkischer, antisemitischer Natio­nalismus ­lange vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten Bahn brach, tut er dementsprechend als »populistische Art« des Umgangs mit dem Thema ab. Den Antisemitismus kann der Dirigent auch deshalb an keiner Stelle durchdringen, weil er wichtige Elemente dessen selbst teilt. Spätestens damit fällt das diesjährige Gesprächsformat »Diskurs Bayreuth« hinter alle Standards einer grundlegenden Aufarbeitung zurück.