Demonstrationen, Streiks und Repression in Belarus

Demos, Streiks und Repression

Die Proteste gegen die umstrittene Wiederwahl des autoritären ­belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko eskalieren.

Nach seiner umstrittenen Wiederwahl hält sich Alexander Lukaschenko immer noch für den legitimen Präsidenten von Belarus; seit 26 Jahren ist er bereits im Amt. Doch eine ständig wachsende Zahl von Menschen, die seit dem 9. August tagtäglich in Minsk, der Hauptstadt von Belarus, und etlichen anderen großen und kleineren Städten auf die Straße gehen, fordert seinen Rücktritt. »Ich habe selbst, wie ihr auch, noch nicht ganz verstanden, worin das Problem besteht«, sagte er am Montag etwas unbeholfen bei einem Auftritt vor streikenden Arbeiterinnen und Arbeitern des Minsker Traktorenwerks, die »Geh weg!« riefen und ihn ausbuhten. Dann aber fuhr er in gewohnter Rhetorik fort und sagte, die Tore stünden für alle offen, die gehen wollten, und wer ihn gefährde, den erwarteten harte Konsequenzen.

Pavel Katarzheuski vom Zentralkomitee der linken Partei Gerechte Welt berichtete von Misshandlungen auf dem Weg zur Polizeiwache. »Sie haben bedauert, dass sie uns nicht erschießen können«, sagte er.

80 Prozent der abgegebenen Stimmen bescheinigte ihm die Wahlkommission. Ergebnisprotokolle, die trotz enormen Drucks auf die lokalen Leiterinnen und Leiter von Wahllokalen den Weg an die Öffentlichkeit fanden, weisen eine andere Siegerin aus: Swetlana Tichanowskaja, die als unbedarfte Newcomerin für die Opposition gegen Lukaschenko kandidierte (Jungle World 32/2020). Als Lukaschenko nach der Wahl einige Tage lang nicht mehr in Erscheinung trat, nahmen die Proteste gegen ihn landesweit immense Ausmaße an. In Minsk, Brest, Nowopolozk, Mogiljow, Bobrujsk, Pinsk und vielen weiteren Orten reagierte die Polizei brutal. Anfangs kamen Blendgranaten, Wasserwerfer und Gummigeschosse zum Einsatz. Tage später gab das Innenministerium zu, stellenweise mit scharfer Munition auf Demonstrierende geschossen zu haben.

Bislang sind offiziell zwei Todesopfer bestätigt. Alexander Tarajkowskij wurde in der Nacht auf den 11. August erschossen. Die Polizei rechtfertigte ihr Vorgehen damit, dass der 34jährige mit einem Sprengsatz auf Ordnungskräfte losgegangen sei, aber Videoaufnahmen beweisen, dass der Mann völlig ungeschützt und mit leeren Händen auf der Straße stand, als der tödliche Schuss ihn traf. In Gomel starb der 25jährige Alexander Wichor nach seiner Festnahme. Videos und Augenzeugenberichte zeichnen ein Bild von regelrechten Gewaltexzessen insbesondere der Omon-Sonderkommandos. Uniformierte prügelten auf wehrlos am Boden liegende Protestierende ein, oftmals setzten sich die Misshandlungen hinter verschlossenen Türen fort, wie in dem berüchtigten Minsker Untersuchungsgefängnis in der Okrestina-Straße. Bis zu 7 000 Menschen wurden festgenommen, über den Aufenthaltsort Dutzender von ihnen lagen Tage später immer noch keinerlei Informationen vor.

Einzelne wurden schnell wieder entlassen. Die Kapazitäten für Polizeigewahrsam reichten schlichtweg nicht aus, so dass teilweise provisorische Lösungen Anwendung fanden. Pavel Katarzheuski, Mitglied im Zentralkomitee der linken Partei Gerechte Welt, wurde fünf Tage in Administrativhaft gesteckt. Er berichtete von Misshandlungen auf dem Weg zur Polizeiwache. »Sie haben bedauert, dass sie uns nicht erschießen können«, sagte er der Jungle World. Als »Faschisten« seien sie bezeichnet worden. Offiziell liegen bereits über 700 Beschwerden wegen Gewaltanwendung bei der Festnahme und in Polizeigewahrsam vor. Gegen über 100 Personen laufen Strafverfahren, hauptsächlich wegen Beteiligung an Massenunruhen.

Ermittelt wird unter anderem gegen zwei russische Staatsbürger, die für die Organisation Open Russia des im Londoner Exil lebenden früheren rus­sischen Oligarchen Michail Chodorkowski tätig sind. Das passt ins Schema Lukaschenkos, wonach die Proteste aus dem Ausland gesteuert würden – aus Großbritannien, Polen und Tschechien, aber auch aus der Ukraine und Russland. Als einer der Urheber der Proteste gilt der Staatsmacht Stepan Putilo, der über den Messenger-Dienst Telegram unter dem Namen Nexta (Jemand) trotz teilweiser Blockade des mobilen Internets für eine schnelle und effektive Verbreitung von Videos und News über die laufenden Protestaktivitäten sorgte. Der 22 Jahre alte gebürtige Belarusse lebt in Polen und wurde mittlerweile nicht nur in Belarus, sondern auch in Russland zur Fahndung ausgeschrieben. Im Übrigen reisten 32 Angehörige der russischen Söldnertruppe Wagner, die Lukaschenko vor den Wahlen in Belarus wegen angeblich geplanter »Provokationen« zur Destabilisierung der Lage im Land hatte festnehmen lassen, nach ihrer Freilassung ohne großes Aufsehen zurück nach Russland.

Der autoritäre Präsident, der sich fest an die Macht klammert, hält die Bevölkerung für unfähig, eigenständig zu handeln. Er sieht sich als einzigen Entscheidungsträger, als »Väterchen« der zehn Millionen Einwohner des Landes. Aber Hunderttausende seiner vermeintlichen Kinder rebellieren. Am Sonntag beteiligten sich allein in Minsk weit über 200 000 Menschen an einem Pro­testmarsch gegen Lukaschenko, während dieser für eine Kundgebung zu seiner Unterstützung bestenfalls 50 000 Anhänger mobilisieren konnte.

Einen »Maidan« lasse er nicht zu, sagte Lukaschenko. Damit sind die Proteste in der Ukraine gemeint, die 2014 zum Sturz des Präsidenten Viktor Janukowitsch geführt hatten. Doch Belarus hat mit der Ukraine nur wenig gemein und der Protest ohne Platzbesetzungen noch weniger mit dem Maidan. Es gibt in Belarus keine explizite Hinwendung zum Westen, die Opposition ist schwach und verfügt in jeglicher Hinsicht über bescheidene Ressourcen. Hinter ihr stehen keine Oligarchen, deren Strukturen eine Machtübernahme ermöglichen könnten. Mit Swetlana Tichanowskaja – vom Regime genötigt, nach Litauen zu fliehen – existiert zwar eine Galionsfigur für eine Übergangsphase bis zu Neuwahlen, aber nicht sie mobilisiert die Menschen. In deren Augen hat vielmehr »Väterchen« ausgedient, weil er sich nicht mehr an eingespielte Regeln hält. Während der Coronakrise hat er komplett versagt und der Verweis auf angebliche Überreste des sozialistischen Wohlfahrtsstaats steht in herbem Kontrast zu Maßnahmen wie der Änderung des Arbeitsrechts im vergangenen Jahr. Per Gesetz wurden die Arbeitsverträge abhängig Beschäftigter mit einem Schlag zeitlich befristet, ihre soziale Absicherung steht in Frage.

Dass Lukaschenko versucht, mit Gewalt an der Macht zu bleiben, löste nicht Angst und Schrecken aus, sondern steigerte eher das Selbstbewusstsein. In der vergan­genen Woche kündigten gleich mehrere bekannte Moderatoren des belarussischen Staatsfernsehens. Am schlagkräftigsten aber agieren Beschäftigte großer Unternehmen, auf deren Unterstützung Lukaschenko einst zählen konnte. Bereits kurz nach den Wahlen trat ein Teil der Belegschaft des Metallwerks in Schlobin in den Streik. Nach und nach schlossen sich weitere Betriebe Aufrufen zum Generalstreik an. Seit Montag steht das Werk in Schlobin mit 11 000 Beschäftigten komplett still, auch die Belegschaft von Belaruskalij, einem der weltweit größten Düngemittelhersteller, trat in einen unbefristeten Streik. Im ganzen Land wird gestreikt, überall entstehen Streikkomitees. Auch wenn politische Losungen wie Neuwahlen und die Freilassung aller Gefangenen im Vordergrund stehen, finden sich auf den Flugblättern der Streikenden immer mehr soziale Forderungen – nach einer Rücknahme der Arbeitsrechtsreform, der Sicherung von Arbeitsplätzen, unabhängigen Gewerkschaften und dem Verbot der Privatisierung staatlicher Betriebe.

Mit einem Generalstreik ließe sich das öffentliche Leben zum Stillstand bringen. Lukaschenko signalisiert nicht einmal Verhandlungsbereitschaft, die Verschärfung repressiver Maßnahmen ist zu erwarten. Angekündigt hatte er bereits, Einkünfte aus dem Ausland einer stärkeren Kontrolle zu unterziehen und den in den vergangenen Jahren geförderten nichtstaatlichen IT-Sektor kurz zu halten. Aber ökonomisch dürfte er diesen Kurs nicht lange durchhalten können. Das belarussische Wirtschaftsmodell kriselt; es fußt vor allem auf dem Import von Rohöl aus Russland, das raffiniert und auf dem Weltmarkt verkauft wird. Aber der ­Ölpreis ist gesunken, und bis 2024 will Russland die Steuernachlässe auf Rohölexporte abschaffen.

»Es stellt sich nun die Frage, inwiefern Lukaschenkos unmittelbare Umgebung, also die obersten Machtträger, sein weiteres Vorgehen mittragen«, sagte Zmicier Mickiewicz, Journalist aus Minsk und Experte des Belarus Security Blog, der Jungle World. Aber eine Spaltung im Machtapparat, wie sie einige russische Politologen für möglich halten, schließt er aus. »Lukaschenko hat das System so ausgerichtet, dass keine Führungsfiguren neben ihm entstehen und auch keine Führungszirkel.« Personen, die fähig seien, ihren eigenen politischen Willen zum Ausdruck zu bringen, sieht er in Lukaschenkos Umfeld nicht. Zwar lasse sich nichts ausschließen, doch hält Mickiewicz eine militärische Intervention russischer Kräfte für unwahrscheinlich; er setzt auf den politischen und wirtschaftlichen Pragmatismus der russischen Regierung, wie er sich auch im Umgang mit Armenien zeigt, wo 2018 ein demokra­tischer Machtwechsel stattfand.

»Mir scheint, Russland wartet bis zum Winter ab, bis die Wirtschaft komplett kollabiert, daran hegt niemand Zweifel, und kauft anschließend im großen Stil alles auf – von Politikern bis hin zu Unternehmen.« Mickiewicz hält diese Option gegenwärtig für am wahrscheinlichsten. Doch sollten die Streikenden durchhalten und einen Generalstreik organisieren, scheint gegenwärtig alles möglich zu sein.