Die Fixierung der deutschen Coronaleugner auf Feindbilder trägt Züge des Autoritarismus

Die Welle

Die Proteste gegen die staatlichen Coronamaßnahmen reißen nicht ab. In Argumentation und Dynamik ähneln sie einigen vorangegangen Protesten. Auch die scheinbar bunte Mischung der Demonstrierenden kennt man bereits.

Am 1. August demonstrierten in Berlin rund 20 000 Menschen unter dem Motto »Das Ende der Pandemie – der Tag der Freiheit« gegen die staatlichen Coronamaßnahmen. Eine Woche später protestierten Hunderte Gegner der Schutzmaßnahmen auf einer Demonstration des Bündnisses »Querdenken 711« in Stuttgart. Aufmärsche in ähnlicher Größenordnung fanden am 15. August in Hamburg sowie in Kiel und Dortmund statt, wo ein Polizist in einer Rede gegen den »Denunziantenstaat« agitierte.

Es fällt leicht, naserümpfend, abgestoßen und mit dem Gefühl des Be­scheidwissens auf die Coronaproteste zu reagieren. Die Thesen, die auf den zahlreichen Demonstrationen vertreten werden, sind größtenteils wirr und irrational. Realitätsgerechte und diskutable Warnungen vor den sozialen und psychischen Negativeffekten der Pandemiemaßnahmen werden durch verschwörungstheoretische Phantasien von Zwangsimpfungen und der drohenden Fernsteuerung der Menschheit überstrahlt.

Die Fixierung auf Feindbilder ist typisch für Autoritarismus. Außer der »Wiederherstellung des Grundgesetzes« benennt der Protest kaum Ziele.

Die Inkohärenz der Ideologie äußert sich bei vielen Demonstranten in ­ästhetischer Hemmungslosigkeit, als wollten sie sich als Warnung vor sich selbst öffentlich zur Schau stellen. Der offensive Narzissmus konkurrierender Glücksritter und die Agitation durch Magazine wie Compact und Rubikon sowie Websites wie »Ken FM« und »Nachdenkseiten« ist so offensichtlich, dass sich die Einschätzungen der etablierten Medien, was die Teilnehmenden an den Protesten angeht, kaum von­einander unterscheiden: ein bunter Haufen aus wohlstandsverwahrlosten Esoterikern, friedensbewegten Anti­imperialisten, rebellischen Kleinbürgern und hasserprobtem AfD-Fußvolk, durch ein gemeinsames Feindbild vereint mit Aluhüten, Reichsbürgern, ­organisierten Neonazis, Holocaustleugnern und Jüngern von Qanon (siehe Von 4chan in den Vorwahlkampf - Jungle World 32/2020), die die anti­jüdische Ritualmordlegende in die Sprache des 21. Jahrhunderts übersetzen. Kurz: eine neue Querfront von Anti­semiten vereint unter Regenbogen- und Reichskriegsflaggen.

Je nach Blickwinkel variieren die ­Zuschreibungen, mit denen der heterogene Protest belegt wird. Mit der Bezeichnung »Corona-Pegida« wurde die bundesdeutsche Verachtung für das Protestmilieu schon im Mai in eine griffige Formel gepackt und mit der Schmähung als »Covidioten« noch einmal radikalisiert. Weil die Betonung der irrationalen Aspekte die Demonstrationen aber tendenziell entpolitisiert, setzte Sascha Lobo im Spiegel einen anderen Schwerpunkt und sah auf der Berliner Demonstration vom 1. August vor allem »Rechtsextreme und Leute, die gemeinsam mit Rechtsextremen demonstrieren«. Jana Hensel konstatierte in der Zeit auffällige Unterschiede im Umgang mit den »Wohlstandsschwestern von Pegida« und hob hervor, dass die öffentliche Debatte in Deutschland nach wie vor von einer westdeutschen Normalität bestimmt sei.
Der ehemalige Ideologiekritiker Thomas Maul sah bei der Demonstration in Berlin dagegen »Hunderttausende Ehrenmänner und -frauen im Widerstand gegen den protofaschistischen Hygiene-Staat und die Querfront seiner Apologeten«.

Die Milieus, die Protestdynamik und die Agitationsweise sind von den Protesten gegen das Freihandelsabkommen TTIP, den »Montagsmahnwachen für den Frieden« und den zahllosen »Merkel, Asylanten und GEZ müssen weg«-Demonstrationen der vergangenen Jahre bekannt. Kamerateams werden beleidigt, geschlagen und bedroht, Spiegel-TV zeigt den lunatic fringe im dramatischen Porträt, Jürgen Elsässer sieht wieder einmal die große Chance zum »Sturz des Merkel-Regimes« und bläst zum Marsch auf Berlin und ein unverbesserlicher CDU-Abgeordneter aus Sachsen verbreitet fake news auf neurechten Blogs. Dazwischen finden sich immer wieder zwanghafte DDR-Vergleiche und antisemitische Umwegkommunikation.

Dennoch wäre es falsch, alle Demonstranten pauschal als »rechts« zu etikettieren. Zwar trägt die Fixierung auf Feindbilder ohne Zweifel die Züge des Autoritarismus. Im engeren Sinne ist der Protest aber nicht politisch, weil er außer der »Wiederherstellung des Grundgesetzes« weder nähere Ziele benennt noch Analysen anbietet, aus denen eine auf Dauer angelegte Institutionalisierung hervorgehen könnte. Die Stuttgarter Initiatoren von »Querdenken 711« fordern eine vorgezogene Bundestagswahl im Oktober 2020 statt im September 2021. Dafür kooperieren sie mit dem Berliner Anselm Lenz, der behauptet, ein »Notstands­regime« ­beherrsche Deutschland mit dem Ziel, einen »Kapitalismus-Crash« zu verdecken. Die Rede von der Freiheit, die ständig wiederholt wird, ist infantil und qualitätslos. Ob Freiheit zum Geschäftemachen, Freiheit, ohne ­Filter zu sprechen, oder Freiheit, im safe space des eigenen Milieus sanktionslos zu performen – jeder nimmt sich die Freiheit, die er braucht.

In seiner Form gleicht der Protest eher der Wirkweise einer Sekte, die ihren Anhängern Selbstwirksamkeit und Anerkennung verspricht. »Du bist heute nicht aufgewacht, um durchschnittlich zu sein«, steht auf einem Poster im Hintergrund eines Mobilisierungsvideos der Stuttgarter Initiative. Vom kollek­tiven Kraftschrei »Wir sind die zweite Welle« sekundiert, wird so eine Psychodynamik in Gang gesetzt, die Morton Rhue in seinem bekannten Roman »Die Welle« über eine sich selbst faschisierende Schulklasse beschrieben hat. Das sozialpsychologische Experiment, das im Buch verarbeitet wird, hieß in der Realität »Die Dritte Welle«. Das faschistische Potential steckte im kollektiven Verhalten, die Ideologie war eher austauschbar. Im rechten Milieu streitet man sich daher schon, wie dieses Potential am besten genutzt werden kann.

Es braucht keinen Propheten, um die weitere Entwicklung des Protestes zu prognostizieren. Einer Welle gleich türmt er sich, aufgepeitscht von Empörung, immer weiter auf, bevor er bricht und mit Schaum und Rauschen schließlich ausläuft. Die Unmöglichkeit realpolitischer Erfolge wird die Bewegung in die ideologische Selbst­radikalisierung treiben, danach drohen Spaltungen und Zerfall, wenige werden stur ausharren, bis sich die versprengten Reste bei einem anderen Anlass in veränderter Form erneut zusammenfinden. Versuche von politischen Unternehmern, sich als Wellenreiter zu ver­suchen und die Proteste für ihr Programm zu gewinnen, werden nach ­einer Zeit der Euphorie in frustrierte Kränkungen samt zugehöriger Blogbeiträge münden.

Dass sich die Protestierenden in Berlin den Ruf »Schämt euch« angeeignet haben, der einst auf antifaschistischen Strafexpeditionen in die ostdeutsche Provinz erklang, verleiht dem Spektakel eine gewisse Ironie. Was er beim Be­obachter auslöst, ist nicht Scham, sondern Fremdscham. Doch das erhabene »Abstand halten«, das man den Demonstrierenden gerne quasi mit erhobenem Zeigefinger entgegenrufen möchte, taugt ebenso als Metapher für eine Klassengesellschaft, die sich lieber mit einer Mischung aus Lust, Spott und Entsetzen ihres Status versichert, als Empathie für andere Lebensumstände aufzubringen. Ist der Wunschglauben, dass es das Virus nicht gebe, aber tatsächlich so viel irrationaler als die Aussage der Bundesregierung, »wir« seien bisher gut durch die Krise gekommen? Wo die einen die epidemiologischen Ursachen für die Schutzmaßnahmen leugnen, ignorieren die anderen deren soziale Folgen. Beide Gruppen simulieren Handlungsmacht, während Opportunisten mit dubiosen Absichten ihre große Chance wittern. Es wäre nicht abwegig, sich alles mit vertauschten Rollen vorzustellen. Wenn es ­Covid-19 nicht gäbe, könnten es die Demonstranten genauso gut erfinden. An ihren Feindbildern müsste sich gar nichts ändern.