Immer mehr Migranten wagen die gefährliche Überquerung des Ärmelkanals im Boot

Grenzregime auf Steroiden

Immer mehr Migranten wagen die gefährliche Überquerung des Ärmelkanals mit dem Boot. Die britische Regierung will härter gegen sie vorgehen.

235 Migranten erreichten am 6. August die britische Küste. Die meisten auf Schiffen der britischen Border Force, die sie im Ärmelkanal an Bord genommen hatten; einige wenige landeten in eigenen Booten. Unter ihnen waren Kinder und eine hochschwangere Frau. Insgesamt 17 Boote wurden beschlagnahmt, die von der gut 30 Kilometer entfernten Küste Nordfrankreichs abgelegt hatten.

Migrationsfeindliche Medien und Politiker wie Nigel Farage von der Brexit Party überschlagen sich dieser Tage mit alarmistischer Rhetorik über einen »Notstand« oder gar eine »Invasion«. Was nicht nur demagogisch ist, sondern auch einigermaßen absurd angesichts der Tatsache, dass die vermeint­lichen Invasoren schlicht Asyl beantragen wollen. Zudem sind sie selbst es, die sich in Gefahr bringen. Sie passieren immerhin die am stärksten befahrene Schifffahrtsstraße der Welt, die See im Kanal ist oft rau und die Strömungen sind stark.

Die Bürgermeisterin von Calais warnte den britischen Premierminister Boris Johnson, die Entsendung von Marineschiffen in französische Gewässer käme der »Erklärung eines Seekriegs« gleich.

Die Anzahl der klandestinen Kanal­überquerungen per Boot hat seit gut anderthalb Jahren stetig zugenommen. Noch nie waren es an ein einem einzelnen Tag so viele wie an diesem 6. August. Bis zum 11. August kamen in diesem Jahr 4 343 Migranten per Boot ins Vereinigte Königreich. 2019 waren es in den ersten acht Monaten 857 und 1 823 im gesamten Jahr. Vorige Woche berichteten britische Medien, an zehn aufeinanderfolgenden Tagen hätten Schiffe der Border Force im Kanal Migranten aufgenommen und an Land gebracht; das sei ein neuer Rekord.

Der mediale Fixierung auf immer neue Rekordzahlen ist problematisch, weil sie der Abwehrrhetorik von Farage oder auch der britischen Innenministerin Priti Patel und dem Ruf nach einem harten Vorgehen gegen Schutz suchende Migranten Vorschub leisten kann. Allerdings ist der Anstieg der Zahl an Bootspassagen eine der einschneidendsten Veränderungen bei der klandestinen Kanalüberquerung in den vergangenen 20 Jahren. Die können tatsächlich enorme Probleme mit sich bringen – und zwar für jene, die an Bord ihre Leben riskieren.

Gründe für den Anstieg gibt es mehrere. Da ist zum einen das anhaltend gute Wetter in diesem Frühjahr und Sommer. Auch in den vergangenen anderthalb Jahren kam es in Perioden mit ruhiger See, in denen das Risiko des Schiffsbruchs bei einer solchen Pas­sage deutlich ver­ringert ist, zu vielen Überfahrten. Zum anderen war die Zahl der Lkw, die zu kommerziellen Zwecken den Kanal überqueren, während des pandemiebedingten lockdown stark gesunken. Für irreguläre Migranten hatte die Mitfahrt auf Lastwägen zuvor die gängigste Art dargestellt, Großbritannien zu erreichen.

Das ohnehin harte Leben in den provisorischen Camps rund um die Hafenstädte Calais und Dunkerque wurde zudem in diesem Jahr immer mehr erschwert. Zu Zeiten des auf Französisch confinement genannten lockdown war etwa die Versorgung mit Mahlzeiten durch Hilfsorganisationen teils deutlich eingeschränkt. Hinzu kommen die immer höher gezogenen Zäune – nicht nur an den Orten, von denen aus eine Überquerung möglich ist, sondern auch in den jungles genannten Camps, gegen die die französischen Behörden bereits seit Jahren immer unerbittlicher vorgehen. In diesem Jahr wurden in der Nähe des Ende 2016 geräumten »großen jungle«, wo sich noch immer das Gros der Migranten aufhielt, zahlreiche Flächen eingezäunt und damit unerreichbar gemacht.

Im Juli gab es zudem eine Welle von Räumungen, nur wenige Tage vor dem Antrittsbesuch des neuen französischen Innenministers Gérald Darmanin in Großbritannien. In einem Protestbrief an diesen bilanzierten mehrere Menschenrechtsorganisatio­nen anschließend: »Insgesamt mussten mehr als 800 Menschen zusehen, wie ihre Notunterkünfte zerstört wurden. Davon wurden 519 gezwungen, in Busse einzusteigen. Männer, Frauen, Kinder, alle zusammengewürfelt, ohne jegliche Einschätzung ihrer Situation und ihrer Vulnerabilität.«

Kleinere Räumungen finden täglich statt. Manche Orte, an denen sich Migranten aufhalten, sucht die Polizei alle 48 Stunden auf. Sie konfisziert Besitztümer und zerstört Zelte, gemäß der behördlichen Anweisung, nach der Demontage des jungle mit seinen rund 10 000 Bewohnern im Jahr 2016 keine permanenten Niederlassungen mehr zu dulden. Der Jahresbericht 2019 der Organisation Human Rights Observers verzeichnet im Raum Calais 961 Räumungen und um das etwas nördlich gelegene Dunkerque herum 178.

Außer der Durchsetzung des Niederlassungsverbots haben diese Einsätze weder Sinn noch Zweck. Die betroffenen Migranten kehren teils nach kurzer Zeit an dieselben Orte zurück. Die unablässigen Räumungen sind eine Schikane, ein besonders grotesker Auswuchs der repressiven Elendsverwaltung, mit der die Transitmigration am Ärmelkanal seit 20 Jahren bekämpft wird, obwohl man weiß, dass sie sich doch nicht völlig unterbinden lässt.

Genau das fordert aber derzeit wieder das britische Home Office. Innenmi­nisterin Priti Patel kündigte Anfang August an, die Überquerung des Kanals »unmöglich« zu machen; man werde verhindern, dass Boote in Frankreich ablegten, und jene, denen das trotzdem gelänge, abfangen. Ans Verteidigungsministerium erging wenig später ein Hilfsersuchen, das einem BBC-Bericht zufolge nun eingehend geprüft wird. Was daraus folgen wird, ist derzeit unklar.

Eine solche Intervention des Militärs wäre nicht nur potentiell gefährlich, sondern könnte auch juristisch problematisch sein, denn direkte push-backs sind nach internationalem Recht illegal. Die Bürgermeisterin von Calais, Natacha Bouchart, wahrlich nicht als migrantenfreundlich bekannt, warnte den britischen Premierminister Boris Johnson, die Entsendung von Marineschiffen in französische Gewässer käme der »Erklärung eines Seekriegs« gleich.

Seit langem strebt die britische Regierung ein härteres und effizienteres Vorgehen gegen die Migrantenboote an. Im Mai berichtete die britische Tageszeitung Guardian über eine nicht näher beschriebene »Operation Sillath« mit dem Zweck, per Boot angekommene Geflüchtete abzuschieben. Der Londoner Anwältin Lily Parrott zufolge plant das Innenministerium Abschiebungen nach Frankreich unter Berufung auf das Dublin-Abkommen. »Ich bin sehr besorgt über die rechtswidrige und womöglich willkürliche Machtausübung des Innenministeriums gegen Menschen, die in Großbritannien um Asyl ersuchen«, kommentiert sie.

Zwischen den Kanalanrainern Großbritannien und Frankreich sorgt das Thema für immer größere Spannungen. Bei der britischen Regierung wächst der Frust darüber, dass trotz jahrelanger Millionenzuwendungen an den Nachbarn die klandes­tine Migration nicht nur nicht beendet wurde, sondern zunimmt. Derzeit schippert Nigel Farage wie bereits im Frühling in Begleitung von Kamerateams durch die Meerenge von Dover und wirft den Franzosen Nachlässigkeit vor.

Unterdessen steigen die Risiken für die Geflüchteten weiter. So verkaufen Schmuggler jenen, die den Preis von rund 3 000 Pfund für eine Bootspas­sage nicht zahlen können, als billigere Optionen beispielsweise Windsurfboards und Paddelboote. In letzter Zeit gab es außerdem Berichte von Migranten, die unter Androhung von Waffengewalt auf Boote gezwungen wurden. Die Passagen haben Konjunktur; das hat ein Geschäftsmodell etabliert, das für die Passagiere immer gefährlicher wird.