In Tripolis schossen Milizionäre auf Protestierende

Machtkampf in Tripolis

Milizionäre schossen in der libyschen Hauptstadt auf eine Protest­demonstration, die sich gegen die verschlechterten Lebens­bedingungen gerichtet hatte. Ein Konflikt zwischen Ministerpräsident und Innenminister war die Folge.

Die Demonstranten versuchten, jegliche Instrumentalisierung durch die Bürgerkriegsparteien zu verhindern. Häufig zeigten sie weiße Flaggen, auf Plakaten in Tripolis waren Bilder von Politikern beider Kriegsparteien durchgestrichen. Vor allem der Ministerpräsident der international anerkannten libyschen Übergangsregierung (Government of National Accord, GNA), Fayez al-Sarraj, war Gegenstand der Kritik. Die größten Proteste fanden in Tripolis statt, wo die GNA ihren Sitz hat; manche Sprechchöre verlangten gar al-­Sarrajs Rücktritt.

Doch dann schossen Männer in Militäruniform mit scharfer Munition auf Protestteilnehmer. Mindestens sechs Demonstranten wurden nach Angaben von Amnesty International verschleppt. In einer Erklärung der Vereinten Na­tionen hieß es, man sei besorgt »über die exzessive Gewaltanwendung gegen Demonstranten« und »die willkürliche Festnahme einer Anzahl von Zivilisten«. Die Ereignisse fanden in einem Teil von Tripolis statt, den die al-Na­wasi-Miliz kontrolliert. Diese gehört den sogenannten gemeinsamen Sicherheitskräften an und ist somit nominell dem Innenministerium unterstellt. Die Miliz ist offiziell für die Sicherheit in der Hauptstadt verantwortlich. Die GNA verfügt über keine eigenen ­Truppen.

Die Vereinten Nationen äußerten Besorgnis »über die exzessive Gewaltanwendung gegen Demonstranten« und »die willkürliche Festnahme einer Anzahl von Zivilisten«.

Der mächtige Innenminister Fathi Bashagha verurteilte die Gewalt gegen die Proteste und beteuerte, seine Kräfte würden die Demonstrierenden schützen; diese hätten das Recht, friedlich zu protestieren. Daraufhin warf Ministerpräsident al-Sarraj dem Innenminister Illoyalität vor, suspendierte ihn und gab seinen Posten einem loyaleren Milizenchef. Er kündigte eine Untersuchung des Verhaltens Bashaghas an; dieser forderte, sie solle im Fern­sehen übertragen werden, um Transparenz zu gewährleisten.

Der Konflikt könnte mit dem wachsenden Einfluss der Türkei zusammenhängen. Deren militärisches Eingreifen auf der Seite der GNA half entscheidend dabei, die im Frühjahr 2019 begonnene Offensive des Machthabers im Osten, Feldmarschall Khalifa Haftar, auf Tripolis im Juni abzuwehren. Al-Sarrajs Vorwurf, Bashagha sei illoyal, ist nicht gänzlich aus der Luft gegriffen. Dem Innenminister werden lokalen Medien zufolge höhere politische Ambitionen nachgesagt. Wenige Tage nach den Protesten empfing ihn der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar in Ankara, wo er möglicherweise als Alternative zu al-Sarraj gilt.

Bashagha stammt aus Misrata, einer Küstenstadt mit 550 000 Einwohnern, gut 200 Kilometer östlich von Tripolis gelegen. Über den dortigen Hafen kommt ein Großteil der türkischen Waffen und Söldner ins Land. Die gut bewaffneten Milizen aus Mis­rata kontrollierten bis 2018 Teile der Hauptstadt, wurden aber Schritt für Schritt vom sogenannten Milizenkartell ­vierer großer lokaler bewaffneter Gruppen aus der Stadt vertrieben. Gleichwohl ist al-Sarraj im Konflikt mit Haftar militärisch auf die Milizen von Misrata angewiesen.

Bashagha reagierte mit einer Machtdemonstration. Hunderte seiner Anhänger aus Misrata fuhren in Autokorsos nach Tripolis, um gegen die Suspendierung und die Milizen aus der Hauptstadt zu protestieren. Am Donnerstag voriger Woche gab al-Sarraj ­angesichts der drohenden Spaltung der GNA klein bei und hob Bashagas Suspendierung auf.

Von einer Spaltung würde vor allem Feldmarschall Khalifa Haftar profitieren, der von Russland, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Ägypten unterstützt wird. Seit seiner fehlgeschlagenen Offensive gegen die GNA und Tripolis hat sich der Warlord in der Hafenstadt Sirte verschanzt, die etwa 450 Ki­lometer von Tripolis entfernt liegt. Nach Angaben der Vereinten Nationen gibt es auch dort einen Anstieg willkürlicher Festnahmen und anderer Menschenrechtsverletzungen.
Bei internationalen Vermittlungsversuchen tritt anstelle von Haftar der mit ihm verbündete Präsident des libyschen Parlaments in Tobruk, Aguila Saleh, in den Vordergrund. Er gilt als kompromissbereiter und pragmatischer als der Milizenführer, dem Machthunger und Unberechenbarkeit nachgesagt werden. Am 21. August verkündeten Saleh und al-Sarraj unabhängig voneinander einen Waffenstillstand, der bislang eingehalten wird. Bereits zuvor hatte es wochenlang keine Kampfhandlungen mehr gegeben. Die Türkei hatte zunächst angekündigt, den von Haftar kontrollierten Osten zu erobern; Ägypten drohte daraufhin mit einer Invasion.

Trotz des Abflauens der Kämpfe zwischen den Truppen der GNA und denen Haftars und trotz eines internationalen Waffenembargos werden beide Seiten weiterhin mit Waffen beliefert. Nach Angaben, die Stephanie Williams, die höchstrangige Vertreterin der UN in Libyen, voriger Woche machte, lieferten seit dem 8. Juli 70 Flüge und drei Frachter Nachschub zur Unterstützung Haftars, schätzungsweise 30 Flüge und neun Frachtschiffe brachten Ausrüstung für die GNA. Nach Schätzungen des in Stuttgart stationierten United States Africa Command setzte Russland im zweiten Quartal dieses Jahres 3 000 Söldner der Gruppe Wagner sowie 2 000 »von Russland gesponserte« syrische Söldner zur Unterstützung Haftars ein, einige Dutzend Militärausbilder hat demnach das türkische Militärunternehmen Sadat nach Tripolis gesandt, um Milizen der GNA und syrische Söldner auszubilden; Sadat beaufsichtige und bezahle die schätzungsweise 5 000 syrischen Söldner, die auf Seiten der GNA kämpfen.

Die wirtschaftliche Lage im Land ist desaströs. In der ersten Ausgabe des von der der World Bank Group publizierten Libya Economic Monitor hieß es im Juli: »Die libysche Wirtschaft wurde jüngst von vier sich überschneidenden Schocks getroffen: ein sich intensivierender Konflikt, der die Wirtschaftsaktivität erstickt, die Schließung von Ölfeldern, die die Haupteinnahmequelle des Landes weitgehend versiegen lässt, sinkende Ölpreise, die das Einkommen aus der Ölproduktion der weiterhin fördernden Felder reduziert, und die Covid-19-Pandemie (…), die die Wirtschaft weiter zu hemmen droht.«

Es existieren somit reichlich Gründe für Proteste. Bereits die jüngsten haben das Ausmaß der Korruption und des Banditenwesens der Milizen auf beiden Seiten des Konflikts erhellt.