Boykott aus dem Heizungskeller
Turntables, eine billige Kamera und eine funktionierende Internetverbindung waren alles, was Blaise Bellville für die Übertragung des ersten DJ-Sets aus einem Londoner Heizkeller brauchte. Das von ihm nach diesem Heizkeller Boiler Room benannte Videoformat ist seit dem ersten Gig im Jahr 2010 zu einer weltweit bekannten Marke aufgestiegen. Wöchentlich streamte Bellville in der Folgezeit an den Decks stehende Underground-DJs aus aller Welt. Mit stolzem Verweis auf die bisher über 8 000 Übertragungen von 5 000 Künstlern aus 200 Städten bewirbt Boiler Room dieses Jahr das zehnjährige Jubiläum. Das erfolgreichste Set wurde bisher 47 Millionen Mal auf Youtube abgerufen; über drei Millionen Facebook- und über eine Million Instagram-Nutzer verfolgen die neuesten Veröffentlichungen des Musikprojekts.
Anfang Juli nutzte das Musikunternehmen Boiler Room seine große Reichweite, um auf Instagram eine Solidaritätsadresse an BDS zu verbreiten.
Anfang Juli nutzte das Unternehmen seine große Reichweite, um auf Instagram eine Solidaritätsadresse an die antisemitische Boykottkampagne BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) zu verbreiten. Unter dem Hashtag #freepalestine verurteilte es die Annexionspläne des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu als »Akt der Aggression« und rief das Publikum dazu auf, die Palästinenser zu unterstützen. Das Kürzel BDS wurde nach kurzer Zeit wieder gelöscht, wie unter anderem das Portal weraveyou.com berichtete. »Ihr seid offensichtlich sehr fehlinformiert über Israel und den Nahen Osten im Allgemeinen«, antwortete Aton Ben-Horin, der Vizepräsident der Abteilung »Artists & Repertoire« der Warner Music Group, auf den Post von Boiler Room. Solche Hassbotschaften schadeten beiden Konfliktparteien, schrieb er.
Auf welcher Seite Boiler Room steht, zeigte sich bereits 2018, als das Unternehmen einen Kurzfilm der Regisseurin Jessica Kelly veröffentlichte. In »Palestine Underground« stellt sie die arabische Technoszene in Haifa und Ramallah vor und dokumentiert den ersten Gig im Format von Boiler Room in der Westbank. Die Regisseurin und ihr Team geben darin vollkommen kritiklos den Mythos der Nakba (arabisch für »Katastrophe«) wieder, der die Gründung Israels ausschließlich als ein rassistisches Unternehmen zur Vertreibung der vermeintlich zuvor in friedlicher Koexistenz mit den Juden lebenden Palästinenser darstellt. »Wir sind die dritte Generation nach der Katastrophe, und wir wollen uns nicht mehr zum Opfer machen«, begründet ein Mitglied der Jazar Crew aus Haifa in dem Film seinen künstlerischen Aktivismus. Die Jazar Crew ist frustriert von der politischen Stagnation in den palästinensischen Autonomiegebieten, begründet diese aber allein mit der Existenz Israels. So präsentiert der Film ohne jegliche Kritik Künstlerinnen und Künstler, die einer vermeintlich authentischen und durch die Gründung des jüdischen Staats zerschlagenen palästinensischen Kultur huldigen. Die Willkürherrschaft in den Autonomiegebieten blenden die Musikerinnen und Musiker aus.
Die Sympathien von Boiler Room für BDS wurden im vorigen Jahr auch in Deutschland diskutiert. Als im Februar 2019 die beiden Kollektive La6izi und Arab*Underground im Berliner Club »Mensch Meier« den Film »Palestine Underground« zeigen und einige der darin porträtierten Musikerinnen und Musiker für einen Auftritt einladen wollten, forderten linke Gruppen eine Absage der Veranstaltung. Die Leitung des »Mensch Meier« kam der Forderung nicht nach, weil die veranstaltenden Gruppen abstritten, die BDS-Kampagne zu unterstützen. Dabei wies die linksradikale Gruppe »Theorie, Kritik und Aktion« darauf hin, dass Arab*Underground auf dem Fusion-Festival in Lärz (Mecklenburg-Vorpommern) 2018 ein Podium ausgerichtet hatte, in dessen Verlauf die Praxis von BDS präsentiert worden war. In einer im Februar 2019 veröffentlichten Stellungsnahme schrieb das »Mensch Meier«, man stelle das Selbstbestimmungsrecht der Juden nicht in Frage und lehne BDS ab. Gleichwohl wolle man den Raum für Diskussionen offenhalten. Die Verantwortlichen des Clubs ergänzten: »Damit wir keinen Applaus aus einer anderen, viel zu engen Ecke kriegen, stellen wir hier auch noch fest: Wir finden, die Bahamas geht gar nicht!« Auf eine Anfrage der Jungle World zu diesen Aussagen reagierte der Club nicht.
Die BDS-Kampagne versucht ihrerseits, deutsche Clubs unter Druck zu setzen. Mitte August vorigen Jahres veröffentlichte ein Gründungsmitgliedsverband von BDS, die Palästinensische Kampagne für den akademischen und kulturellen Boykott Israels (PACBI), einen Boykottaufruf, der sich gegen das »Conne Island« in Leipzig, den »Golden Pudel Club« in Hamburg und das »About Blank« in Berlin richtete. Weil sich die drei Clubs erdreistet hatten, Veranstaltungen mit Unterstützern der PACBI-Kampagne »DJs for Palestine« abzusagen, warf die Organisation ihnen vor, »Israels Regime der Apartheid, des Siedlerkolonialismus und der Besatzung zu fördern und es vor Kritik und Rechenschaftspflicht im Einklang mit dem Völkerrecht zu schützen«. Dies sei »Zensur, Einschüchterung und skandalöse Unterdrückung der Meinungsfreiheit«.
Der »Golden Pudel Club« antwortete auf den Boykottaufruf der PACBI in einer äußerst knappen Stellungnahme auf Twitter süffisant: »Wir nehmen es als Kompliment und gehen weiter unserer Wege.« Das »About Blank« begründete die Absage an »DJs for Palestine« in einer längeren Stellungnahme mit der grundsätzlichen Ausrichtung der BDS-Kampagne, »deren israelfeindliche Strategie aufgrund der Dämonisierung, Delegitimierung und doppelten Standards einen antisemitischen Charakter« habe. Die »einseitige Schuldzuweisung an Israel und die Ausblendung des jihadistischen Antisemitismus der Hamas« wertete das Kollektiv des Clubs als »Ausdruck von strukturellem Antisemitismus«. Man wolle in der Sache aber »gewöhnlich nicht parteiisch Stellung nehmen«, denn: »Auch ein sich politisch verortender, an zahlreichen Widersprüchen werkelnder Technoclub kann nicht der Ort sein, an dem ein so hochkomplexer und spannungsgeladener Konflikt wie der um Israel und Palästina gelöst wird.«