Bolivien vor der Präsidentschaftswahl

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Am 18. Oktober soll die erste Runde der Präsidentschaftswahlen in Bolivien stattfinden. In den Umfragen liegen Luis Arce von der »Bewegung zum Sozialismus« (MAS) und der ehemalige Präsident Carlos Mesa vorn. Die Interimspräsidentin Jeanine Áñez hat ihre Kandidatur zurückgezogen.

Luis Arce gibt sich gern als Pragmatiker. Der langjährige Wirtschaftsminister der Regierung von Evo Morales sieht sich als Wahrer der ökonomischen Stabilität während dessen fast 14jähriger Amtszeit. Damit wirbt der 57jährige Ökonom im Wahlkampf in Bolivien. Arce, Kandidat des Movimiento al Socialismo (Bewegung zum Sozialismus, MAS), will das Missmanagement der Interimsregierung von Jeanine Áñez beenden und verhindern, dass eine rechte Regierung die Ressourcen des Landes, von Erdgas über Lithium bis zu Eisenerz und Silber, erneut interna­tionalen Konzernen zur Ausbeutung überlässt. Die rechtskonservative Interimsregierung unter der bibelfesten Katholikin Jeanine Áñez strebte Privatisierungen an. Ihr Mandat ist eigentlich auf die Vorbereitung von Neuwahlen beschränkt, doch sie hat es gleich mehrfach überschritten und grund­legende politische Entscheidungen durchgesetzt. So hat sie die Verwendung von gentechnisch verändertem Saatgut genehmigt, womit sie der Agrarlobby im Tiefland von Santa Cruz weit entgegenkam.

Klientelpolitik prägt die Amtszeit der Interimspräsidentin Áñez – doch sie ist ein Grundproblem der politischen Strukturen Boliviens. Auch der MAS hat sich an staatlichen Ressourcen bedient.


Dort kann Luis Camacho, Rechtsanwalt, christlicher Fundamentalist und sehr gut mit der extremen Rechten in Brasilien und Kolumbien vernetzt, auf den größten Stimmenanteil bei den Präsidentschaftswahlen hoffen. Camacho wurde mit 23 Jahren Leiter der Un­ión Juvenil Cruceñista (UJC), einer offen separatistischen und rassistischen Organisation mit paramilitärischen Strukturen. Er trug maßgeblich zur Entmachtung von Evo Morales bei und nutze seinen Einfluss auf die Interimsregierung, damit diese dem MAS-Vorsitzenden die Rückkehr in das politische Leben Boliviens verwehrt. Um das zu bewerkstelligen, hat die die Interimsregierung von Jeanine Áñez mehrere Gerichtsprozesse angestrengt. Allerdings ist der extrem polarisierende Camacho außerhalb seiner Hochburg Santa Cruz kein populärer Kandidat, er dürfte den jüngsten Umfragen zufolge nur auf rund 13 Prozent der Stimmen kommen.

Das macht ihn zum Drittplatzierten in der Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos, das landesweit 2 000 Bolivianerinnen und Bolivianer befragte. In Führung liegt demnach Luis Arce mit 34 Prozent der Stimmen. Ihm folgt der sozialliberale ehemalige Präsident Carlos Mesa von der Comunidad Ciudadana (Bürgergemeinschaft) mit 27,9 Prozent, der keinen mächtigen Parteiapparat hinter sich hat und eher in städtischen und bürgerlichen Milieus als auf dem Land populär ist. In den oft indigen geprägten ländlichen Regionen hat der MAS seine wichtigste Basis – und im oberhalb von La Paz gelegenen El Alto, der am schnellsten wachsenden Stadt Boliviens.
Dort soll Luis Arces Abschlusskundgebung stattfinden. In und um den Handelsknotenpunkt auf der Hochebene fanden im August Straßenblockaden wegen der Verschiebung der Präsidentschaftswahlen durch das Oberste Wahlgericht statt. Dieses hatte den Termin vom 3. Mai auf den 6. September und dann noch einmal auf den 18. Oktober verschoben. Offiziell begründet wurde das mit der Infektionsgefahr aufgrund der Covid-19-Pandemie. Doch das lassen Kritiker der Regierung nicht gelten. Einer von ihnen ist der Architekt Freddy Mamani. »Wieso werden lange Schlangen vor den Banken, aber nicht vor den Wahllokalen geduldet?« fragt der 48jährige, der in El Alto lebt und mit seinen farbenfrohen, architektonisch an Symbole der indigenen Aymara-Kultur anknüpfenden Bauten auch international bekannt wurde.

Das Urteil des Wahlgerichts sehen Kritiker als politische Gefälligkeit. »Die Interimsregierung von Jeanine Áñez hat nach dem Rücktritt von Evo Morales im November 2019 die Regierung übernommen. Sie hatte das Mandat, geregelte Wahlen binnen drei Monaten durchzuführen. Doch das hat sie nicht getan. Sie hat grundlegende politische Entscheidungen getroffen und die Wahlen nicht nur wegen der Corona­krise verschoben«, kritisiert Mamani.

Ein ähnlich schlechtes Zeugnis stellt der Soziologe Marco Gandarillas der Präsidentin aus, die im September ihre Kandidatur bei den kommenden Präsidentschaftswahlen zurückzog. »Mit der Kandidatur hatte sie sich in einen Interessenkonflikt begeben. Und sie hat ihr Mandat verletzt, das ihr eigentlich nur die Durchführung der Wahlen und die Leitung der Regierungsgeschäfte gestattete, indem sie Interessenpolitik machte – für die konservative Rechte«, urteilt der in La Paz lebende Analyst und Menschenrechtler. Eine Einschätzung, die Rafael Puente teilt. Er war im ersten Kabinett von Evo Morales ab 2006 stellvertretender Innenminister und verweist auf die Freigabe von Genmais durch die Interimsregierung. »Das ist nicht zu legitimieren, hat immense Bedeutung für die Zukunft und ist im Interesse der Agrarexporteure aus Santa Cruz erfolgt«, so der 80jährige Puente.

Klientelpolitik prägt die Amtszeit von Áñez – doch sie ist ein Grundproblem der politischen Strukturen Boliviens. Auch der MAS hat sich in den letzten Jahren seiner Regierung an staatlichen Ressourcen bedient, nicht nur im Wahlkampf 2019, sondern auch im politischen Alltag. Staatliche und kommunale Aufträge, die nicht öffentlich ausgeschrieben wurden, sind dafür ein Beispiel. Klientelistische Strukturen prägen das System.

Das habe sich unter Áñez fortgesetzt – nur unter anderen politischen Vorzeichen, so Gandarillas. In einem Beitrag für das Online-Medium Brújula digital schrieb er, dies liefere den perfekter Nährboden für Korruption, ein Beispiel sei die Bestellung von Beatmungsgeräten weit über dem Weltmarktpreis, die den Gesundheitsminister Marcelo Navajas zu Fall brachte. Weitaus wichtiger sei jedoch, dass Posten in staatlichen Unternehmen wie dem Erdölkonzern YPFB nach politischen Kriterien besetzt werden. Das mache es schwierig, die Korruption zu bekämpfen, die in Bolivien fest etabliert sei, so Gandarillas.

Dass Luis Arce und sein Kandidaten für die Vizepräsidentschaft, der ehemaligen Außenminister David Choquehuanca, im Fall ihres Wahlsiegs daran etwas ändern werde, bezweifeln Gandarillas und Puente. Sie trauen den beiden, die sich um ein moderates Auftreten bemühen, jedoch zu, das Land wieder zu stabilisieren. Das scheint eine wachsende Zahl von Bolivianern und Bolivianerinnen ebenso zu sehen. Der am Montag veröffentlichten Umfrage des Fernsehsenders Unitel zufolge liegt Luis Arce mit 42,2 Prozent der Stimmen mehr als neun Prozentpunkte vor Carlos Mesa. Nötig für einen Sieg im ersten Wahlgang, der vom MAS angestrebt wird, ist jedoch ein Vorsprung von zehn Prozentpunkten. Vieles deutet auf einen zweiten Wahlgang hin, in dem Carlos Mesa gewinnen könnte, weil er auf Wähler Camachos zählen kann. Proteste der radikalen MAS-Anhänger wären dann programmiert.