Ein Gespräche mit dem Soziologen Volodymyr Artiukh über Arbeiter­proteste gegen das belarussische Regime

»Arbeiter sollen in Belarus nicht politisch aktiv sein«

Seit Monaten protestieren Hunderttausende gegen den Autokraten Lukaschenko. In vielen Betrieben kam es zu Streiks, obwohl soziale Unsicherheit und autoritäre Kontrolle die Organisierung erschweren.
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Volodymyr Artiukh ist Soziologe und Sozialanthropologe. Er ist Research Fellow am unabhängigen Forschungs­institut New Europe College in Bukarest und Redaktionsmitglied der ukrainischen Zeitschrift »Commons: Journal of Social Criticism«. Er promovierte an der Central European University über die belarussische Arbeiterbewegung.

 

Seit Monaten demonstrieren Hunderttausende gegen die belarussische Regierung. Was ist die soziale Basis der Proteste?

Proteste gibt es in allen sozialen Milieus. Unternehmer und Arbeiter nehmen daran teil, und in Minsk sieht man sogar, wie Rentner als Gruppe in Erscheinung treten. Selbst in den ländlichsten Gebieten gibt es Stimmen gegen die Regierung. Natürlich sind junge, gebildete Menschen, etwa aus der IT-Branche, deutlicher wahrnehmbar, weil sie organisieren und mit dem Internet umgehen können, aber sie sind bei weitem nicht die einzigen, die auf die Straße gehen.

Welche Rolle spielen Arbeiter bei den Protesten?

Seit August gibt es immer wieder Arbeitskämpfe und Proteste: spontane Versammlungen, Arbeitsniederlegungen, Petitionen. Oft versammelten sich Arbeiter außerhalb der Arbeit, traten aus den ›gelben Gewerkschaften‹ (regierungsfreundliche, von den Betriebsleitungen kontrollierte Gewerkschaften, Anm. d. Red.) aus und schufen Streikkomitees. Aber tatsächliche Streiks gab es nur eine Handvoll.

Die Arbeiterproteste haben mich überrascht. Zwischen 2015 und 2017 habe ich Feldforschung unter unabhängigen Gewerkschaftern und Arbeitern in Belarus betrieben. Was ich sah, war sehr entmutigend. Diese Leute waren in einer ziemlich verzweifelten Situation, ihre Organisationen waren schwach und marginal.

Es gab keine Streikwelle, aber selbst Arbeitsniederlegungen für ein oder zwei Tage hätte ich mir früher nicht vorstellen können. Die Menschen müssen wohl außerhalb der Fabrik politisiert worden sein, denn ich denke, dass es immer noch sehr schwierig ist, in den Betrieben zu organisieren.

Wie hat der Staat auf die Proteste der Arbeiter reagiert?

Die Bürokraten schienen zunächst überrumpelt. Sie sprachen mit den Arbeitern und unterzeichneten sogar Petitionen gegen Wahlbetrug und Polizeigewalt. Aber seit Ende August ist der Staat dazu übergegangen, aktive Arbeiter systematisch zu bedrohen, zu entlassen oder festzunehmen. Das erklärt, warum die Arbeiterunruhen wieder abgeflaut sind. Die Belarussische Unabhängige Gewerkschaft hat am meisten gelitten: Viele Mitglieder sind im Gefängnis, einige im Exil. Vor einigen Tagen musste der Anführer des Streikkomitees in der Minsker Traktorenfabrik (Sergej Dylewskij, Anm. d. Red.) nach Warschau fliehen. Arbeiter sollen in Belarus nicht politisch aktiv sein und sind häufig völlig atomisiert.

Warum sind die Gewerkschaften so schwach?

Das war nicht immer so: In den letzten Jahren der Sowjetunion gab es riesige Arbeiterproteste. Große Teile der Arbeiterbewegung blieben in den neunziger Jahren militant und in Opposition zu Präsident Alexander Lukaschenko. Bei der Präsidentschaftswahl 2001 (am Ende von Lukaschenkos erster Amtszeit, Anm. d. Red.) trat Wladimir Gontscharik, der damalige Vorsitzende der Belarussischen Gewerkschaftsföderation, die fast alle Arbeiter vertritt, gegen Lukaschenko an. Danach änderten sich die Dinge sehr schnell. Lukaschenko setzte eine loyale Führung bei der Gewerkschaftsföderation ein, die seitdem de facto ein Organ der Staatsbürokratie ist, und übte starken Druck auf die militanteren kleinen Gewerkschaften aus. Nach der Niederlage der Arbeiterbewegung konnten unabhängige Gewerkschaften nur noch in Nischen existieren.

Was heißt es, in Belarus Arbeiter zu sein?

Es gibt einen Arbeitsmarkt, aber der Staat versucht, die Löhne zu kontrollieren, und übt bürokratische Kontrolle über die Arbeiter aus, vor allem in den Betrieben und Fabriken. 50 Prozent, vielleicht 60 bis 70 Prozent der Wirtschaft sind direkt Staatseigentum, je nachdem, wie man zählt. Obwohl der Anteil zurückgeht, arbeiten offiziell 43 Prozent der Arbeiter im Staatsdienst.
Jede staatliche Fabrik hat einen »Direktor für ideologische Angelegenheiten«, der die Disziplin überwacht. Aber auch im privaten Sektor kann der Staat Druck ausüben. Über 90 Prozent der Arbeiter haben einen befristeten Vertrag über ein bis fünf Jahre, nach dessen Ende sie ohne Kompensation entlassen werden können. Das Ergebnis ist ein extrem flexibler Arbeitsmarkt. Diese Flexibilität erzwingt aber nicht der Markt, sondern die Bürokratie. Der Staat will keine Arbeitslosigkeit. Aber die Drohung, dass man seinen Arbeitsplatz verlieren könnte, schwebt immer über einem.

»Das jetzige Arbeitsregime in Belarus ist für die Arbeiter noch schlimmer als das der späten Sowjetzeit.«

Dieses System produziert billige Arbeitskräfte und erlaubt es dem Staat, Menschen nach Bedarf zu verschieben oder Privatunternehmen mit Arbeitern zu versorgen. Das jetzige Arbeitsregime in Belarus ist für die Arbeiter noch schlimmer als das der späten Sowjetzeit. Es kombiniert den bürokratischen Despotismus der Sowjetunion mit dem Marktdespotismus der kapitalistischen Gegenwart.

Belarus ist berüchtigt dafür, dass Arbeitslose eine Strafe an den Staat zahlen müssen.

Ja, das sogenannte Gesetz gegen soziales Parasitentum von 2015. Wer nicht arbeitet und nicht im Arbeitslosenzentrum registriert ist, muss eine hohe Gebühr bezahlen. Dagegen gab es 2017 Proteste. Die Wirtschaft erholte sich damals gerade von der Rezession von 2014 und 2015. Als Reaktion auf diese hatte die Regierung das Rentenalter erhöht und einige Staatsbetriebe privatisiert. Die Wut über das zunehmend neoliberale Antlitz des Staats, die Entrechtung der Arbeiter, stagnierende Löhne und das neue Gesetz kamen zusammen. Denn das Gesetz belastete Menschen nicht nur finanziell, es war ein moralischer Angriff. Menschen wurden »Parasiten« genannt. Die Wut darüber schuf eine neue Art von Protest, der alle Teile der Bevölkerung ansprach. Die heutigen Proteste, auch wenn bei ihnen nicht wirtschaftliche Forderungen im Zentrum stehen, sind eine Folge dessen.

Belarus hat den Zusammenbruch der sowjetischen Planwirtschaft seinerzeit relativ gut bewältigt und hatte im Vergleich zu anderen postsowjetischen Staaten einen hohen Lebensstandard. Ist das nicht mehr der Fall?

Es stimmt, dass die belarussische Wirtschaft Anfang der neunziger Jahre wieder wuchs, während Lukaschenko seine Macht festigte. In den frühen nuller Jahren profitierte Belarus wie Russland vom Rohstoffboom, und die Wirtschaft wuchs um sieben Prozent jährlich. Belarus verkaufte das russische Öl weiter und profitierte vom Kali-Export. Die Rezession von 2011 markierte das Ende dieser goldenen Jahre. Seitdem wächst die Wirtschaft nur noch langsam. Die Einkommen fielen, dann stiegen sie wieder ein bisschen, aber das Gefühl, dass der Lebensstandard weiter steigen würde, ist verlorengegangen. Die Legitimität der Regierung fußte immer auf dem Versprechen von steigenden Löhnen und wirtschaftlicher Stabilität.

Was hat die Regierung getan, um die wirtschaftlichen Probleme zu lösen?

Es gab keine Strategie, nur ad hoc-Maßnahmen. Der herrschende Kreis um Lukaschenko will die Wirtschaft reformieren, aber er will nicht die Kontrolle verlieren. Die Gestalt des belarussischen Staats ist nicht unmittelbar Ausdruck kapitalistischer Interessen. Er handelt sich um eine Art Bonapartismus, es gibt ein autonomes politisches Zentrum, das nicht auf eine Klasse reduzierbar und nicht primär an Profitmaximierung interessiert ist, sondern am Erhalt von politischer Macht. Das heißt nicht, dass der belarussische Staat außerhalb der Kapitallogik stünde – er muss ja im globalen kapitalistischen System bestehen und irgendwie seinen Anteil an den Profiten kriegen. Also muss der Staat die Entwicklung des Kapitals zugleich fördern und es kontrollieren.

Die Liberalisierung der Wirtschaft begann mit den wirtschaftlichen Problemen vor zehn Jahren. Die Regierung flexibilisierte den Arbeitsmarkt, um die Bedingungen für Privatunternehmen zu verbessern, und versuchte, eine Hightech-Industrie und einen mit Kunden im Westen verbundenen IT-Sektor aufzubauen. Es sollte erreicht werden, woran Gorbatschow gescheitert war: eine Marktwirtschaft zu entwickeln, ohne dass der politische Überbau aus­einanderbricht. Das sind die Widersprüche des belarussischen Staats heute: Er fördert die Entstehung einer kapitalistischen Klasse, will aber die Kontrolle behalten. Er besitzt immer noch die größten Industriebetriebe, die Kali-Bergwerke und die Ölraffinerien, die die meisten Devisen erwirtschaften. Die Arbeiter sollen die soziale Basis der Regierung sein, werden aber vom Staat völlig passiv und unorganisiert gehalten. Der Staat verhindert nahe­zu jegliche Politik oder Solidarität unter ­ihnen. Diese Widersprüche einer sich entwickelnden kapitalistischen Wirtschaft, die sowohl den Unternehmern als auch den Arbeitern politische ­Autonomie vorenthält, sind dieses Jahr explodiert.

Welche Rolle spielen ökonomische Forderungen bei den Protesten?

Keine große. Der Koordinierungsrat der Opposition hat kein klares ökonomisches Programm, und überhaupt besteht kaum die Chance, dass er bald an die Macht kommen könnte. Ich denke, Russland ist jetzt der entscheidende Akteur. Auch die EU hat keinen Einfluss. Russland, Lukaschenko und die Bevölkerung, das sind die drei Parteien. Wir müssen uns auf eine läng­ere Pattsituation einstellen, in der Russland das Gewicht in eine der beiden Richtungen verschieben kann.

Unterstützt der russische Präsident Wladimir Putin Lukaschenko nicht?

Doch, aber die Interessen der beiden sind nicht die gleichen. Lukaschenko will an der Macht bleiben, aber Putin ist das egal, er will nur eine loyale Regierung, und Lukaschenko war nie ein verlässlicher Partner. Russland würde wahrscheinlich eine Dezentralisierung der Macht bevorzugen oder gleich einen Machtwechsel. Wenn die Pro­teste nicht ermüden, könnte es zur Beteiligung von Oppositionellen an der Macht kommen. Aber was passieren wird, weiß niemand.