Australien in Sicht
Wegen der Covid-19-Pandemie spielen die strittigen Modalitäten des Austritts aus der Europäischen Union in der öffentlichen Debatte des Vereinigten Königreichs kaum noch eine Rolle. Nur manchmal steigt das Interesse an diesem Thema kurzzeitig, so wie vorige Woche, als der Europäische Rat tagte und die Staats- und Regierungschefs der EU feststellten, dass die britische Regierung noch keine ausreichenden Zugeständnisse gemacht habe, um ein Handelsabkommen zu ermöglichen.
Die Zeit drängt, denn die Übergangsphase nach dem am 31. Januar erfolgten Austritt endet am 31. Dezember. Verhandelt wird seit Monaten über drei zentrale Streitpunkte: die Fischereirechte für die EU in britischen Hoheitsgewässern, die Frage, inwieweit Großbritannien und die EU zukünftig ähnliche Standards in Sozial-, Umwelt- und Wirtschaftspolitik beachten werden, sowie eine institutionelle Regelung für Konflikte über die Einhaltung des Vertrags.
Der Austritt aus der EU wurde im Namen der Wiedererlangung der Souveränität propagiert, das macht Kompromisse schwierig.
Der britische Premierminister Boris Johnson hatte im September den 15. Oktober als Frist für Verhandlungen benannt. Gebe es bis zu diesem Zeitpunkt keine Einigung, werde man sich auf das vorbereiten, was Johnson euphemistisch als »australische Lösung« bezeichnet. Die EU hat derzeit kein Handelsabkommen mit Australien, man folgt den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO). Dies sei weitgehend unproblematisch, lässt die britische Regierung offiziell verlauten. Es könne allerdings etwas »holprig« werden, gab Michael Gove, der für die Vorbereitungen auf einen »No-deal Brexit« zuständige Kabinettsminister, am Sonntag zu.
Diese Rhetorik verschleiert die Gefahren eines Scheiterns der Verhandlungen. Der bereits abgeschlossene Austrittsvertrag zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich sieht vor, dass Nordirland weiter dem Zollraum und Binnenmarkt der EU angehört; eine Regelung, die eine »harte Grenze« mit Kontrollen zwischen dem Norden und Süden Irlands verhindern soll. Ohne ein Handelsabkommen läge die Zollgrenze demnach zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs. Johnson hatte dieser Regelung vor einem Jahr zugestimmt und damit den Austrittsvertrag erst ermöglicht. Doch nun will die britische Regierung im Falle eines »No-deal Brexit« diese Abmachung ignorieren. Das käme einem Bruch internationalen Rechts gleich und hätte möglicherweise fatale Folgen für den brüchigen Frieden in Nordirland.
Auch für die britische Wirtschaft wäre das Scheitern der Verhandlungen schwer zu verkraften. Am Wochenende forderten nahezu alle signifikanten britischen Wirtschaftsverbände, von der Confederation of British Industry (CBI) bis zur National Farmers’ Union (NFU), in einer gemeinsamen Erklärung die Regierung auf, einen Freihandelsvertrag mit der EU zu schließen. Die nach den WTO-Regeln fälligen Zölle auf Autos, chemische und medizinische Produkte sowie landwirtschaftliche Güter bedrohten die Wettbewerbsfähigkeit der britischen Firmen auf den Märkten der EU. Viele Unternehmen seien, so die Verbände, nicht auf das Ende der Übergangsphase vorbereitet.
Die verbleibenden Streitfragen sind nicht unlösbar. Im Kern geht es weiter um das, was EU-Politiker den britischen cakeism nennen, Bezug nehmend auf das britische Sprichwort: »Man kann den Kuchen nicht gleichzeitig essen und behalten.« Die EU weist seit Jahren darauf hin, dass ein relativ freier Zugang zum Binnenmarkt nur dann möglich sei, wenn sich die Briten weiter an dessen Regeln halten. Doch der Austritt aus der EU wurde im Namen der Wiedererlangung der Souveränität propagiert, das macht Kompromisse schwierig.
Während Johnson ungeachtet seiner Rhetorik als flexibel gilt, gibt es in der britischen Regierung Hardliner, die dem Ökonomen Patrick Minford folgen und regelrecht auf den Untergang ganzer Industriezweige hoffen, um grundlegende Modernisierungen durchzusetzen – durchaus mit Verweis auf die seinerzeitigen Rezepte einer Margaret Thatcher. Minfords Anhänger, unter ihnen der einflussreiche Minister für Parlamentsangelegenheiten, Jacob Rees-Mogg, werfen den Industrieverbänden vor, nicht genug getan zu haben, um sich darauf vorzubereiten.
Ungenügend vorbereitet ist allerdings nicht zuletzt die Regierung. Verzögerungen bei Importen könnten die Versorgung gefährden, auch bei Medikamenten und anderen medizinischen Produkten, für die wegen der Coronakrise erhöhter und dringlicher Bedarf besteht. Gove hat sich in den vergangenen Monaten vor allem mit der Frage beschäftigt, wie eine potentielle Ansammlung von Tausenden Lastwagen im Hafen von Dover und am Ende des Eurotunnels in Folkestone bewältigt werden könne. Beide Orte liegen in der Grafschaft Kent, die britische Regierung hat dort ein riesiges Industriegelände gekauft, das als Parkplatz dienen soll.
Ob mit oder ohne Handelsabkommen: Ab Januar 2021 müssen Zollerklärungen und Exportbescheinigungen ausgefüllt und kontrolliert werden. Dazu bedarf es nach im Januar öffentlich bekannt gewordenen Schätzungen, die von der britischen Regierung bestätigt wurden, mindestens 50 000 zusätzlicher Arbeitskräfte. Bisher ist nur ein Bruchteil des benötigten Personals eingestellt worden. Wegen solch mangelhafter Vorbereitung will die britische Regierung bis mindestens Mitte 2021 auf strenge Aus- und Einfuhrkontrollen verzichten. Frankreich und die Niederlande, die Partner beim Handel über den Ärmelkanal, wollen indes britische Lastwagen vom 1. Januar an nach den neuen Regeln abfertigen – und das kostet Zeit.
Viele Beobachter erwarten ein Einlenken der britischen Regierung. »Die Handelsgespräche sind vorbei«, hatte Johnson am Freitag voriger Woche verkündet und für eine Wiederaufnahme Zugeständnisse der EU verlangt. Gove sagte am Sonntag, die Tür für Verhandlungen sei »halboffen«.
Aus Sicht der oppositionellen Labour-Partei beweist die inkohärente Haltung der Regierung einmal mehr deren Inkompetenz. Ähnlich sieht es eine Institution, der man Linkslastigkeit sicher nicht nachsagen kann: Am Freitag vergangener Woche wertete die Rating-Agentur Moody’s die Bonität von britischen Staatsanleihen ab. Bereits 2017 hatte Großbritannien das AAA-Rating verloren, nun ging es weiter bergab von AA2 auf AA3. Moody’s vermisst eine »vorhersehbare und vertrauensbildende« Verhandlungsstrategie und beklagt allgemein »die Schwächung der Institutionen und der Regierungsfähigkeit«.