Endmoränenlandschaft ohne Pocahontas
Unter dem Titel »Warum Cortés wirklich siegte« liegt nun der letzte von vier Bänden vor, die Klaus Theweleit veranschlagt hat, um die Entdeckung und Kolonisierung des amerikanischen Kontinents durch den weißen Mann Europas in der für den Autor typischen materialreichen und assoziativen Weise durchzuarbeiten. Zusammengenommen firmiert das Werk als der »Pocahontas-Komplex«, wobei jeder der Bände mit einer Silbe des Namens der ebenso mythenumrankten wie historisch verbrieften Algonquin-Indianerin gekennzeichnet ist. Band 1, »Pocahontas in Wonderland«, erschien 1999 und etablierte das Leitmotiv des Zyklus: die Geschichte von der Häuptlingstochter, die ihrem Vater in den Arm gefallen sein soll, als dieser den europäischen Eindringling John Smith erschlagen wollte. Getauft auf den biblischen Namen Rebecca und verheiratet mit dem Tabakpflanzer John Rolfe wurde sie schließlich zum Urbild der assimilationswilligen Indigenen, deren Hingabe an den fremden Mann, seine Traditionen und Werte die Grundlage für eine gewaltlose Koexistenz der Kulturen gewesen sein soll, die bis heute nicht gelingen will – in den beiden Amerikas nicht und auch nicht anderswo.
Getauft auf den biblischen Namen Rebecca wurde Pocahontas zum Urbild der assimilationswilligen Indigenen, deren Hingabe an den fremden Mann die Grundlage für eine gewaltlose Koexistenz der Kulturen gewesen sein soll, die bis heute nicht gelingen will.
Dass die historischen Ereignisse, auf die sich diese Erzählung bezieht, so harmonisch nicht gewesen sind, wie sie als Mythos einer friedlichen Kolonisierung Nordamerikas dann berichtet wurden, versteht sich von selbst, und Theweleit trägt an historischen Zeugnissen zusammen, was sich finden lässt, um das zu belegen. Allerdings geht es ihm nicht einfach darum, aufzuzeigen, wie gewaltgeladen die Pocahontas-Geschichte eigentlich gewesen ist. Vielmehr interessiert ihn die Wirklichkeit des Pocahontas-Mythos, seine Verflechtungen und Verästelungen, das wuchernde Nachleben, das ihm in der US-amerikanischen Populärkultur zuteil wurde, und vor allem die alteuropäischen Traditionen, die sich in ihm fortgeschrieben haben. Denn die narrativen Strukturmomente, die sich in den Erzählungen von der christianisierten Häuptlingstochter verdichtet haben, sind wesentlich älter als die historische Episode, auf die sie sich beziehen. Die Deutungsmuster gingen der Erfahrung auf Seiten der Kolonisatoren also voraus, und das, was ihnen als das vermeintlich Fremde entgegentrat – die bösen wie die edlen »Wilden« –, war präfiguriert in einer kulturellen Tradition, die zwar jeder »authentischen« Erfahrung des Fremden im Wege stand, es aber zugleich ermöglichte, sinnvolle Erfahrung in der »Neuen Welt« überhaupt zu machen.
Theweleit belegt diese These zunächst am Beispiel der Shakespeare-Romanze »Der Sturm«, die gleichsam im Tornister der Seefahrer, und also in ihrem Rücken, über den Atlantik gelangte, um sich dort mit dem chaotischen und wesentlich gewalttätigen Geschehen zu einer Geschichte zu verbinden, in der vorab harmonisiert und versüßt wird, was eigentlich ein Akt der brutalen Landnahme und wirtschaftlichen Expansion gewesen ist. Der zweite Band des Zyklus, unter dem Titel »Buch der Königstöchter« 2013 erschienen, nimmt diese Spur auf und verfolgt sie zurück bis hin zur griechischen Mythologie. Entfaltet wird ein üppiges Panorama mythischer Königstöchter, deren Raub, Schändung und Befruchtung durch kulturfremden Samen den Sturz der alten Reiche zwar besiegelte, deren widerwillige Verbindung mit den vorgeschichtlichen Konquistadoren dann allerdings auch all jenen Heroen und Halbgöttern das Leben schenkte, um die sich der androzentrische Mythos, aus dem die europäische Kulturgeschichte dann erwachsen wird, eigentlich dreht.
Die These, die allein schon durch die Materialfülle besticht, die Theweleit auszubreiten in der Lage ist, lautet: Die Landnahme der Eindringlinge vollzieht sich immer durch die Körper der Königstöchter. Und so zieht sich die Kette der zum Zwecke der Landnahme geschändeten Frauenkörper von Medea bis Pocahontas und darüber hinaus durch die Geschichte und stiftet einen misogyn-gewalttätigen Zusammenhang, der erzählt werden will, ohne letztlich verstanden werden zu können – #MeToo bezeichne gleichsam den Anfang der griechischen Kultur, wie der Autor anlässlich der Neuauflage des Bandes ein wenig nach Aufmerksamkeit heischend formulierte. Die Frage, ob es bei dem, was da zum Vorschein gekommen ist, tatsächlich um historische Anfänge geht, um Fälle also, die sich historiographisch und juridisch klären ließen, oder nicht vielmehr um Strukturmomente einer dezidiert männlichen Weltsicht, die man mit C. G. Jung archetypisch nennen oder mit Theweleit selbst als uralte, womöglich überzeitliche »Männerphantasie« fassen könnte, bleibt unaufgelöst, ist wohl auch unauflösbar. Die geschändeten Frauenleiber jedenfalls liegen da: nicht als Begleiterscheinung des (vorgeschichtlichen) Kolonialismus, sondern als seine (mythologische) Voraussetzung.
Den Bogen vom Pocahontas-Stoff zu den zwei Bänden »Männerphantasien«, die Ende der siebziger Jahre seinen Ruhm begründeten, hat Theweleit bereits 1999 in »You Give Me Fever« geschlagen, dem vierten Band des Pocahontas-Projekts, wobei sich man nicht dadurch verwirren lassen darf, dass der vierte Band des »Pocahontas-Komplexes« im selben Jahr erschien wie der erste Band. Der Topos der Landnahme durch die Schändung von Königstöchtern wird hier in der westdeutschen Nachkriegszeit wiederaufgenommen, wobei der wohl beste, jedenfalls aber schönste Band der Tetralogie die Geschichte von der geraubten / hingebungswilligen Häuptlingstochter in einem sanfteren Licht erscheinen lässt. Arno Schmidts Erzählung »Seelandschaft mit Pocahontas« von 1953 dient Theweleit als Zeugnis für ein Begehren nach Versöhnung und Zärtlichkeit, das den imaginierten Körperpanzer der geschlagenen Weltkrieger, den die »Männerphantasien« so eindringlich und bildgewaltig vor Augen geführt haben, zu durchdringen, ihre Isolation im starren Korsett des Kriegerkörpers zu beenden vermöchte. Im Zeichen dieses Begehrens wird Pocahontas dann zu einer Verheißung, die weniger auf die Kolonisierung der »neuen Welt« durch die Europäer als vielmehr auf die Zivilisierung der Deutschen und ihrer Kultur durch die US-amerikanischen Besatzer mit ihrer culture verweist.
Gerade weil Pocahontas in den USA vom Mythos längst zu einem Popphänomen geworden ist, weist sie als Figur über den blutigen Ernst der mythischen Schändungen hinaus in Richtung einer Sexualität, die ohne Gewalt und ohne den außerhalb ihrer selbst liegenden Zweck der Landnahme auskommen könnte. Ihres historischen Kontextes entkleidet erscheint die Häuptlingstochter so in der niedersächsischen Provinz als Sinnbild für das uneingelöste – womöglich uneinlösbare – Versprechen einer tatsächlich liebevollen Begegnung mit der anderen. »Die Sexualität schreiben nach Weltkrieg zwei«, so einer der Untertitel des Bandes, ist ein Buch über die Nachkriegszeit, das sich allein schon deshalb zu lesen lohnt, weil sein Autor den »Großstadtindianern« unter seinen Generationsgenossen und ihrer infantilen Identifikation mit dem »Ursprünglichen« und »Wilden« das reife Versprechen einer intellektuell gebrochenen, verspielten und erotischen Vermischung mit den US-amerikanischen Besatzern entgegenhält – libidinöse Westbindung der Kolonisierten statt »Yankees raus!«
Nun also der dritte Band des Schubers, der das Projekt zu seinem Abschluss bringen soll. Der Titel verspricht, dass das Buch den südlichen Teil des amerikanischen Kontinents zum Thema hat und somit eine Frage wiederaufgenommen wird, die vor allem im ersten Band zentral war: Ist die Kolonisierung Amerikas überhaupt als eine Geschichte zu schreiben? Oder sind die Unterschiede, die sich aus dem Umstand ergeben, dass die Landnahme Nordamerikas durch vorwiegend nordeuropäische, nämlich britische und also protestantische Kolonisatoren erfolgte, während die Kolonisierung Lateinamerikas durch vorwiegend südeuropäische, nämlich spanische und also katholische Konquistadoren betrieben wurde, so eklatant, dass man es mit zwei Geschichten zu tun hat?
Bezogen auf den Pocahontas-Stoff: Was wäre aus Pocahontas geworden, wenn die Häuptlingstochter statt auf Shakespeare auf Cervantes getroffen wäre? Und welcher spanische Autor der Nachkriegszeit hätte ihr einen so zärtlichen Empfang bereitet haben können, wie Arno Schmidt es in der Lüneburger Heide getan hat? Dergleichen Fragen wird man an Theweleit richten dürfen, er selbst hat sie aufgeworfen und in »Pocahontas 1« bereits viel dazu geschrieben.
Die Hoffnung auf eine Wiederaufnahme dieses Fragenkomplexes allerdings wird enttäuscht. Hatte Pocahontas – das Leitmotiv der historischen / mythischen / popkulturell verkitschten Häuptlingstochter – die monströsen von Theweleit zusammengetragenen Stoffmassen trotz seiner typischen Abschweifungen immerhin locker strukturiert, so scheint sie nun funktionslos geworden zu sein. Bezogen auf das Gesamtprojekt stellt der jüngste Band im Grunde eine einzige Abschweifung dar, in der Pocahontas nur noch eine kaum mehr erkennbare Rolle spielt. Stattdessen wird Klartext im Stil der deutschen Medienwissenschaft à la Friedrich Kittler serviert. Von einem »Quellcode unserer Zivilisation«, der offengelegt werden soll, ist nun dort die Rede, wo Theweleit die Gewaltgeschichte der europäischen Zivilisation zuvor zum Sprechen gebracht hat, indem er die hinterlassenen Quellen, Überreste und Monumente, Beobachtungen und Erinnerung, die Zeugnisse von Traum und Wirklichkeit, Wahrheit und Mythos, den Abfall, das Verdrängte und das Übersehene kraft einer eigentümlichen Assoziationsgabe zu einem Fließtext fügte, in dem etwas zum Ausdruck kommt, das zu deuten gutenteils dem lesenden Subjekt überlassen bleibt. Wer diese Methode zu schätzen wusste, ihr vielleicht gar Einsichten verdankt, die anders nicht möglich gewesen wären, der wird sich düpiert vorkommen, wenn er sich nun mit dem Begriffspaar »Segment« und »Sequenz« konfrontiert sieht, auf das Theweleit seine »Technologiegeschichte der eurasisch-amerikanischen Kolonialismen« herunterzubrechen sucht.
Bezogen auf das Gesamtprojekt stellt der jüngste Pocahontas-Band im Grunde eine einzige Abschweifung dar, in der die Häuptlingstochter nur noch eine kaum mehr erkennbare Rolle spielt. Stattdessen wird Klartext à la Friedrich Kittler serviert.
Am Anfang dieser Geschichte steht keine Begegnung in der »Neuen Welt«. Sie beginnt nicht mit dem geschriebenen Wort oder dem gesprochenen Mythos Europas, und der Auftakt verliert sich auch nicht im Unvordenklichen. Auf gut Deutsch besteht er in Zucht (Sequenzierung) und Ordnung (Segmentierung) – von Rindviechern. Und so geht das munter weiter: Entlang der Stationen Vokalalphabet, Zentralperspektive, Schiffsbau, Kartographie et cetera wird segmentiert und sequenziert, was greifbar ist, und greifbar wird, was einmal segmentiert und sequenziert worden ist. Nach knapp 200 Seiten werden dann haufenweise Spanier in Richtung Westen ausgesandt. Die allerdings führen augenscheinlich keine Literaturgeschichte mehr mit sich, tragen keine literarischen Deutungsmuster und feingliedrig verästelten narrativen Traditionen in die »Neue Welt«, die ihre dortigen Erfahrungen strukturieren könnten, sondern werden als geistlose Elemente eines Großcomputers avant la lettre modelliert, der auf den Namen »Casa de la Contratación« hört, in Sevilla steht und dazu dient, die neue Welt zu segmentieren und zu sequenzieren. Das liest man besser gleich in Bernhard Siegerts »Passage des Digitalen« (2003) nach, die Theweleit seitenweise exzerpiert, als ob es sich um eine schwer nur zugängliche antike Quelle oder das abseitige Zeugnis einer untergegangenen Gegenkultur handelte. Tut es aber nicht. Referiert wird über weite Strecken Wissenschaft, wie sie heute, 40 Jahre nachdem Kittler die »Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften« proklamierte, den Ton angibt. Kulturtechnikforschung, Anthropologie, und – man staunt! – die Hirnforschung werden gemäß dem aktuellen Kenntnisstand herbeizitiert, um im Bund mit jeder Menge schön erzählter Technikgeschichten zu belegen, dass alle Kultur und ihre Geschichte in den elementaren Operationen der Segmentierung und der Sequenzierung gründen.
Die so gezimmerte, seltsam starre Generalthese, die jede mögliche Dialektik vorab in den Bann der Digitalität zwingt, schiebt die behandelten Stoffmassen dann eher vor sich her, als in ihnen aufzugehen. In einer Reihe von »Gehirnsprüngen« – die bildgebenden Verfahren der Neurowissenschaften machen sie »sichtbar«, in der Technologie- und Kulturgeschichte werden sie »greifbar« – bildet sich die kognitive Matrix dessen heraus, was Theweleit das moderne »Segment-Ich« nennt: das männliche Kollektivsubjekt einer vom heutigen Europa ausgehenden Geschichte der Herrschaft und der Unterdrückung, der Landnahme und Enteignung, der Abspaltung und Verdrängung all dessen, was nicht in ihm aufzugehen bereit ist. Am Ende dieser Geschichte (und dieses Ende scheint erreicht, zumindest absehbar zu sein) hat das gefräßige Kollektiv-Ich dann kein Außen mehr, kann keine neue Welt mehr kolonisieren, nichts Fremdem mehr begegnen.
Zum Beispiel: Seit die Indigenen der beiden Amerikas ihrerseits zentralperspektivisch malen, ergibt es keinen Sinn mehr, von »indianischer Malerei« zu sprechen, und dort, wo längst auch Frauen rechnen, forschen und morden, sind sie nicht mehr in dem Sinn ausgeschlossen, der sie, Theweleit zufolge, über Jahrtausende zur Hüterinnen des »Sanften und Guten« in der Welt prädestinierte. Der Gewaltzusammenhang ist universell geworden. Er reicht noch in den letzten Winkel der Welt und wirkt zugleich bis tief in das Innere der Subjekte. Eine Chance, vielleicht die letzte, für einen »europäischen Pazifismus« – und einen anderen kann es nach der Kolonisierung der Welt durch Europa nicht geben – sieht Theweleit zum einen darin, den universellen Schuldzusammenhang, der in und durch die Subjekte wirkt, zu reflektieren und so den »Gewaltanteil«, der allen Kulturtechniken zugrunde liegt, zu mindern. Zum anderen sind es gerade die exzessive Vermischung der »Kulturen« und die Einsicht in die Nichtigkeit des eigenen, festgefügten Wesenskerns zugunsten der Bejahung einer artifiziellen und artistischen Segmentierung des Selbst, die dem Subjekt eine Überschreitung des festgefügten Herrschaftsbereichs ermöglichen könnten, in den es die bisherige Geschichte gebannt hat. Cultural appropriation als Schrittmacher eines Fortschritts der Menschheit, der immerhin denkbar zu sein scheint, Zivilisation als Aufhebung aller möglichen Kulturen (und eben auch »Europas«) in einem verallgemeinerten Segment-Ich, das seiner Nichtidentität gewahr geworden ist. Das ist eine schöne und versöhnliche Pointe, mit der sich Theweleit der identitätspolitischen Kritik von rechts wie links ohne jede Vorsichtsmaßnahme aussetzt.
Insgesamt ist der mäandernde, gelegentlich überschießende und oft mitreißende Gedankenfluss, der das Pocahontas-Projekt charakterisiert, auch in diesem letzten Band nicht zum Versiegen gekommen. Er schlängelt sich jedoch durch eine wüste Endmoränenlandschaft, in der die brachial exponierte und stur durchgeführte Kulturtechnikthese die Sedimente einer erschöpften Kulturgeschichte zu teils bizarren, teils eleganten Formationen hat gerinnen lassen. Diese Landschaft zu durchstreifen, ist nicht ohne Reiz, zumal der Verlag Theweleits üppig bebilderte Bücher sehr schön präsentiert. Und so begegnet einem viel Bekanntes nebst der einen oder anderen Überraschung, und am Ende dieses Streifzugs durch die Weltgeschichte bleibt die Frage, ob Cortés überhaupt gesiegt hat oder nicht als Sachwalter eines Weltgeistes fungierte, dessen dürftiges Geschäft eben im Segmentieren und Sequenzieren besteht. Und Pocahontas? Taucht gelegentlich mal auf.
Klaus Theweleit: Warum Cortés wirklich siegte. Technologiegeschichte der eurasisch-amerikanischen Kolonialismen. Pocahontas 3. Matthes und Seitz, Berlin 2020, 616 Seiten, 38 Euro