Im Gespräch mit Kat Calvin von »Spread the Vote« über die Präsidentschaftswahl in den USA

»Chaos und Bullshit sind immer denkbar«

Kat Calvin ist die Vorsitzende von »Spread the Vote«. Die gemeinnützige Organisation setzt sich dafür ein, den Zugang zu Wahlen in den USA zu erleichtern, insbesondere für benachteiligte Wählergruppen. Die »Jungle World« sprach mit ihr über ihre Arbeit und die anstehende Präsidentschaftswahl.
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Sie haben 2016 »Spread the Vote« gegründet – als Antwort auf die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten?

Ich war schon immer darauf konzentriert, die black community positiv zu verändern. Die Wahl 2016 ist auch deswegen so ausgegangen, weil drei Jahre zuvor der Oberste Gerichtshof der USA ein folgenschweres Urteil gefällt hat. Also habe ich beschlossen, mich dahingehend zu engagieren.

Können Sie das erläutern?

Der Voting Rights Act von 1965, der ­allen Bürgerinnen und Bürgern der USA das Wahlrecht garantiert, war eines der wichtigsten Gesetze, die aus der Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre hervorgegangen sind. Vor allem sicherte der Voting Rights Act auch das Wahlrecht der Mitglieder der black community, indem er es gewissen US-Bundesstaaten unmöglich machte, den Wählerinnen und Wählern Hindernisse in den Weg zu legen. Jede Änderung des Wahlsystems musste erst vom Justizministerium genehmigt werden.

Insbesondere in den Südstaaten wurde damals stark diskriminiert, es gab eine strikte Segregation, aber vor allem wurden Schwarze davon abgehalten, zur Wahl zu gehen. Es gab zum Beispiel allerlei Gebühren, die man zahlen musste, oder Lese- und Schreibtests, die man bestehen musste – nachdem es Schwarzen jahrhundertelang verboten gewesen war, lesen oder schreiben zu lernen. Das alles wurde mit dem Voting Rights Act abgeschafft.

Dann entschied im Jahr 2013 der Oberste Gerichtshof im Fall Shelby County v. Holder (Eric Holder war von 2009 bis 2015 US-Justizminister, Anm. d. Red.), Teile dieses Gesetzes aufzuheben. Zwei Stunden nach der Entscheidung des Gerichtshofs änderten einige Wahlkreise, beispielsweise die Kläger in Shelby County, Alabama, und der Bundesstaat Texas ihre Wahlgeset­ze und machten es den Leuten auf eine neue Art schwieriger, ihre Stimme abzugeben. Seitdem haben wir eine rie­sige Welle solcher Gesetze gesehen. Es geht vor allem um Gesetze, die vorschreiben, dass man sich bei der Wahl ausweisen muss.

Aber was ist falsch daran, sich ausweisen zu müssen, bevor man wählt?

Das Wahlrecht ist in der Verfassung festgeschrieben, auch ohne Ausweis. Um in den USA einen Ausweis zu bekommen, muss man viel Papierkram mitbringen und auch nicht wenig Geld zahlen, meistens so um die 40 US-Dollar. Das ist für Menschen, die in Armut leben, sehr viel. Deswegen haben 21 Millionen Menschen in diesem Land keinen gültigen Ausweis. Diese Gesetze betreffen Wahlen auf allen Ebenen. Das verzerrt unsere Demokratie, auch bei der Präsidentschaftswahl. Um Ihnen ein Beispiel zu geben: Den Bundesstaat Wisconsin hat Trump mit nur 22 748 Stimmen Vorsprung gewonnen, aber mehr als 300 000 registrierte Wählerinnen und Wähler in Wisconsin besaßen nicht den nötigen Ausweis, um tatsächlich abzustimmen. Ähnlich sah es im ganzen Land aus. In Virginia fehlte über 200 000 Menschen der Ausweis, den sie benötigten, um abzustimmen. Wer also sein verfassungsmäßiges Wahlrecht ausüben will, muss erst allerhand Hindernisse überwinden. Die Ausrede dafür ist, dass man Wahlbetrug verhindern will.

Aber Wahlbetrug ist doch tatsächlich ein Problem, oder?

Jede seriöse Untersuchung kam bisher zu dem Ergebnis, dass es kein Pro­blem gibt. Immerhin ist Wahlbetrug ein ernsthaftes Vergehen, man kann dafür ins Gefängnis kommen.

Trotzdem gibt es immer wieder Fälle von Wahlbetrug. In Kalifornien stellte die Republikanische ­Partei kürzlich Einwurfkästen für Briefwahlunterlagen auf, obwohl dies illegal ist.

Ja, ich lebe in Los Angeles, und wir beschäftigen uns gerade mit diesem verrückten Problem mit diesen illegalen Einwurfkästen. Aber solche Dinge werden gut organisiert. Individuelle Wäh­lerinnen und Wähler begehen sehr selten Wahlbetrug. Das ist nur eine Ausrede, um die Menschen am Wählen zu hindern. Deswegen habe ich »Spread the Vote« gegründet, eine Organisation, die den Menschen hilft, die nötigen Ausweisdokumente zu bekommen. Wir haben über 1 000 Freiwillige. Die überwiegende Mehrheit der Menschen, mit denen wir arbeiten, hat ein sehr geringes oder gar kein Einkommen. Ein großer Prozentsatz dieser Menschen ist obdachlos. Wir helfen ihnen bei den Behördengängen. Wir bezahlen für alles. Wir besorgen jeden Tag um die 6 500 Ausweise für diese Menschen, in zwölf Bundesstaaten. Etwa 80 Prozent der Menschen, mit den wir Kontakt aufnehmen, sind wahlberechtigt, aber davon hatten sich 91 Prozent noch nie zu einer Wahl angemeldet. 77 Prozent der Menschen, mit denen wir arbeiten, haben überhaupt noch nie gewählt. In dieser Gruppe konnten wir die Wahlbeteiligung von null auf 40 Prozent erhöhen.

Wie hat die Covid-19-Pandemie Ihre Arbeit verändert?

Große Teile unserer Arbeit laufen jetzt digital ab. Ein großes Problem sind die Freiwilligen, die in den Wahllokalen helfen. 50 Prozent davon sind über 61 Jahre alt, gehören also zur Risikogruppe für Covid-19. Wir versuchen daher, neue Freiwillige zu finden. Auch bei der Briefwahl helfen wir mit. Viele Briefwahlstimmzettel werden für ungültig erklärt, das ist ein großes Problem. Bei Afroamerikanerinnen und Afroamerikanern ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Briefwahlstimmzettel verworfen wird, doppelt so hoch wie bei anderen Gruppen. Bei den Wahlen im November 2016 wurden knapp 319 000 Briefwahlzettel abgelehnt. Bei den Vorwahlen in diesem Jahr wurden über eine halbe Million solcher Stimmzettel abgelehnt. Zudem versorgen wir Wählerinnen und Wähler, die an ihrem Wahllokal bis zu zwölf Stunden in der Schlange stehen müssen, mit Wasser, Mund-Nasen-Bedeckungen und etwas zum Essen.

Die Demokraten befürchten, dass die Stimmenauszählung am Wahlabend Präsident Trump begünstigen könnte, und dieser dann vielleicht versucht, die Auszählung der Briefwahlstimmen zu diskreditieren oder zu beenden. Halten Sie das für möglich?

Chaos und bullshit am Wahltag sind leider immer denkbar. Trump hat solche Dinge ja bereits öffentlich gesagt. Wir müssen die Menschen immer wieder darauf hinweisen, dass es lange dauern kann, bis alle Stimmen ausgezählt sind. Normalerweise sind wir es gewohnt, dass bei Präsidentschaftswahlen die Ergebnisse am Wahlabend bereits feststehen. Aber dieses Mal wird es vielleicht Wochen dauern. Und das ist okay so.

Ist es nicht ebenso plausibel, dass bereits in der Wahlnacht ein klares und überzeugendes Ergebnis zustande kommen wird? 2016 sind in Florida ungefähr eine Million wahlberechtigte Schwarze nicht wählen gegangen. In North Carolina waren es eine halbe Million, in Pennsylvania mehr als 360 000. In Anbetracht dessen, wie viele Menschen nach der Tötung George Floyds gegen Polizeigewalt und Diskriminierung protestiert haben, fällt es schwer zu glauben, dass all diese Leute auch diesmal nicht wählen werden.

Nein, das ist aus vielen Gründen falsch. Wenn Sie glauben, dass die Anzahl der Menschen, die zu Protesten gehen, auch der Anzahl derer entspricht, die tatsächlich zur Wahl gehen, dann verstehen Sie nicht, wie black America funktioniert, wie unser Verhältnis zum Justizsystem, unser Verhältnis zu Wahlen und zur Strafverfolgung in Amerika funktioniert. Sicherlich stimmt es, dass dieses Jahr eine beispiellose Anzahl von Menschen zur Wahl gehen wird. Wir haben auch eine beispiellose Anzahl von Menschen, die Briefwahlunterlagen beantragen. Aber es dauert sehr lange, bis alle Stimmzettel ankommen und ausgezählt werden. In manchen Bundesstaaten dürfen die Briefwahlstimmzettel erst ab dem Wahltag gezählt werden. Die Infrastruktur unserer Wahlen ist unglaublich unterfinanziert und unterbesetzt.

Ist die Tatsache, dass 2016 in den »swing states« vergleichsweise wenige schwarze Wählerinnen und Wähler wählen gegangen sind, auch auf Hindernisse bei der Wahl und auf Diskriminierung zurückzuführen?

Oh, absolut. Etwa 83 Prozent der Wahlberechtigten in den USA sind zur Wahl registriert. Doch sehr viele von ihnen wählen nicht, und ich weiß genau, dass das daran liegt, dass man ihnen das Wählen schwermacht. Wenn sie keine Briefwahl machen können, ist es oft ein langer Weg zum Wahllokal.

Wer wird Ihrer Meinung nach­ ­gewinnen?

Oh, ich habe absolut keine Ahnung. Das weiß niemand. Es ist alles in der Schwebe. Die Umfragen bedeuten nichts, wie wir seit 2016 wissen.