Covid-19 gerät in Deutschland vielerorts erstmals außer Kontrolle

Nach der Welle ist vor der Welle

In Deutschland steigt die Zahl der Neuinfektionen mit Covid-19. Auch wenn das Wissen über tatsächliche Verbreitungswege des Virus ­unzureichend ist, halten sich Politiker nicht zurück, Verantwortliche auszumachen.

Fast 15 000 Neuinfizierte wurden am Wochenende gemeldet, Tendenz steigend. Positiv getestet wurde auch Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Die seit langem absehbare zweite Infektionswelle rollt auf uns zu. Mehr als 130 Landkreise überschreiten inzwischen bei der sogenannte Sieben-­Tage-Inzidenz, der Zahl der Neuinfektionen pro 100 000 Einwohnern innerhalb einer Woche, den Grenzwert von 50. Diesen hatten die Bundes- und die Länderregierungen im Mai festgelegt – wird er überschritten, müssen die damals beschlossenen Lockerungen ­zurückgenommen werden.

Wie sich gezeigt hat, war dieser Grenzwert zu hoch angesetzt. Zwar sind die Krankenhäuser noch nicht überlastet, viele Gesundheitsämter hingegen schon. Die Berliner Gesundheitsämter kommen bereits seit Anfang Oktober mit der Nachverfolgung der Kontakte von Covid-19-Infizierten nicht mehr hinterher. So unterbleibt auch die schnelle Benachrichtigung potentiell angesteckter Kontaktpersonen. Aus ­anderen Städten ist Ähnliches zu hören. Wenn die Dunkelziffer der Infizierten steigt, wird eine Eindämmung des ­Infektionsgeschehens unwahrscheinlich.

Da nicht sein kann, was nicht sein darf, werden andere Ansteckungs­möglichkeiten als in der Freizeit oder beim Feiern politisch kaum als Problem thematisiert.

Selbst als die Infektionszahlen noch niedriger waren, waren die Statistiken zum Ansteckungsgeschehen verzerrt. Das liegt in der Natur der Sache: Das Familienumfeld einer infizierten Person lässt sich vermutlich recht bald testen. Aber schon bei Arbeitskollegen oder der sogenannten Risikobegegnung im Fitnessstudio sieht es anders aus. Dass die Nachverfolgung von Kontakten in Bars oder Restaurants nur mäßig funk­tionierte, bewiesen die Ende September verhängten Bußgelder, mit denen den immer häufigeren Falschangaben begegnet werden sollte.

Das allgemeine Unwissen über tatsächliche Infektionsverläufe bietet Spekulationen einen fruchtbaren Nähr­boden. Die Bild-Zeitung konstruierte aus dem Nebensatz eines Interviews mit dem Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach (SPD) die reißerische Schlagzeile, Neuköllner »Clan-Hochzeiten« seien am »rasanten Anstieg der Corona-Infizierten« schuld. Die Berliner Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) hingegen betrachtet die feierwütige ­Jugend als Infektionsverbreiter. Der Neuköllner Gesundheitsstadtrat Falko Liecke (CDU) machte im Interview des Senders NTV die »spaßorientierten, internationalen jungen Leute, aber auch bildungsferne Gruppen und Menschen mit Sprachbarrieren« verantwortlich.

Arbeitsplätze und Schulen scheinen die dort Anwesenden hingegen gera­dezu magisch vor Ansteckung zu schützen. Die derzeit höheren Fallzahlen bei jüngeren Menschen könnten jedoch ebenso gut vom Besuch eines Fitnessstudios, eines freikirchlichen Gottesdienstes, der Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs oder eben vom Schul­besuch oder dem täglichen Gang zur Arbeit herrühren. Bleiben die Quell-Cluster unbekannt und wird lediglich selektiv getestet, sind alle Schluss­fol­gerungen Kaffeesatzleserei. Nach dem Motto, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, werden andere Ansteckungsmöglichkeiten als in der Freizeit oder beim Feiern jedoch politisch kaum als Problem thematisiert. Wirklich wichtig – das betonen viele Politiker bei jeder sich bietenden Gelegenheit – sei es, die Wirtschaft am Laufen und die Schulen und Kitas offen zu halten. Abermals soll die Bevölkerung dafür die sogenannten Freizeitaktivitäten stark reduzierten. Die Bundeskanzlerin appellierte in zwei Podcasts, alle »nicht wirklich zwingend notwendigen« Reisen und Feiern abzusagen und »wenn immer möglich zu Hause« zu bleiben.

Anders als im Frühjahr will die Regierung vermeiden, dass Eltern durch die Betreuung ihrer Kinder am produktiven Arbeiten gehindert werden. Das entspricht auch deren Wünschen und Bedürfnissen, erinnern sie sich doch mit Schrecken an diese Phase. Für die Entlastung wird derzeit allerdings auch in Kauf genommen, dass die meisten Schulen keinen ausreichenden Infektionsschutz gewährleisten können. Vielerorts beschränkt man sich darauf, die Viren alle 20 Minuten durch das geöffnete Fenster nach draußen zu lassen und auf den Schultoiletten Seife und Papierhandtücher bereitzulegen. Die bayerische Landesregierung finanziert mit 50 Millionen Euro den Einbau von Luftfilteranlagen an Schulen und Kitas, die nordrhein-westfälische immerhin die Anschaffung mobiler Luftfilterungsanlagen in Klassenräumen, deren Fenster nicht geöffnet werden können. Ob solche Anlagen überhaupt kurz­fristig in ausreichender Zahl produziert werden könnten, ist unklar. Die vom Robert-Koch-Institut (RKI) vorgeschlagene Maskenpflicht im Unterricht wird mancherorts beherzigt, die vorgeschlagene Klassenteilung mit zeitversetztem Unterricht praktiziert so gut wie keine Schule. Gerade hieran lässt sich ablesen, dass der Präsenzunterricht in hohem Maße auch der Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit der Eltern dient: Wenn Klassen geteilt würden, wo sollten die »überzähligen« Schüler und Schülerinnen in Ermangelung von Räumen und Betreuungspersonal denn hin?

Ehrlicherweise müsste es also heißen: Wir lassen die Schulen und Kitas auf, damit die Wirtschaft weiterläuft. Als Gewissensberuhigung für die verantwortlichen Politiker muss ausreichen, dass Kinder und Jugendliche anscheinend keine »Superspreader« sind und im Falle einer Covid-19-Erkrankung wahrscheinlich nur unter milden Symptomen zu leiden haben.

Viele Experten und Expertinnen gehen davon aus, dass das deutsche Gesundheitssystem auf die zweite Welle gut vorbereitet ist. Anders als im Frühling werden wohl deutlich weniger Covid-19-Erkrankte stationär und intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Das liegt zum Teil an deren Altersstruktur, aber auch an besseren Kenntnissen über den Krankheitsverlauf und besseren Behandlungsmöglichkeiten. Der frühe Einsatz des antiviralen Medikaments Remdesivir soll beispielsweise die Wahrscheinlichkeit einer intensivmedizinischen Behandlung senken. In einer Pressekonferenz des Science Media Center Germany zeigte sich Reinhard Busse, der Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen an der TU Berlin, überzeugt, dass der vorhersehbare Anstieg der Erkrankungen das Gesundheitssystem »belasten, aber nicht überlasten« werde. An Intensivbetten mangelt es derzeit nicht. Ein großes Problem ist allerdings die jetzt schon bestehende Überlastung des Personals – wenn an einem Intensivpflegebett niemand intensiv pflegen kann, sollte man auch keinen Patienten hineinlegen. Der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), Uwe Janssens, sagte der Funke Mediengruppe, bundesweit fehlten 3 500 bis 4 000 Fachkräfte für die Intensivpflege. Mancherorts, wie in der Berliner Charité, werden daher erneut weniger dringende Operationen verschoben. Im Frühjahr vorgesehene Operationen wurden oft noch nicht nachgeholt, was für Betroffene negative gesundheitliche Folgen nach sich ziehen kann. In der bereits erwähnten Pressekonferenz erklärte Clemens Wendtner, Chefarzt für Infektiologie der München-Klinik Schwabing, es gelte, »wachsam, aber nicht panisch« zu sein. Mitarbeiter würden weiterhin geschult, um auf den Intensivstationen arbeiten zu können. Gleichzeitig werde mittlerweile »aggressiv ­getestet«, um Arbeitsausfälle und Ansteckungen zu vermeiden.

Die Mitte Oktober erweiterte nationale Teststrategie sieht das vermehrte Testen in Gemeinschaftseinrichtungen und -unterkünften, in Pflegeeinrichtungen sowie des Personals in Heilberufen vor. So soll der Schutz von Risikogruppen auch bei steigenden Infektionszahlen gewährleistet werden. Andreas Westerfellhaus, der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, versprach in der vergangenen Woche einen Plan, um die im Frühjahr vielfach beklagte vollständige Isolation der Bewohner von Pflegeheimen zu vermeiden. Jetzt erst einen Plan zu versprechen, ist allerdings reichlich spät, da die ersten Heime Besuchsmöglichkeiten wieder einschränken. Für nicht in Einrichtungen lebende Menschen, die in hohem Maße durch eine mögliche Covid-19-Infektion gefährdet sind, gibt es nicht einmal das Versprechen eines Plans. Sie sind darauf angewiesen, dass die allgemeinen Hygiene- und Abstandsregeln beachtet und die noch erlaubten Kontaktmöglichkeiten nicht ausgereizt werden – nur, weil man sich noch mit fünf Bekannten in geschlossenen Räumen treffen darf, heißt das noch lange nicht, dass man dies auch tun sollte. Individuelle Rücksichtnahme fällt jedoch leichter, wenn die Regelungen als sinnvoll für die Bevölkerung und nicht vor allem für die Wirtschaft empfunden werden.