Erdogan eskaliert den Streit um die Satirezeitschrift Charlie Hebdo

Kaum mehr als ein Strohfeuer

Der türkische Präsident Erdoğan attackiert seinen französischen Amtskollegen Emmanuel Macron harsch und maßt sich eine Führungsrolle in der sogenannten islamischen Welt an. Doch die Bevölkerung in der Türkei hat andere Sorgen.

Es ist recht ungewöhnlich, dass der Präsident eines Landes dem Präsidenten eines anderen Landes öffentlich dazu rät, »seinen Geisteszustand« untersuchen zu lassen. Dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, oder, wie sich sein türkischer Amtskollege Recep Tayyip Erdoğan sich ausdrückte, »dieser Person mit Namen Macron«, unterstellt der türkische Präsident, ein Problem mit dem Islam und mit Muslimen zu haben.

Die von Erdoğan geschürte Empörung über Frankreich erfasste in der Türkei die treue Gefolgschaft des Präsidenten, aber kaum jemand darüber hinaus.

Macron hatte nach der Enthauptung des Lehrers Samuel Paty ein striktes Vorgehen gegen die Verbreitung islamistischer Ideologie angekündigt. Und er hatte hinzugefügt, er werde auch eine Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen nicht verurteilen. Erdoğan war nicht der Einzige, den diese Äußerung in Aufregung versetzte. Die islamische al-Azhar-Universität in Kairo warnte vor einer Kampagne gegen den Islam, der Großimam von Kairo, Ahmed al-Tajib, sprach gar von einer »systematischen Kampagne«. Pakistans Premierminister Imran Khan warf Macron »Islamophobie« vor. Ebenso wie das jordanische Außenministerium beschwerte er sich, Macron habe die Gefühle von Millionen Muslimen verletzt. Die transnationale Organisation für ­Islamische Zusammenarbeit warnte vor einer Beschädigung der muslimisch-französischen Beziehungen. Etwas verspätet beschwerte sich dann auch der iranische Außenminister Mohammed Javad Zarif. In verschiedenen arabischen Ländern wurden Plakate gedruckt, die Macron als Kreuzritter mit Schild und Schwert zeigen.

Diese Reaktionen folgten jedoch allesamt einem bekannten Muster und waren deswegen wenig überraschend. Aus dem Rahmen fiel hingegen Erdoğans persönlicher und beleidigender Angriff auf Macron, der im Ausland große mediale Resonanz fand. Vielleicht hatte er damit gerechnet, der Angegriffene werde ihm persönlich antworten, wodurch sich der Schlagabtausch eine Weile hätte fortsetzen lassen. Doch Macron tat ihm diesen Gefallen nicht. Frankreich zog lediglich ­vorübergehend seinen Botschafter aus Ankara ab.

Eine direktere Antwort kam von der Satirezeitschrift Charlie Hebdo, die auf der Titelseite eine Karikatur des türkischen Präsidenten druckte. Erdoğan fühlte sich provoziert, unter anderem weil er in Unterwäsche gezeichnet worden war, und hob zu einer Tirade gegen den französischen Kolonialismus an. Er fragte: »Wart ihr es nicht, die die Algerier zu Millionen ermordet haben? Ihr seid Mörder, Mörder!«

Die von Erdoğan geschürte Empörung über Frankreich erfasste in der Türkei die treue Gefolgschaft des Präsidenten, aber kaum jemand darüber hinaus. Die Türkinnen und Türken haben andere Probleme. Seit über zwei Jahren befindet sich das Land in einer Wirtschaftskrise, die sich durch die Covid-19-Pandemie noch verschlimmert hat. Der Wert der Türkischen Lira befindet sich im stetigen Fall. Da mag Erdoğans Schwiegersohn und Finanzminister Berat Albayrak noch so oft versichern, ein hoher Dollarkurs sei kein Problem, ja sogar gut für den Export. Die türkische Bevölkerung, die ihre Miete, vor allem für Gewerbeimmobilien, oft in US-Dollar oder auch Euro bezahlt und Hypotheken in US-Dollar, Euro oder Schweizer Franken bedienen muss, sieht das anders. Der Währungsverfall ist auch an gestiegenen Preisen für Gas, Benzin, Diesel und Düngemittel sowie anderer Importgüter zu spüren.

Auch mehr als 80 Jahre nach dem Tod Kemal Atatürks, des Staatsgründers der modernen, laizistischen Türkei, ist nicht der Islamismus die Ideologie, die in der Bevölkerung am besten ankommt, sondern noch immer der Nationalismus. Laizistisch eingestellte Türkinnen und Türken sehen Parallelen zwischen Erdoğans Einsatz für radikale Muslime im laizistischen Frankreich und seiner Kritik des Kemalismus. So hatte es die Opposition leicht, sich in dieser Frage von Erdoğan abzusetzen. Meral Akşener, die Vorsitzende der nationalistischen Guten Partei (İyi Parti), warf Erdoğan und Macron vor, politische Ablenkungsmanöver zu betreiben. An Erdoğan gewandt sagte sie: »Hör endlich auf, die Außenpolitik zu einer Vorspeise für dein Ego zu machen!«

Dass Frankreich und die Türkei sich nicht grün sind, reicht bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurück, als die Türkei an der Seite der Mittelmächte kämpfte. Als Frankreich 2001 den Massenmord an den Armeniern von 1915/1916 als Genozid anerkannte und die Regierung Sarkozy zehn Jahre später dessen Leugnung per Gesetz unter Strafe stellen ließ, war die Empörung in der Türkei groß. In Frankreich leben rund 500 000 Armenier und Armenierinnen. Die Kritik am Umgang der Türkei mit ihren Minderheiten zeigt sich bis heute darin, dass die französische Regierung kurdische Forderungen unterstützt. Macron kritisierte das Vorgehen der Türkei in den Kriegen in Libyen, in Syrien und im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach. Zudem ist die französische Regierung gegen eine Aufnahme der Türkei in die EU. Im Streit zwischen Griechenland und der Türkei um die Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer spricht sich die französische Regierung für Sanktionen gegen die Türkei aus.

Für Erdoğan steht die französische Kultur stellvertretend für die »westliche« Kultur und deren Verlogenheit. Dabei äfft er auch gern mal das Französische als Diplomatensprache nach. Falsche diplomatische Höflichkeit kann man Erdoğan im Streit mit Macron wahrlich nicht vorwerfen. Erdoğans Attacke auf Macron zielt indes nicht nur auf Zustimmung im eigenen Land. Die regierungskritische türkische Tageszeitung Bir Gün zitiert den Essener Politikwissenschaftler Burak Çopur mit der Einschätzung, Erdoğan wolle seine Politik der Polarisierung auch auf Europa ausdehnen. Zielte diese Strategie bisher vor allem auf die türkischen Minderheiten, adressiert er nun die Gesamtheit der Muslime. Seine angemaßte Rolle als Verteidiger aller Muslime vergisst Erdoğan allerdings schnell, wenn ihm an positiven Beziehungen zu Staaten gelegen ist, die Konflikte mit mus­limischen Minderheiten haben. Die Krimtataren oder auch die Uigurinnen in China können nicht auf seine Unterstützung hoffen.

Erdoğans Eintreten für die Islamisten in Frankreich zeitigt bereits eine gewisse Wirkung. Der Vorsitzende der in Frankreich wegen angeblicher Beziehungen zur radikalislamischen Bewegung aufgelösten islamischen NGO Baraka City, Idriss Sihamedi, sagte, er werde die Türkei um Asyl ersuchen. In Katar, Kuwait und Jordanien nahmen Händler einem Boykottaufruf Erdoğans folgend französische Waren aus dem Sortiment.

Erdoğan hegt seit dem »arabischen Frühling« von 2011 den Wunsch, eine Führungsrolle in der sogenannten islamischen Welt zu übernehmen. Doch die von ihm unterstützten Kräfte, vor allem die internationale Bewegung der Muslimbrüder, haben an politischer Bedeutung verloren. Die jüngsten Protestbewegungen im Irak und im ­Libanon gingen nicht in eine islamistische Richtung. Auch mit seinen Drohgebärden gegen Macron dürfte Erdoğan kaum mehr als ein Strohfeuer entfachen.