Die Kunst des richtigen Lüftens

Auf Durchzug

In Arbeitsstätten und Büros kommt es häufiger zu Konflikten um das Lüften. Die Suche nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Luftaustausch gestaltet sich erstaunlich schwierig.
Von

Seit Monaten lässt sich kaum ein Small Talk mehr führen, ohne dass das Thema Covid-19 eine zentrale Rolle einnimmt. Keine Unterhaltung ohne neue Zahlen, Details der Pandemie, Klagen über das Verhalten von Mitmenschen und Virologen-Fandom. Mit Beginn des Herbstes bildete sich ein neues Subgenre der Coronadebatte heraus: das Thema Lüften und der Ärger, der damit in Büros und Arbeitsstätten einhergeht. Die einen frieren und beklagen sich über Zugluft, die anderen pochen darauf, das Übertragungsrisiko zu minimieren.

Wenn sich Teams auf Regeln einigen oder Vorgesetzte solche vorschreiben, lautet das Ergebnis meistens: einmal stündlich stoßlüften im Büro und alle 20 Minuten im Konferenzzimmer, wenn keine Lüftungsanlage vorhanden ist. So steht es in zahlreichen Ratgebern von Berufsgenossenschaften, Versicherungen oder auch dem Bundesumweltamt. Wer sich als Arbeitgeber daran hält, sollte also alles richtig machen. Wer das dagegen zu wenig findet und häufigeres Lüften verlangt, steht schnell als Querulant und Angsthase da.

Das ist irritierend, weil in anderen Kontexten ganz andere Regeln gelten. Die Richtlinien des Robert-Koch-Instituts (RKI) zum Beispiel geben vor, unter welchen Bedingungen Menschen auf Sars-CoV-2 getestet werden sollen. ­Kontakten der »Kategorie 1« wird ein hohes Risiko beigemessen. Kategorie 1 ­bedeutet: 15 Minuten direkter Kontakt mit einer infizierten Person oder ein mehr als 30 Minuten dauernder Aufenthalt in einem Raum, der mit virenhaltigen Aerosolen belastet ist. Die Corona-Warn-App wiederum berechnet aus der Entfernung zur infizierten Person, der Anzahl der Tage, die seit der Begegnung vergangen sind, und Dauer des Kontakts eine fiktive Kontaktdauer. Wenn diese über 15 Minuten liegt, meldet sie in rot eine Begegnung mit hohem Risiko.

Wie kann es also sein, dass nur stündlich gelüftet werden muss, wenn eine kritische Kontaktdauer bereits nach 15 bis 30 Minuten erreicht ist? Und woher nehmen die erwähnten Stellen diese Empfehlung eigentlich?

Wenn überhaupt eine Quelle angegeben ist, berufen sich viele auf die Technischen Regeln für Arbeitsstätten (ASR 3.6) des Bundesamts für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Darin findet sich tatsächlich die Empfehlung für stündliches Lüften in Büros sowie alle 20 Minuten in Konferenzräumen. Der Haken: Das Papier ist von 2012 und wurde zuletzt 2018 geändert. Diese Empfehlungen galten also schon lange, ganz unabhängig von der Pandemie.

Allerdings gibt es vom BAuA noch ein zweites Papier. Es heißt »Infektionsschutzgerechtes Lüften – Hinweise und Maßnahmen in Zeiten der Sars-CoV-2-Epidemie« und wurde im September 2020 veröffentlicht. Dieses Papier nimmt auf die Arbeitsstättenregel 3.6 Bezug und merkt an: »Diese Frequenz ist in der Zeit der Epidemie möglichst zu erhöhen.« Damit geht es über die Empfehlung stündlichen Lüftens hinaus. Leider steht in dem Papier nicht, wie häufig denn nun gelüftet werden soll. Empfohlen wird stattdessen, ein CO2-Messgerät zu beschaffen und immer dann zu lüften, wenn der CO2-Gehalt in der Luft über 1 000 ppm steigt. Doch was tun, wenn kein solches Gerät vorhanden ist?

Auch nach langer Suche lässt sich keine wissenschaftlich fundierte Angabe darüber finden, wie häufig gelüftet werden sollte. Klar ist nur: Stündlich gelüftet werden sollte sowieso, das genügt aber in der Pandemie nicht unbedingt. Das dürfte auch für die Empfehlung der »Kommission Innenraumlufthygiene« des Umweltbundesamtes gelten, im Schulunterricht in den Pausen, also alle 45 Minuten, stoßzulüften. Der Hygienebeirat der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie beispielsweise empfiehlt, darüber hinaus mindestens einmal in der Mitte jeder Unterrichtsstunde zu lüften.

Wer sich am Arbeitsplatz mit Lüftungsverweigerern auseinandersetzen muss, hat es schwer, häufiges Lüften durchzusetzen, wenn nicht einmal klar ist, was »häufig« eigentlich heißt. ­Immerhin eine Faustregel kann man aus den Vorgaben des RKI ableiten: Da das Institut einen Aufenthalt von mehr als 30 Minuten in einem Raum mit hoher Konzentration infektiöser Aerosole als hohes Risiko einstuft, sollte zumindest so häufig gelüftet werden, dass diese Dauer nicht überschritten wird: alle 30 Minuten also, eher etwas häufiger.

Und – weil das dann häufig der nächste Streitpunkt ist – die »AHA-Regeln« gelten unabhängig vom Lüften. Alltagsmaske, Händewaschen und Abstandhalten werden nicht überflüssig, nur weil das Fenster offen steht.