Ein Gespräch mit Lars Henrik Gass über die Krise des Kinos

»Das kommerzielle Kino hat keine Zukunft«

Ausgerechnet der aus öffentlichen Mitteln üppig geförderte Kölnische Kunstverein sprach im Oktober dem ehrenamtlich betriebenen Filmclub 813, dem avanciertesten Programmkino der Stadt, die fristlose Kündigung aus. Der Filmkurator Lars Henrik Gass sieht darin ein weiteres Beispiel dafür, wie die Kinokultur in Deutschland geschleift wird. Mit der »Jungle World« spricht er über den Konflikt zwischen Kunst und Film, das politische Kino und das drohende Ende des öffentlichen Raums.
Interview Von

Seit Jahrzehnten sinkt die Zahl der Kinogäste in Deutschland. Mit der zweiten Schließung seit Beginn der Covid-19-Pandemie droht nun ein bundesweites Kinosterben. Für Aufsehen sorgte der Fall des traditionsreichen Filmclubs 813 in Köln, der das vielfach prämierte Programmkino im ehemaligen British Council betreibt. Der Kölnische Kunstverein, der als Hauptmieter in der städtischen Immobilie residiert, kündigte dem ungeliebten Untermieter im Oktober fristlos. Derzeit finden die internen Streitigkeiten ihre juristische Fortsetzung. Gibt es für den Filmclub noch Hoffnung?

Die Kulturamtsleiterin Barbara Foerster lässt sich in der Kölner Stadtrevue mit der Aussage zitieren, dass sie sehr bemüht sei, eine Einigung zu erzielen, die allerdings Kompromisse auf beiden Seiten erfordere. Aus meiner Sicht bedarf es keiner Kompromisse der Beteiligten, sondern eines klaren Statements und Engagements der Stadt Köln für die Filmkultur.

Ich erinnere daran, dass eine Stadt wie Köln sich zehn eigene Museen leistet, darüber hinaus viele weitere Kunstinstitutionen. Allein der Kunstverein erhält jährlich Zuwendungen von rund 150 000 Euro. Das Einzige, was man sich im Bereich Film leistet, ist ein Projektmittelzuschuss von 15 000 Euro für den Filmclub 813. Das macht die Verhältnisse doch schon sehr deutlich. Man kann nicht erwarten, dass eine ehrenamtliche Institution wie ein Filmclub, dessen Betreiber anderweitig ihr Brot verdienen müssen, in der Lage ist, die kulturelle Praxis Kino zu retten und – wohl­gemerkt in einer Großstadt wie Köln, die sich ja gern als Medien- und Kunststandort darstellt – in angemessener Form darzubieten.

Der lokale Konflikt erscheint in vielerlei Hinsicht symptomatisch für das Verhältnis von Kunst und Film in Deutschland.

Gerade in den letzten 20 Jahren hat sich das Verhältnis zwischen Film und Kunst stark gewandelt, ausgehend auch von einer Krise auf dem Kunstmarkt in den neunziger Jahren und durch den Niedergang der ­Kinokultur – die sich ja auch in Zahlen ausdrücken lässt. Es gab eine Abwanderung des eher künstlerischen Films – auch seiner Akteure, stellvertretend sei nur Harun Farocki genannt – in den Kunstbereich, wo natürlich mit ganz anderen Ressourcen gearbeitet werden kann, wo auch vom Grundverständnis her ein anderer, sorgfältigerer, intimerer Umgang mit dem Werk einzelner Künstler gepflegt wird.

Auch hier haben diese sehr unterschiedlichen Voraussetzungen dazu geführt, dass der Kunstbereich mittlerweile in hohem Maße die Definitionshoheit über die Kunst am Film reklamiert, wohingegen man umgekehrt den Film im Kino dem Markt überlassen hat – mit den bekannten Folgen.

»Was die Kunst am Film niemals verstanden hat, ist der Zwang zur Wahrnehmung – also etwas, das genuin zur mediengeschichtlichen Besonderheit des Films gehört.«

In der Coronakrise versucht man nun, durch Nothilfeprogramme nachzuarbeiten. Mein Eindruck ist jedoch, dass hier Geschäftsmodelle, die erkennbar überholt sind, fortgeschrieben werden sollen, ohne dass ein Gedanke darauf verwendet wird, wie die kulturelle Praxis Kino – ein Ensemble von technischen und sozialen Voraussetzungen – im öffentlichen Raum gehalten werden kann.

Dabei befindet sich die Auswertungskurve des Kinos nicht erst seit Beginn der Coronapandemie im freien Fall, sondern spätestens seit dem Aufkommen des Internets und der Streaming-Dienste. Kurz gesagt: Ich denke, es braucht ein Zukunftsprogramm für das Kino, das nicht nur das klassische Paradigma des Kinos fortschreibt, sondern eine – wie ich es gern nenne – geregelte Musealisierung des Kinos einleitet, vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es sich längst in einem Prozess der Historisierung befindet.

Welchen Einfluss hat der veränderte Kontext im Ausstellungsraum für die Rezeption dieser Filme, die ja ursprünglich keineswegs für den Kunstbetrieb produziert worden sind?

Mit der Definitionshoheit, die der Kunstbereich für diese Entwicklung reklamiert, gehen auch bestimmte Neuformatierungen des Films einher. Was die Kunst am Film niemals verstanden hat, ist der Zwang zur Wahrnehmung – also etwas, das genuin zur mediengeschichtlichen Besonderheit des Films gehört. Und das ist ­etwas, das in der Präsentation im Kunstbereich immer sehr schwierig zu vermitteln war, bis heute. Man hat darauf in einer Weise reagiert, die ich die Skulpturalisierung des Films genannt habe, man hat versucht, aus dem Film eine Skulptur zur machen.

Wenn man eine Ausstellung besucht, geht man vielleicht für ein paar Minuten in einen Raum und schaut sich ein Stück aus einem Film an, der möglicherweise sehr viel länger dauert, vielleicht sogar meh­rere Stunden, man denke etwa an Arbeiten von Ulrike Ottinger. Oder die Arbeit wird als Loop gezeigt, hat also keinen Anfang und kein Ende mehr. Dem Film wird die gesamte Temporalität und damit seine spezifische Wahrnehmungsform genommen, um ihn gewissermaßen in die Logik des Kunstbetriebs einzufügen, die davon bestimmt ist, dass die Besucher in einem bestimmten Zeitraum durch die Ausstellung geschleust werden müssen. Das ist ein klassisches Problem großer Kunstausstellungen wie der Documenta, der Biennalen und vieler anderer. Da stört der Film tendenziell mit seiner mediengeschichtlichen Besonderheit.

Sie möchten gerade diesen Zwang zur Wahrnehmung, zur Kon­zentration, der ja durchaus konträr zum Zeitgeist steht, als gesellschaftliche Erfahrung retten?

Es ist, finde ich, immer rettenswert, mal für eine bestimmte Zeit, und seien es nur 90 Minuten, jemandem zuzuhören oder etwas anzuschauen, ohne dazu schon eine subjektive Haltung einzunehmen. Insofern steht für mich der Niedergang des Kinos auch in Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Entwicklung, die für solche Kunstsparten, die eine gewisse Dauer reklamieren, nachteilig ist – eine Dauer des Verständnisses, der Einsicht, ja, der Zumutung.

Es gibt einen gewissen, wenn man so will, stalinistischen Aspekt darin, der reklamiert, dass über zwei Stunden einfach mal zugeschaut und zugehört werden muss, bevor man selbst etwas sagt oder tut. Und das ist, glaube ich, etwas, das in dieser Gesellschaft dringender denn je nötig ist.

Harun Farocki kolportierte gern die Anekdote, 1967 auf einem Filmfestival habe ihm ein Amerikaner erzählt, die Industrie wolle bald elektronische Bildaufzeichnungsgeräte auf den Markt bringen. Hätte erst mal jeder ein Gerät, werde sich »das Verlangen nach Filmen einstellen, die man nicht bestenfalls ein zweites Mal erträgt, sondern die sich erst erschließen, wenn man sie hundertmal ansieht«. Haben sich Filme formal geändert, seit sie primär nicht mehr im Kino, sondern ­privat angesehen werden – und für diesen veränderten Konsum produziert werden?

Das ist auch meine Vermutung. Ich versuche seit Jahren, dieses Phänomen zu beschreiben. Als zum Beispiel das Musikfernsehen als einzige Auswertungsplattform für Musikvideos weitgehend verschwunden ist, hatte das ganz erhebliche Auswirkungen auf den Charakter, insbesondere die mögliche Länge, aber auch die Inhalte von Musikvideos.

Auch das vielbeschworene Serienphänomen ist ja nur einer von vielen Aspekten, wie sich Filme verändern, dass sie zum Beispiel eher als Sequenz verstanden werden. Das geht einher mit einer gewissen Standardisierung der Formate, aber auch mit einer Antizipation von Nutzungsverhalten, das am Internet ausgerichtet ist und sich klar unterscheidet vom Fernsehen oder Kinobesuch.

In Frankreich oder den USA gehört das Kino gewissermaßen zum nationalen Kulturerbe. In Deutschland ist es, im Vergleich etwa zu Oper oder Theater, wenig angesehen. Wie ist es dazu gekommen?

Das hat verschiedene Gründe. Zunächst hat man es beim Kino mit ­einer kulturellen Praxis zu tun – ich sage bewusst nicht Kunstform und auch nicht Kulturtechnik –, die historisch gesehen sehr jung ist, kaum älter als 100 Jahre, und die in ihrer ­Geschichte sehr unterschiedlichen Ausformungen unterlag, selbst im europäischen Raum, wenn man ­beispielsweise daran denkt, wie unterschiedlich Kinobauten vor und nach dem Zweiten Weltkrieg aussahen. Zum anderen wurde das Kino in der bürgerlichen Gesellschaft ­immer als Unterhaltung und Kommerz angesehen, ungeachtet der ­sogenannten »Filmkunst« – die ich gern in Anführungszeichen setze, von Antonioni bis Herzog et cetera – die man zwar irgendwie anerkannte, aber niemals der Kunst zuschlug.

»Wenn sich die Stadt Hamburg eine Elbphilharmonie leisten kann – für über 800 Millionen –, darf ich doch einmal ausrechnen, dass sich allein mit dieser Summe jede Großstadt in Deutschland eine Kinemathek leisten könnte.«

Das Ganze kulminiert auch in dem Umstand, dass Kino durch die stark gewerbliche Ausformung, die es immer hatte, als Raum und Ort immer Ausdruck der jeweiligen historischen Bedingungen war, unter denen Film gewerblich ausgewertet wurde – und für das Kino niemals ein Raum entstanden ist, wie man ihn für einen Opernbau als ganz selbstverständlich erachtet.

Dabei ist auch die Oper erst spät in die bürgerliche Kultur – eigentlich erst mit Wagner und seinem Festspielgedanken – als ein Raum eingedrungen, der sozusagen unter öffentliche Obhut gestellt werden muss. Das ist für das Kino niemals passiert. Das Ergebnis ist, dass die Kinos massenhaft verschwunden sind – auch die interessanten Kinobauten – oder, wie etwa der Mendelsohn-Bau der Schaubühne in Berlin, anderen Zwecken, wie in diesem Fall dem Theater, zugeführt wurden.

Was müsste, auch von Seiten der Filmförderung, geschehen, um Kino als kulturelle Praxis zu erhalten?

Seitens der Filmförderer heißt es, in der Coronakrise sei nicht die Zeit, über die Zukunft des Kinos nachzudenken. Da habe ich einen anderen Standpunkt, denn wenn jetzt nichts unternommen wird, dann wird von der Kinolandschaft nicht mehr viel übrig bleiben. Nicht erst seit Ausbruch der Pandemie, sondern bereits seit Jahrzehnten zeichnet sich ab, dass das Kino als gewerblicher Ort und Geschäftsmodell keine Zukunft hat. Man versucht immer noch, die Filmförderung an die Kinoauswertung zu binden, in der Illusion, dass Kinoauswertung die letztgültige Form sei, mit Film umzugehen. Damit hat man weder die mediengeschichtliche Besonderheit des Kinos verstanden noch zur Kenntnis genommen, welche gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen wir gerade in rasender Geschwindigkeit durchlaufen.

Kurz gesagt: Für mich ist Musealisierung kein Angstszenario, sondern der Auftrag. In ganz Deutschland gibt es gerade einmal fünf Filmmuseen – wovon eines noch nicht einmal eine eigene Kinemathek hat –, dagegen in jeder Stadt ein Theater, finanziert mit teils immensen Beträgen. Das ist gut und richtig, aber man muss sich auch fragen, ob wir uns sich nicht langsam mal um die ­Bewahrung unserer Mediengeschichte kümmern sollten.

Wenn sich die Stadt Hamburg eine Elbphilharmonie für über 800 Millionen Euro leisten kann, darf ich doch einmal ausrechnen, dass sich allein mit dieser Summe jede Großstadt in Deutschland eine Kinemathek leisten könnte. Das ist kein Aufrechnen der Künste gegeneinander, sondern eine legitime Frage an Kulturpolitik nach ihren Prioritäten. Und letztlich auch nach dem historischen Auftrag, den ich sehe, und der mit jedem Tag des Fortdauerns der Covid-19-Pandemie triftiger wird.

Sowohl im Kunstbetrieb als auch im Film konnte man in den vergangenen Jahren den Eindruck gewinnen, dass weniger ästhetische oder formale Innovation gefördert wird als vielmehr ein ­bestimmter inhaltlicher Diskurs – Themen wie Rassismus, Migra­tion, Identität. Film soll politisch engagiert sein. Wie sehen Sie ­diese Entwicklung?

Ja, die gleichen Entwicklungen sind im Kunstbereich, aber auch in den darstellenden Künsten zu beobachten, selbst in der Musik: dass Künstler, die ein gewisses soziales Enga­gement zeigen – wogegen ja grundsätzlich nichts einzuwenden ist –, ­generell in den Medien sehr viel positiver besprochen werden als solche, die sich zum Beispiel nur auf ihre Musik konzentrieren. Der Film ist da vielleicht besonders anfällig, weil er etwas wie »Welthaftigkeit« besitzt, ihm also die Fähigkeit zugeschrieben wird, Welt abbilden zu können. Damit geht das Missverständnis einher, Film habe gewissermaßen das gesellschaftlich Gute abzubilden. Aber das ist ein noch nicht einmal künst­lerisches Verständnis von Film, das ich leider für die Entwicklung eines Strukturwandels und eine Neuausrichtung von Film und Kinokultur für äußerst nachteilig halte, weil es eigentlich um Gesinnungsformen geht, denen man gerecht werden muss. Und ich glaube, dass alle, die sich in der einen oder anderen ­Weise mit Kultur befassen – ob als Künstler oder Kunstvermittler –, gut beraten sind, sich gegen solche Entwicklungen zu wenden.

Niedergang des Kinos, sterbende Innenstädte. Von Amazon bis Netflix wird alles ins Homeoffice geliefert. Bleibt als Ergebnis der Digitalisierung das Verschwinden des öffentlichen Raums – wie das Kino ihn repräsentierte? Spiegelt sich im Verschwinden des Kinos eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung?

Das ist eine wirklich wichtige Frage. Ich denke, wir sind alle gut beraten, Innenstädte nicht nur noch als Lieferadressen irgendwelcher Versandhändler aufzufassen – sonst landen wir da, wo viele US-amerikanische Städte bereits angekommen sind, in denen es praktisch kein öffentliches Kulturleben mehr gibt und der Einzelhandel völlig zusammengebrochen ist.

Wir stehen vor erheblichen Herausforderungen – weit über den Film- und Kulturbereich hinaus – in der Frage, wie wir die Städte der Zukunft gestalten wollen und wo überhaupt noch eine Agora entstehen soll – wo soziales Leben stattfinden und wer daran teilhaben kann. Wie könnten Kulturbauten aussehen in einem Zeitalter, in dem immer mehr Leute auf Angebote aus dem Internet zurückgreifen? Was kann dort plausibler oder attraktiver angeboten werden als im Internet? Oder: Wie können Kulturbauten der Zukunft dem Klimawandel und vielen anderen Herausforderungen begegnen? Teil dieser Überlegungen könnte auch sein, von den Sparten wegzukommen, also der strikten Trennung zwischen Museum, Theater und Oper.

Ich denke, dass man in der Geschichte der Kulturbauten schon ­einmal sehr viel weiter war, als man versucht hat, urbane Gesellschaft neu zu denken und neu zu dynamisieren. Wir müssen zu einer sozialen Stadt zurückkommen.

 

Lars Henrik Gass ist seit 1997 Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, außerdem Heraus­geber und Autor zahlreicher Bücher zu Film und Filmgeschichte. Zuletzt erschien »Filmgeschichte als Kinogeschichte. Eine kleine Theorie des Kinos«.