Viele Beschäftigte sind am Arbeitsplatz kaum vor einer Infektion mit Covid-19 geschützt

Mehrwertproduktion statt Infektionsschutz

Den abhängig Beschäftigten werden in der Covid-19-Pandemie ­erhebliche gesundheitliche Risiken zugemutet. Das gilt sowohl im Pflegesektor als auch im produzierenden Gewerbe und in der Logistikbranche.

Als »großer Gleichmacher« wird das neuartige Coronavirus Sars-CoV-2 gern beschrieben, es kenne weder Gren­zen noch Arm oder Reich. Eine Infektion könne Staatspräsidenten, Managerinnen und Profifußballer ebenso treffen wie den Platzwart oder die Fließbandarbeiterin. Was auf das Virus zutrifft, gilt jedoch nicht für die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die Armut der einen die Grundlage des Reichtums der anderen darstellt. Es sind vor allem die abhängig Beschäftigten, die nicht nur die ökonomischen Folgen, sondern auch die gesundheitlichen ­Risiken der Pandemie zu tragen haben.

Das gilt insbesondere für die Beschäftigten im Gesundheitswesen. Wegen des akuten Personalmangels und der chronischen Unterfinanzierung des Pflegesektors können die notwendigen Schutzbestimmungen für die dort Beschäftigten längst nicht mehr eingehalten werden. Darauf reagiert auch das Robert-Koch-Institut (RKI) in seinen Empfehlungen, wie mit Covid-19-Infektionen unter Ärzten und Pflegekräften umzugehen sei. »Ist die adäquate Versorgung der Patientinnen und Patienten durch Personalengpässe nicht mehr möglich, kann es notwendig sein, die bestehenden Empfehlungen zum Umgang mit Kontaktpersonen und positiv auf Sars-CoV-2 getesteten Personen für medizinisches Personal anzupassen«, heißt es dort. Ähnlich äußerte sich vergangene Woche Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU): Man müsse schauen, was »neben der bestmöglichen Lösung die zweitbeste« sei. Notfalls müssten auch infizierte Ärzte und Pfleger arbeiten.

Während über die Ursachen des wachsenden Infektionsgeschehens diskutiert wird, ist ein entscheiden­der Infektionsherd beinahe aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden: der Arbeitsplatz.

In den vergangenen Tagen ist dieser Notfall bereits eingetreten. Mussten vor wenigen Wochen schon Pflegekräfte, die enge Kontakte mit Infizierten hatten und eigentlich unter häuslicher Quarantäne standen, trotzdem zur Arbeit erscheinen, arbeiten in immer mehr Pflegeeinrichtungen nun sogar Beschäftigte weiter, die selbst positiv auf Sars-CoV-2 getestet wurden.

Das geschieht beispielsweise in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderung in Bremen. Dort sind zwei Drittel der Bewohner und ein Großteil der Mitarbeiter mit Sars-CoV-2 infiziert. Die jüngst geänderte Coronaverordnung des Bundeslands enthält eine Ausnahmeregelung, um infizierte Beschäftigte weiter einsetzen zu können, wenn deren Tätigkeit für den »Schutz von Leben oder Gesundheit zwingend erforderlich« ist. Auch Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes oder selbstständige Personen können auf Antrag beim Gesundheitsamt »in begründeten Härtefällen« Befreiungen von den Quarantäneregelungen erhalten. Infizierte Beschäftigte, für die die Ausnahmeregelung gilt, stehen im Privatbereich weiterhin unter strenger häuslicher Quarantäne und dürfen ihre Häuser nur zur Arbeit und zum Weg dorthin verlassen. Wegen der Infektionsgefahr in öffentlichen Verkehrsmitteln dürfen sie den Arbeitsweg jedoch nur mit dem Fahrrad oder dem PKW zurücklegen, wie der Pressesprecher der Bremer Gesundheitsbehörde der besorgten Bevölkerung versicherte.

Auch ein Seniorenheim im bayerischen Mellrichstadt kann nicht auf seine nachweislich infizierten Mitarbeiter verzichten. Für sie gelten außerhalb ihres Arbeitsplatzes ebenfalls strenge Quarantänevorschriften, die ausschließlich den Gang zur Arbeit erlauben. Zudem wies das Heim den infizierten Beschäftigten einen separaten Eingang zu.

In den vergangenen Tagen mehrten sich der Gewerkschaft Verdi zufolge auch in den Krankenhäusern die Meldungen über Beschäftigte, die trotz positivem oder noch ausstehendem Covid-19-Test zur Arbeit erscheinen müssen. Sylvia Bühler, Mitglied des Verdi-Bundesvorstands und dort für das Gesundheitswesen verantwortlich, hält das für fatal: »Die Arbeitsquarantäne gefährdet sowohl Beschäftigte als auch die vulnerablen Gruppen, also Patienten, Pflegebedürf­tige und Menschen mit Behinderung.«

Zudem haben mehrere Bundesländer angesichts steigender Infektionszahlen und fehlenden Personals das Arbeitszeitgesetz für Beschäftigte in Kliniken und Pflegeheimen ausgesetzt. Die täg­liche Arbeitszeit wurde auf bis zu zwölf Stunden ausgedehnt, die Ruhezeit zwischen zwei Schichten verkürzt und die wöchentliche Höchstarbeitszeit auf 60 Stunden angehoben.

Während über die Ursachen des wachsenden Infektionsgeschehens, das die Kliniken an die Belastungsgrenze bringt, viel diskutiert wird – neben feiernden Jugendlichen werden mal ausufernde Hochzeitsfeste, mal überfüllte Busse und Bahnen als Problem benannt –, ist ein entscheidender Infektionsherd beinahe komplett aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden: der Arbeitsplatz.

Nicht nur in der Pflege, sondern auch bei der Aufrechterhaltung des Betriebs von Kindergärten und Schulen spielt der Infektionsschutz für die betroffenen Beschäftigten kaum eine Rolle. Die Gewerkschaften Verdi und GEW mahnen bisher vergeblich Schutzvorkehrungen für Erzieherinnen und Lehrpersonal an.

Ähnliches gilt für das produzierende Gewerbe und den ihm vor- und nach­gelagerten Logistiksektor. Zahlreiche Unternehmen nahmen in den vergangenen Wochen die im Frühjahr nicht zuletzt von Gewerkschaften und betrieb­lichen Interessenvertretungen durchgesetzten Regelungen zur Eindämmung der Pandemie in Betrieben zurück. So ließen sie Betriebsverein­ba­run­gen zu geteilten Schichten in kleineren Gruppen auslaufen oder verlängerten Möglichkeiten zur Arbeit im Homeoffice nach dem Sommerurlaub nicht weiter. Zugleich nahmen sie die zuvor aufgrund von Liefereng­pässen stockende Produktion wieder voll auf.

Mit verheerenden Folgen: Allein in den vergangenen Wochen kam es in etlichen Betrieben zu größeren Coronaausbrüchen. So ordnete das Gesundheitsamt eine Reihentestung im BMW-Werk im niederbayerischen Dingolfing an, nachdem mehrere Mitarbeiter eines dort tätigen Logistikdienstleisters positiv auf Sars-CoV-2 getestet worden waren. Die Zahl der Neuinfektionen im Landkreis Dingolfing-Landau stieg daraufhin rasant. Bereits im Sommer war der Kreis zum Hotspot geworden, nachdem sich auf einem Gemüsehof und in einer Konservenfabrik Hunderte Ern­te­helfer und Fabrikarbeiter infiziert hatten.

Auch im BMW-Werk München kam es in der vergangenen Woche offenbar zu mehreren Ansteckungen. Medienberichten zufolge wurden Mitarbeiter, die direkt mit den Infizierten in Kontakt gestanden hatten, nicht informiert. Beschäftigte kritisierten im Gespräch mit Journalisten, dass Kontaktpersonen nicht vorsorglich nach Hause geschickt würden, sondern weiter am Fließband stehen müssten. Fallen Mitarbeiter wegen Erkrankung aus, würden sie durch Leiharbeiter ersetzt. Das Unternehmen selbst will sich nicht zur Zahl der Infizierten im Münchner Werk äußern, sondern gab lediglich bekannt, dass wie in Dingolfing die Produktion unverändert fortgesetzt werde.

Mit mehreren Coronaausbrüchen hat auch die Paketsparte der Deutschen Post, DHL, zu kämpfen. Zu Infektionen kam es vor allem in Paket- und Fracht­zentren, so beispielsweise im nahe Stuttgart gelegenen Esslingen mit fast 100 Infizierten und im südhessischen Obertshausen. In den Paket- und Fracht­zentren des Konzerns arbeiten zu 70 bis 80 Prozent migrantische Arbeitskräfte, meist aus Bulgarien und Rumänien. Viele von ihnen leben in Gemeinschaftsunterkünften in der Nähe ihres Arbeitsplatzes. Angesteckt hätten sich die Beschäftigten, so die Interpretation des Konzerns in einer Stellungnahme, vermutlich nicht während der Arbeit, sondern im »privaten Umfeld« – also in den beengten und prekären Massenunterkünften, in denen sie im Rahmen ihrer Beschäftigung bei Deutschlands größtem Paketzusteller leben müssen. Auf die bange Frage lokaler Medien, welche Auswirkungen die Infektionen hätten, gab das Unternehmen Entwarnung: Die Arbeit in den betroffenen Bereichen könne aufrechterhalten werden, bei der Zustellung der Pakete seien keine Verzögerungen zu erwarten.

Stillstehen musste die Mehrwertproduktion wegen der steigenden Infektionsgefahr also nirgends – auch nicht bei Mercedes, wo es zuletzt im Düsseldorfer Sprinter-Werk zu einem Ausbruch kam, oder beim Tiefkühlkonzern Frosta, in dessen Werk in Bobenheim-Roxheim es Ende Oktober 45 Fälle gab. Wenn es um den Fortgang der Kapitalakkumulation geht, spielt ein potentiell tödliches Virus keine Rolle.