Die Retrospektive des Filmfestivals Mannheim-Heidelberg

Unsteter Wellengang

Nach Godard, Truffaut und Rivette kamen Rosier, Treilhou und Berto: Das Filmfestival Mannheim-Heidelberg zeigt in einer Retrospektive die Filme der zweiten Generation der französischen Nouvelle Vague, die vor allem Regisseurinnen prägten.

Nun ist sie also schon eine Zeitlang da, die »zweite Welle« der Covid-19-Pandemie, was zur Folge hat, dass das kulturelle Leben erneut zum Erliegen kommt. Neben Aerosolen füllt jetzt auch kalter Nebel die Straßen, verwaist sind all die Orte, die im Sommer Gelegenheit boten, sich zu treffen, zu quatschen, zu trinken, zu knutschen und Zeit verstreichen zu lassen. Was das neue Jahr bringen wird, weiß man noch nicht so genau genau. Erste Meldungen über einen wirksamen Impfstoff verheißen vielleicht Hoffnung, allerdings erst auf etwas längere Sicht.

Die Kinos, die es gerade sowieso nicht leicht haben (siehe Dschungel-Seiten 8 bis 11), verabschiedeten sich in Deutschland vielfach mit George A. Romeros Gore-Klassiker »Dawn of the Dead« von 1978 in den lockdown, der hierzulande bis zum vergangenen Jahr auf dem Index stand. Nicht nur verbreitet so eine Filmauswahl einen gewissen Weltuntergangskitzel, es entbehrt auch nicht einer gewissen Ironie, sich mit einem Film über eine Pandemie, in der eine unbekannte Seuche kürzlich Verstorbene als Zombies auferstehen lässt, in eine pandemiebedingte Pause zu verabschieden.

Auch die Filmfestivals müssen auf die veränderten Bedingungen reagieren, darunter auch das 69. Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg, das bereits seit dem 12. November und noch bis zum 22. November läuft – allerdings komplett online. Dessen Retrospektive widmet sich unter dem auf Jean-Pierre Melville anspielenden Titel »Le deuxième souffle – Die zweite Generation 1968–1983« der zweiten Generation der französischen Nouvelle Vague, also gewissermaßen auch einer zweiten Welle.

War der originäre Kreis der Nouvelle Vague bis auf wenige Ausnahmen ein Männerverein geblieben, griffen nun immer mehr Frauen zur Kamera und erzählten von ihren eigenen Antiheldinnen.

Der Ankündigungstext des Festivals charakterisiert diese treffend als ein »Kino des Danachs«. Vor diesem Danach hatte das US-amerikanische Kino Europa aus seiner kulturellen Umnachtung gerissen. Und während Jean-Luc Godard, François Truffaut, Agnès Varda und Jacques Rivette dieses Kino in den frühen sechziger Jahren in sich aufnahmen und begannen, ihre ersten eigenen Filme zu realisieren, kündigten sich schon die Revolten von 1968 an. Als sich der Rauch verzogen hatte, gerieten die Dinge ins Wanken. Godard verstieg sich Ende der Sechziger nicht nur in eine immer enigmatischere Filmsprache, sondern auch in einen unappetitlichen Antizionismus. Die zweite Generation der Nouvelle Vague sah sich veranlasst, aus dem Klima nach ’68 ihre eigenen filmischen Konsequenzen zu ziehen.

War der originäre Kreis der Nouvelle Vague bis auf wenige Ausnahmen ein Männerverein geblieben, griffen nun immer mehr Frauen zur Kamera und erzählten von ihren eigenen Antiheldinnen. So finden sich in der Retrospektive Filme der Regisseurinnen Nelly Kaplan, der ehemaligen Modedesignerin Michèle Rosier, von Marie-Claude Treilhou und von Juliet Berto, die Mitte der Sechziger in den Filmen von Godard und Rivette spielte. Philippe Garrels Filmexperiment »Les hautes solitudes« von 1974 ist ganz auf zwei Stars der damaligen Gegenkultur zugeschnitten: Jean Seberg und Christa »Nico« Päffgen.

Paradigmatisch für diesen Aufbruch der Filmemacherinnen steht Michèle Rosiers wunderbar leichtfüßiger »Mon cœur est rouge« von 1976. Die Protagonistin, ihrer Arbeit schnell überdrüssig geworden, flaniert durch Paris, unterhält sich mit Fremden, treibt Unfug und beginnt eine Affäre, bis der Film in einer feministischen Karnevalsperformance mündet. In den letzten Einstellungen fährt die Kamera über eine Masse von nachdenklichen, lachenden und kämpferischen Frauengesichtern. Die Letzte in der Reihe dieser Frauen zieht plötzlich eine Kamera aus der Tasche, visiert die Frauen durch den Sucher an und fügt der Kamerafahrt einen Gegenschuss hinzu, den das Publikum allerdings nicht zu sehen bekommt.

Wem die rätselhaften, neonleuchtenden Grabsprüche auf einem Friedhof gelten, die Rosier zuvor beiläufig abfilmte, das muss jeder für sich beantworten. »An meine liebe Verstorbene« und »Ewiges Bedauern«, das mag ebenso an die gescheiterte Revolte wie an eine finstere Zukunft gerichtet sein. Überhaupt sind in der Retrospektive die Filme mit jüngerem Veröffentlichungsdatum düsterer, vor allem die aus den achtziger Jahren.

Marie-Claude Treilhou schickt in ihrem Film »Simone Barbès ou la vertu« von 1980 die Kartenabreißerin eines Pornokinos auf eine nächtliche Odyssee. Als ihr der Betrieb im Kinofoyer zu anstrengend wird, besucht sie kurzerhand ihre Freundin in einem lesbischen Nachtclub. Der US-amerikanische Filmkritiker Vincent Canby, ein Antipode der großen Pauline Kael, schrieb 1981 über den Film, er wirke eher wie die Notizen aus einer Planungsphase. Das war nicht nur snobistisch, sondern verfehlte auch den Kern des Films meilenweit. Was zu sehen Canby nicht imstande war und was den Film so eindrucksvoll macht, ist, dass es Treilhou um die flüchtigen, intimen Momente zwischen den Figuren ging. Da wird in langen Einstellungen gemeinsam gegessen, Champagnergläser werden ausgeteilt, es wird getanzt, geküsst und ständig jemandem Feuer gegeben.

Genauso in Juliet Bertos »Neige« von 1981, einem großartigen Drogen- und Kiezdrama, das Berto gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Jean-Henri Roger realisierte. Ort der Handlung ist das berüchtigte Pariser Vergnügungsviertel Pigalle. Nachdem die Polizei einen jugendlichen Dealer auf offener Straße erschossen hat, versucht die Barfrau Anita das von Drogen überschwemmte Viertel zusammenzuhalten. Mal besucht sie einen befreundeten schwarzen Pastor, dann ihren Partner, einen kleinkriminellen Kickboxer, in seinem Studio. Dann wiederum versorgt sie unter Entzug leidende Prostituierte vom Straßenstrich.

Das hätte leicht zum faden Pro­blemfilm misslingen können, stattdessen dreht sich der Film um die Momente unbeschwerter Geselligkeit, leidenschaftlicher Diskussion und Solidarität, die es in einer Welt von Bars, Sexshops und unsicheren Straßen gibt. Obwohl oder vielmehr gerade weil hier jeder ums Überleben kämpft, betont Juliet Berto das gemeinsame Ausgehen, Essen und Herumalbern so stark. Die unaufhaltsame Abwärtsbewegung der Handlung bricht Berto immer wieder auf, schafft ihren Figuren Raum für Ausgelassenheit und Zärtlichkeit, bevor der nächste Schritt getan werden muss. Das ist kein Mangel an Stringenz, sondern vielmehr das, was ihre Figuren überhaupt noch am Leben hält.

Der jüngste Film der Reihe wiederum, Claude Berris Neo-Noir »Tchao Pantin« von 1983, zeigt Paris als dauerverregnete, dunkle Stadt. Die Straßen sind menschenleer und die Interaktionen der Figuren von Verrat, Folter und Rache bestimmt. In seiner kalten Einsilbigkeit erinnert der Film auf unheimliche Weise an die Gegenwart. Dort, wo man mit pochendem Puls hinflanierte, um sich aus allen privaten und weltpolitischen Abgründen zu manövrieren, ist es still geworden, und nur ganz selten flackert noch eine Neonreklame auf dem nassen Pflaster. Was bleibt, sind die gemischten Gefühle, die den Protagonistinnen und Protagonisten einer zweiten Welle eigen sind und wie sie auch Michèle Rosier und ihre Mitstreiterinnen umgetrieben haben müssen: zum einen Bedauern, zum andern all jene geselligen, albernen, kämpferischen Wachträume vom Danach.

Das komplette Programm des 69. Internationalen Filmfestivals Mannheim-Heidelberg kann auf der Internetseite expanded.iffmh.de gestreamt werden.