Ein Gespräch mit André Thiel über Inklusionsbarrieren auf dem Arbeitsmarkt

»Wir sind Weltmeister im Aussortieren«

Über 300 000 Menschen in Deutschland arbeiten in Werkstätten für behinderte Menschen. Den gesetzlichen Mindestlohn erhalten diese Beschäftigten nicht, denn Gerichtsurteilen zufolge befinden sie sich nicht in einem normalen Arbeitsverhältnis. Nur wenige von ihnen schaffen den Sprung auf den ersten Arbeitsmarkt.
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Obwohl die Bundesregierung im Juni Mittel bereitgestellt hat, um die wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) auszugleichen, haben einige WfbM ihren Beschäftigten den sogenannten Lohnsteigerungsbetrag gestrichen. Die WfbM zahlen diesen Betrag – bis zu 89 Euro monatlich – abhängig von ihrem wirtschaftlichen Erfolg und der individuellen Leistung der Beschäftigten. Wurde auch Ihnen der Lohn gekürzt?

Zum Glück ist meine Einrichtung noch nicht davon betroffen. Aber wenn die Wirtschaftskrise anhält, kann ich mir vorstellen, dass wir bald nur noch das gesetzlich Vorgeschriebene erhalten. Das wäre noch einmal weniger als der jetzige Stundenlohn von 1,20 Euro.

Seit 2011 sind Sie in einer Werkstatt bei der Diakonie in Halle angestellt. Dort verkaufen Sie Lebensmittel im Hofladen und sind im Büro tätig. Wie sind Sie zu der Werkstatt gekommen?

Aus Überzeugung bin ich nicht da hingegangen. Seit ich 2004 meine Ausbildung als kaufmännische Fachkraft abgeschlossen habe, habe ich viele Bewerbungen für den ersten Arbeitsmarkt geschrieben und Maßnahmen absolviert. Die wenigen Vorstellungsgespräche, zu denen ich eingeladen wurde, blieben ohne Erfolg. In den Gesprächen wurde deutlich, dass ich die geforderte Arbeitsleistung aufgrund meiner Körperbehinderung, die ich seit Geburt habe, nicht erbringen kann.

»Wenn ich mir die ganzen Sozial­leistungen anschaue, frage ich mich, warum man diese nicht zusammenrechnet und als Lohn­ausgleich zahlt.«

Wie empfanden Sie es, auf den zweiten Arbeitsmarkt ausweichen zu müssen?

Für mein Wohlbefinden war es zum damaligen Zeitpunkt wichtig, unter Menschen zu kommen – dafür war die Werkstatt sehr gut. Danach fiel es mir immer schwerer, dieses System zu ertragen. Als der Gesetzgeber 2015 den Mindestlohn einführte, habe ich mich gefragt, warum dieser nicht für uns Werkstattbeschäftigte gilt. Schließlich arbeite ich ja dort 35 Stunden pro Woche und verdiene nur 166 Euro! Wegen des geringen Lohns bin ich gezwungen, Grundsicherung zu beantragen.

2015 /2016 haben Sie als einer von wenigen Klägern versucht, den Mindestlohn einzufordern.

Mein Anwalt hatte von vornherein gesagt, dass dieser Weg finanziell sehr schwierig und langwierig sein würde. Mein Vorteil war, dass ich eine private Rechtsschutzversicherung habe. So bin ich zuerst vor das Arbeitsgericht ge­zogen und anschließend zum Landesarbeitsgericht, das jedoch keine Berufung zugelassen hat. Schließlich hat das Bundesarbeitsgericht in Erfurt meinem weiteren Klageweg widersprochen. Ohne sich genauer mit meinem Fall zu befassen, hat es dem Landesarbeitsgericht recht gegeben.

Den Richtern zufolge befinden Sie sich als Beschäftigter einer WfbM nicht in einem normalen Arbeitsverhältnis, sondern wegen des Rehabilitationscharakters der Einrichtung lediglich in einem »arbeitnehmerähnlichen Verhältnis«. Worin besteht der Unterschied?

Als Arbeitnehmer bin ich verpflichtet, wirtschaftliche Vorgaben des Arbeitgebers zu erfüllen – das bin ich in einem arbeitnehmerähnlichen Verhältnis angeblich nicht. Das stimmt aber nicht! Wenn das so wäre, dann könnten wir Behinderte uns ja in der Werkstatt Zeit lassen mit den Arbeitsaufträgen. Wir müssen aber ein Mindestmaß an Wirtschaftlichkeit erbringen.

Würden die Werkstätten nicht nach wirtschaftlichen Maßstäben produzieren, wären sie auch nicht als Auftragnehmer für große und ­mittelständische Unternehmen interessant. Die Unternehmen greifen auf die WfbM zurück, um Mehraufträge zu bearbeiten, Produktionsausfälle auszugleichen oder einfache Arbeiten auszulagern. Kampagnen wie »Jobinklusive«, ein Projekt des Berliner Vereins Sozialhelden e. V., kritisieren, die WfbM seien »Sonderarbeitswelten«, die mit Billiglohnanbietern im Ausland konkurrieren.

Hinzu kommt, dass Unternehmen die Ausgleichsabgabe verringern können. Indem Unternehmen Aufträge an Werkstätten vergeben, können sie eine möglicherweise anfallende Ausgleichsabgabe halbieren. So werden die Lohnkosten dem Staat übertragen und dieser übernimmt auch Sozialleistungen, weil die Löhne nicht das Existenzminimum sichern. Besser kann es für ein Unternehmen doch nicht laufen!

Worum handelt es sich bei der Ausgleichsabgabe?

Nach dem Sozialgesetzbuch müssen Betriebe ab 20 Beschäftigten min­destens fünf Prozent der Belegschaft mit Schwerbehinderten besetzen. Tun sie das nicht, müssen sie eine Abgabe zahlen. Die Unternehmen können sich also von ihrer Pflicht freikaufen, Behinderte einzustellen.

Durch das arbeitnehmerähnliche Rechtsverhältnis entfallen Rechte wie das auf gewerkschaftliche Selbst­organisation und auf Betriebsräte. Gleichwohl gibt es in Anlehnung an Letztere sogenannte Werkstatträte.

Das ist richtig. Allerdings darf man sich dabei keine Illusionen machen. Zum einen haben wir kein Streikrecht. Zum anderen hat der Werkstattrat zwar eine Mitwirkungspflicht, jedoch nicht das Recht, vor Gericht zu gehen und Arbeitnehmerrechte einzuklagen.

Wie verhalten sich die Gewerkschaften zu Ihrer Mindestlohnforderung?

Die Gewerkschaften haben kein richtiges Interesse an dem Thema. Die Werkstätten arbeiten ja über ihre Träger mit den Gewerkschaften zusammen. Warum sollten die Gewerkschaften gegen die Träger und die Politik arbeiten? Alle sitzen im selben Boot, weil sie in anderen Bereichen voneinander abhängig sind.

2018 wurde das »Budget für Arbeit« eingeführt. Es soll die Integration behinderter Menschen in den ersten Arbeitsmarkt erleichtern, indem die Arbeitgeber einen Ausgleichsbetrag für die, so das Bundesarbeitsministerium, »dauerhafte Minderleistung des behinderten Beschäftigten« erhalten. Was halten Sie davon?

Dieses Instrument ist eine gute Sache, wurde aber schlecht umgesetzt. Die Arbeitgeber können bis zu 75 Prozent ihrer Lohnkosten absetzen und Hilfsmittel beantragen. Der erste Nachteil ist, dass es maximal nur bis zum gesetzlichen Mindestlohn geht, es also keine Tarifgehälter gibt. Zweitens werden keine Beiträge in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt, mit der Begründung, dass man ja bei Misserfolg wieder zurück in die Werkstatt gehen könne. Das dritte Problem ist, dass es keine einheitliche Regelung in der Rentenpolitik gibt.

Häufig wird argumentiert, dass das gar nicht finanzierbar sei.

Das ist Blödsinn. Wenn ich mir die ganzen Sozialleistungen anschaue, frage ich mich, warum man diese nicht zusammenrechnet und als Lohnausgleich zahlt. Das hätte auch den Vorteil, dass man als Werkstattbeschäftigter nicht als Bittsteller dasteht und bei dem Antrag auf Grundsicherung seine gesamten Finanzen offenlegen muss. Wir sind Weltmeister im Aussortieren der behinderten Menschen.

Anfang dieses Jahres haben Sie sich dagegen entschieden, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen. Diesen Monat wollten Sie kündigen. Da Ihnen noch ein halbes Beitragsjahr zur Erwerbsunfähigkeitsrente fehlte, werden Sie im April kommenden Jahres in der Werkstatt aufhören.

Das Problem ist, dass leider mein Anwalt verstorben ist und sich andere Anwälte nicht für meinen Fall interessiert haben. Daher habe ich meinen Kampf an dieser Stelle aufgegeben. Vom Herzen her würde ich lieber weiterkämpfen. Politisch werde ich mich weiter engagieren.

 

André Thiel arbeitet in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) bei der Diakonie in Halle (Sachsen-Anhalt) und engagiert sich bei »Selbst aktiv«, der Arbeitsgemeinschaft für Menschen mit Behinderungen in der SPD. Er hat jahrelang dafür gekämpft, dass WfbM-Beschäftigte den gesetzlichen Mindestlohn erhalten.