Cynical Theories«, eine Kritik an postmoderner Theorie

Zynisch statt kritisch

Bekannt wurden Helen Pluckrose und James Lindsay 2018, als sie unter Pseudonym US-amerikanischen Zeitschriften einige Hoax-Artikel unterjubelten. In ihrem nun in den USA erschienenen Buch »Cynical Theories« ergründen sie den Ursprung und die Auswirkungen postmoderner Theoriebildung.

Vor zwei Jahren sorgten die Autorin Helen Pluckrose, der Mathematiker James Lindsay und der Philosoph Peter Boghossian mit der von ihnen ausgelösten »grievance studies ­affair« für Aufsehen (Konstruktives Trollen). Die drei Autoren hatten rund 20 Texte fabriziert, die sie akademischen Zeitschriften in den USA anboten. Der Haken: Jeder der Texte war ein Hoax. Einer behandelte rape culture unter Hunden, ein anderer Text beinhaltete queerfeministisch umgeschriebene Passagen aus Hitlers »Mein Kampf«. Insgesamt vier Texte wurden tatsächlich veröffentlicht, eine Reihe anderer wurden nach dem Peer-Review-Verfahren der Zeitschriften zumindest für eine Veröffentlichung in Betracht gezogen. Mit ihrem Projekt wollten Pluckrose, Lindsay und Boghossian auf die teils schwerwiegenden ­Mängel in Disziplinen wie Gender Studies, Fat Studies oder Postcolonial Studies aufmerksam machen.

Nun haben Pluckrose und Lindsay ihr Buch »Cynical Theories. How ­Activist Scholarship Made Everything about Race, Gender and Identity – and Why This Harms Everybody« vorgelegt, das bisher nur auf Englisch erschienen ist. Wer erwartet, dass es darin ausführlicher um ihr Experiment mit den Hoax-Texten geht, wird womöglich enttäuscht. Vielmehr ­legen sie ihr Augenmerk auf die wissenschaftliche und politische Genese dessen, was seit den sechziger Jahren die Geistes- und Sozialwissenschaften beeinflusst, ja bisweilen bestimmt: postmoderne Theorien und ihre Weiterentwicklungen.

Pluckrose und Lindsay schlagen als Strategie gegen die von ihnen skizzierten Entwicklungen vor, liberale Ideen zu stärken. Insbesondere sei auf sachlichem Austausch rationaler Argumente zu beharren.

Die entsprechenden Entwürfe denken Welt, Gesellschaft, Individuum sowie deren Beziehung zueinander radikal anders als zuvor. Sogenannte Metanarrative, die Gesellschaft und Welt in einem breiten Kontext betrachten und kohärente Sinnzu­sammenhänge herstellen, wurden komplett verworfen, dem Streben nach Fortschritt begegnete man mit totaler Skepsis. Die Herangehens­weise von Philosophen wie Michel Foucault, Jacques Derrida und Jean-François Lyotard beeinflusste nicht nur die Wissenschaft, sondern ­prägte auch gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen.

Das Buchcover legt nahe, was Pluckrose und Lindsay kritisieren wollen: Auf dem Titel prangt der Schriftzug »Critical Theories«, wobei »Critical« durchgestrichen und durch »Cynical« ersetzt wurde. Zynismus, so die These, habe die Kritik ­ersetzt.

In drei Schritten zeigen Pluckrose und Lindsay auf, wie die erwähnten Theorien ursprünglich französischer Provenienz nicht nur die Hoch­schulen, sondern auch die politische Praxis in außeruniversitären Bereichen bestimmen, wenn es etwa um diversity und social justice geht. Den Autoren geht es darum, auf die Gefahren für liberales und demo­kratisches Denken hinzuweisen, die von diesen Entwicklungen ihrer ­Ansicht nach ausgehen. Mit ihrem Buch wenden sie sich an Leserinnen und Leser, die zwar manche skurrile Debatte über political correctness sowie den einen oder anderen Twitter-Shitstorm registriert hat, derlei jedoch bislang nicht richtig einordnen konnte.

Pluckrose und Lindsay identifizieren zwei postmoderne Kernprinzipien, die allen entsprechenden Theorien zu Grunde lägen: erstens ein Wissensprinzip, das objektives Wissen oder Wahrheit radikal anzweifelt und sich der Dekonstruktion dessen verpflichtet fühlt, und zweitens ein Politikprinzip, das Gesellschaft nur als System von Machtbeziehungen und Hierarchien denken kann, worüber bestimmt wird, welches Wissen wie etabliert ist.Dies beeinflusst auch die Themen, denen sich postmoderne Texte zumeist widmen. Die folgenden vier sind dem Buch zufolge besonders häufig anzutreffen: das Verwischen von Grenzen, die Macht von Sprache, Kulturrelativismus und die Abkehr vom Individuum und von universalistischen Prinzipien. Dem diametral entgegengesetzt sind Grundsätze ­liberalen Denkens, die an der Objektivität von Wahrheit, dem strukturierten, rationalen Austausch von Argumenten sowie dem Prinzip universeller Menschenrechte fest­halten.

Im Laufe der achtziger Jahre, so Pluckrose und Lindsay, wurden postmoderne Prinzipien nicht mehr nur auf Literatur oder bei historischen Betrachtungen angewendet. Stattdessen habe man sich auf zwischenmenschliche Machtverhältnisse konzentriert, die man am allüberall am Werk sah. Daraus seien die postkoloniale Theorie, die Queer Theory, Gender Studies, Disability Studies, Fat Studies und auch das Konzept der Intersektionalität entstanden.

Postkoloniale Theorie setzt voraus, dass koloniale Denkmuster auch nach dem Ende der Kolonien weiterexistieren und die Beziehungen zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden bis heute bestimmen. Dabei liegt ihr jedoch keinerlei Idee mehr zu Grunde, nach der alle Menschen prinzipiell zur Vernunft befähigt seien und gleiche Rechte für alle zu fordern wären. Vielmehr werden Vernunft und Wissenschaft zu »Ideen des Westens« erklärt, die dessen Macht absichern sollen. Hieraus ist schließlich die politische Forderung entstanden, jede wissenschaftliche oder politische Errungenschaft erst einmal zu »dekolonisieren« – bis hin zur Dialektik, wie es George Ciccariello-Maher in seinem Buch »Decolonizing Dialectics« vertritt, das wieder einmal Fanons »Verdammte der Erde« zum einzig würdigen Subjekt unter der Sonne verklärt. Unter Gerechtigkeit stellt man sich vor, dass Studierende sich über zu viele »alte, weiße Männer« im Lehrplan beschweren. Ebenso wird unwissenschaftliches, mystisches »Wissen« als besonders ursprünglich verklärt und dem rationalen Wissen gleichgestellt. So kommt es, dass die die Adepten postkolonialer Theorie Vertretern mit antiliberalen und antidemokratischen Werten Tür und Tor öffnen und sie als Anführer eines legitimem Widerstands gegen den dominanten Westen verklären.

Ein weiteres bedeutendes Anwendungsfeld dieser Theorien sind, so die beiden Autoren, Geschlecht und Sexualität, deren biologisch-physiologische Grundlagen seit dem Erscheinen von Judith Butlers Buch »Das Unbehagen der Geschlechter« 1990 mit Queer Theory zunichte gemacht werden sollen. Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit werden zu diskursiven Zwangskorsetts erklärt. Queer Theory kann Pluckrose und Lindsay zufolge als eine der explizitesten Formen postmoderner Theorieadaptionen betrachtet werden. Fast schon als Selbstzweck dreht sich ­alles darum, Gewissheiten zu erschüttern und Grenzen zu verwischen. Im Aktivismus hat dies in bestimmten Milieus inzwischen zu immer seltsameren Neuerfindungen von vermeintlichen sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten sowie zu einem nicht mehr an den Körper gekoppelten Begriff von Transsexualität geführt. Der von Kim­berlé Crenshaw geprägte Begriff der Intersektionalität, der verschiedene bedeutsame soziale Differenzkategorien in Hinblick auf die Kumulation von Diskriminierungen vermitteln soll, kam ebenfalls in dieser Zeit auf. Pluckrose und Lindsay zufolge ist ­Intersektionalität derzeit das einflussreichste Konzept in den wissenschaftlichen und aktivistischen Zusammenhängen.

Seit 2010 machen die Autoren eine dritte Entwicklungsstufe aus, die sie als angewandte social justice verstehen und die sich in einer steigenden Zahl von Antidiskriminierungsbeauftragten sowie Diversity- und Gleichstellungsbüros zeigt. Bemerkenswert ist, dass diese Entwicklungen mit der unhinterfragten Übernahme der in der zweiten Entwicklungsstufe entstandenen Glaubenssätze als gesetztes Wissen einher­gegangen sind. In Verbindung mit der Abkehr von Objektivität und ­Rationalität wird dem subjektiven Empfinden eine wichtige Rolle ­zugewiesen. Zudem geht das Individuum in marginalisierten Gruppen auf, die als solche pauschal nur als Opfer der Verhältnisse dargestellt werden, unabhängig davon, ob dies auf einzelne Personen tatsächlich so zutrifft und welchen Beitrag manche selbst zu diesen Verhältnissen leisten.

Pluckrose und Lindsay schlagen als Strategie gegen die von ihnen skizzierten Entwicklungen vor, liberale Ideen zu stärken. Insbesondere sei auf sachlichem Austausch rationaler Argumente zu beharren. Sie räumen zugleich ein, dass der Liberalismus nicht perfekt ist und tatsächlich zu viele Menschen und Gruppen keinen niedrigschwelligen Zugang zur Beteiligung am öffentlichen Diskurs haben. Dennoch böten die Prinzipien des Liberalismus am ehesten die Möglichkeit, bei gegensätz­lichen Ansichten in eine geordnete und respektvolle Debatte zu treten, was auch Angehörigen benachteiligter Minderheiten Chancen eröffne, ihre Positionen einzubringen.

»Cynical Theories« ist ein eindringliches Plädoyer für die Rettung der ­liberalen Demokratie und der Errungenschaften der Aufklärung. Jedoch ist fraglich, ob es Pluckrose und Lindsay gelingt, auch Leser anzusprechen, denen zunächst erklärt werden müsste, dass es überhaupt ein Problem mit den gegenwärtigen politischen Entwicklungen bei diversity und Antidiskriminierung gibt. Die beiden Autoren machen ihre Position von der ersten Seite an klar, und ­genau deswegen werden sich ihr viele von vornherein und ungeprüft verschließen.

Helen Pluckrose, James Lindsay: Cynical Theories: How Activist Scholarship Made Everything about Race, Gender, and Identity – and Why This Harms Everybody. Pitchstone, Durham (NC) 2020, 352 Seiten, ca. 24 Euro