Bereits in der Antike gab es folgenreiche Pandemien

Ein Floh gegen Rom

Die Globalisierung brachte eine Pestepidemie ins Römische Reich, die dessen Untergang besiegelte. Welche politischen Folgen eine Pandemie hat, ist vom Herrschaftssystem abhängig.

Viele haben behauptet, dass das Ende der Welt gekommen sei, aber nur sehr wenige mit so guten Gründen wie Gregor I. Dieser wurde 590 zum Papst gewählt, nachdem sein Vorgänger an der Pest gestorben war und im Jahr zuvor eine verheerende Überschwemmung die meisten Nahrungsmittelvorräte in Rom vernichtet hatte. Diese ­Katastrophen trafen eine Bevölkerung, die sich noch nicht von den Folgen des »Jahrs ohne Sommer« (535/536) und der Justinianischen Pest ab 541 erholt hatte. Es blieb kühler und eine letzte Welle der Pest traf Europa noch in der Mitte des 8. Jahrhunderts.

Es ging nicht die Welt unter, wohl aber die Welt Gregors. Der Sohn einer der verbliebenen Patrizierfamilien wird oft als »der letzte Römer« bezeichnet. Das oströmische Reich bestand zwar noch bis 1453, doch um überleben zu können, musste es im 7. Jahrhundert politisch, ökonomisch und militärisch umstrukturiert werden. Als Justinian, der auch einer Gesetzessammlung seinen Namen gab, 527 Kaiser wurde, war das noch nicht ausgemacht; vielmehr schien die Restauration des Reichs möglich. Justinians Feldherr Belisar eroberte in den dreißiger Jahren des 6. Jahrhunderts Nordafrika zurück und erzielte in Italien große militärische Erfolge. Doch wenige Jahre später war die Bevölkerungszahl des Römischen Reichs von etwas mehr als 30 auf unter 15 Millionen gesunken.

Im Jahr 541 ging in einem ägyptischen Hafen am Roten Meer ein blinder Passagier von Bord: eine Ratte, in deren Fell der Floh lebte, der die Pest auf die Menschen übertragen sollte.

Diese Zahlen sind Schätzungen, sie beruhen jedoch auf umfangreichen Forschungsarbeiten, die der Althistoriker Kyle Harper in seinem 2017 in den USA erschienenen Buch »The Fate of Rome. Climate, Disease, and the End of an Empire« zusammenfasst. Auf Deutsch ist »Fatum« in diesem Jahr erschienen.

Die Verbreitung der für den Bevölkerungsrückgang verantwortlichen Pest ist gut dokumentiert. 541 ging in einem ägyptischen Hafen am Roten Meer ein blinder Passagier von Bord, eine Ratte, in deren Fell der Floh lebte, der die Pest auf die Menschen übertragen sollte. Die Armen starben zuerst, doch ein Floh fand seinen Weg zu Justinian. Dieser überlebte die Erkrankung, wie etwa 20 Prozent der Infizierten. Medizinische Hilfe gab es jedoch auch für die Reichen nicht. »Ich hoffe sehnsüchtig auf ein Mittel gegen den Tod«, schrieb Papst Gregor, doch die einzige Gegenmaßnahme waren Bußprozessionen. Der Infektionsweg war unbekannt.

Harper betont die Rolle des Klimawandels, der Abkühlung nach dem ­»römischen Klimaoptimum«. Die Pest traf eine durch Mangelernährung infolge einer wahrscheinlich auf Vulkanausbrüche zurückzuführenden globalen Abkühlung geschwächte Bevölkerung. Aber auch die Nagetier- und Flohpopulation ist klimaabhängig. Die Seuche jedenfalls breitete sich erst bei kühleren Temperaturen aus, obwohl die materiellen Voraussetzungen für den transkontinentalen Nagetiertransfer seit Jahrhunderten bestanden.

Es gab bereits in der Antike eine Globalisierung, man tauschte Waren und Ideen zwischen Europa, dem nördlichen Afrika und Asien aus – unfreiwillig aber auch Krankheitserreger. Die Pest traf drei Kontinente, sie war die erste und bislang schlimmste Pandemie. Die Folgen in anderen Regionen sind schlechter dokumentiert, dürften aber ähnlich verheerend gewesen sein – mit Ausnahme von jenen ohne große Nagetierpopulation wie den Wüsten­gebieten der Arabischen Halbinsel. Von dort gingen im 7. Jahrhundert Eroberungszüge in die von der Pest verheerten Gebiete aus.

Dies lädt zu interessanten historischen Spekulationen ein, bei denen allerdings Vorsicht geboten ist: Für den Erfolg der islamischen Eroberung etwa war ebenso von Bedeutung, dass Byzantiner und Perser sich trotz Pestepidemien und Hungersnöten unverdrossen bekriegt hatten. Belisar hätte bis zur Restauration Westroms noch viele Eroberungen vor sich gehabt, es ist fraglich, ob die Ressourcen auch eines nicht geschwächten Reichs dafür genügt hätten.

Zweifelhaft ist auch, ob dies wünschenswert gewesen wäre. Zentralisierte Reiche, die auf Großgrundbesitz und der Abschöpfung des bäuerlichen Mehrprodukts beruhen, bringen zwar imposante Bauten und raffinierte Luxusgüter, oft auch bemerkenswerte philosophische und künstlerische Werke hervor. Ihre starke Bürokratie verhindert aber den Aufstieg von Gruppen, die dem Herrschaftssystem gefährlich werden können. Den Herrschern des von Kriegen und religiösen Konflikten zerrütteten Europa der Frühen Neuzeit hingegen gelang dies nicht mehr. So hat die Justinianische Pest vielleicht verhindert, dass ein restauriertes »ewiges Rom« den Aufstieg des Bürgertums und damit Aufklärung und Industrialisierung unterbunden hätte.

Sicher ist hingegen, dass die langfristigen Auswirkungen einer Pandemie vom Herrschaftssystem abhängig sind. Das Römische Reich war im Kern eine zentralisierte Maschinerie zum Eintreiben von Steuern und Aufstellen von Heeren. Ging eine einträgliche Provinz verloren oder reduzierte sich die arbeits- und kampffähige Bevölkerung, fehlten Ressourcen. Man konnte die Grenzen nicht mehr halten, die Verwaltung musste regionalisiert werden.

Der in seinen Auswirkungen auf die europäische Bevölkerung ebenso verheerende »Schwarze Tod«, die Pestepidemie ab 1347, hatte hingegen gänzlich andere politische Folgen. Die Pest fand unter den Herrschenden »wenig Resonanz, kaum ein Hof ließ sich über sie aus«, stellt der Mediävist Johannes Fried in seinem Buch »Das Mittelalter. Geschichte und Kultur« fest. Das ­dezentrale Feudalsystem erwies sich als widerstandsfähiger. Es ist umstritten, in welchem Ausmaß die Pest zum Übergang in die Neuzeit beitrug, doch brachte sie wohl einen Innovationsschub. Um fehlende Arbeitskräfte zu ­ersetzen, wurden neue Technologien entwickelt und alte verbessert. Da Leibeigene und Lohnarbeitende in eine bessere Verhandlungsposition gelangten, bedurfte es neuer Herrschaftstechniken und Kontrollmethoden; hier liegen die Wurzeln des modernen Polizei- und Überwachungsstaats, aber auch einer Verwaltung, die etwa Wirtschaftsplanung und Sozialhilfe ermöglicht. Überdies hat das massenhafte Sterben wohl auch Zweifel an den Heilsgewissheiten der Religion gefördert.

In der Antike und im Mittelalter war der frühe Tod durch Infektionskrankheiten ein so selbstverständlicher Teil des Alltags, dass eine Pandemie, wie sie die Welt derzeit plagt, wahrscheinlich gar nicht aufgefallen wäre. Die gesundheitlichen Folgen können heutzutage ungleich besser bewältigt werden, aber auch Prävention wäre möglich. Doch scheint niemand beispielsweise eine internationale Vereinbarung anzu­streben, um bei Pandemieverdacht den Flugverkehr in das betreffende Gebiet einzustellen. Dies würde die globale Ausbreitung einer Krankheit zumindest erheblich verlangsamen, dennoch auftretende Ausbrüche ließen sich leichter isolieren.

Die europäischen Senatoren und Fürsten hätten wohl für einige Zeit auf Seide und Pfeffer verzichtet, wenn sie über die Infektionswege informiert ­gewesen wären. Doch während in früheren Zeiten fast nur Güter über weite Strecken transportiert wurden, die als Luxus galten, ist der Welthandel heutzutage normal und überlebenswichtig. Wegen der Vielzahl von Abhängigkeiten kann der Ausfall einzelner Lieferketten zum Zusammenbruch ganzer Produktionsbereiche führen. Die ­Alternative ist nicht nationale oder regionale Autarkie, sondern ein globales Sicherheitsnetz von Produktionsstätten oder Vorräten für lebenswichtige Güter, das der Markt gewiss nicht schaffen wird.

Die neuere Geschichtsforschung macht deutlich, dass materialistische Gesellschaftstheorie auch die Ver­änderungen der sogenannten natürlichen Bedingungen berücksichtigen muss – die durch die kapitalistische Produktionsweise verursachte globale Erwärmung ebenso wie Pandemien, denen jede Zivilisation auf ihr eigene Weise den Boden bereitet. Zweifellos geht es der Menschheit derzeit besser als jemals zuvor in ihrer Geschichte, doch eine negative Aufhebung des Kapitalismus und der Beginn einer neofeudalen Epoche ist eine reale Gefahr. Zudem sollte man so fair sein, jede Epoche an dem Wissen und den Mitteln zu messen, die ihr zur Verfügung standen. Gregor I. wäre vermutlich erstaunt darüber gewesen, dass eine Zivilisation, die so viele »Mittel gegen den Tod« kennt, diese in so unzureichendem Maß anwendet.